Nicht-katharische Häresien

Eumolp

Aktives Mitglied
Wenn man die Ketzerbewegungen im Mittelalter betrachtet, gab es nicht nur die Katharer (von denen ja der Begriff Ketzer stammt), sondern auch eine Vielzahl größerer und kleinerer Häresien, die nicht die typischen Merkmale der Katharer an sich hatten wie ein dualistisches Weltbild usw.

Schön wäre es, wenn man hier einen Sammelthread begründen könnte, in dem diese Häresien kurz dargestellt werden. Ich selbst kenne ein paar und stelle die von Zeit zu Zeit rein, aber einen wirklichen Überblick habe ich über die gesamte Thematik nicht.

Ich sehe gerade, dass in diesem Unterforum schon eine solche Häresie abgehandelt wurde: http://www.geschichtsforum.de/69323-post1.html Da hätten wir ja schon einen Anfang!
 
Die Amalrikaner

Den Anfang möchte ich mit Amalric von Bena machen, zu Anfang des 13. Jh gestorben (ca. 1207), gebürtig wohl in Chartres. Er war Lehrer von Ludwig VIII, sein Wirkort war die Universität von Paris, wo er als Dialektiker und Theologe vor allem Aristoteles lehrte.

Von seinen Lehren ist kaum etwas bekannt, der wichtigste Satz ist eine wörtliche Umsetzung eines Satzes von Paulus, dass die Kirchenmitglieder die Glieder des mystischen Leibes Christi bildeten. So war sein Hauptsatz, dass jeder Christ dazu angehalten sei zu glauben, dass er ein Glied Christi ist.

Diese Lehre haben seine Schüler, die Amalrikaner, zu einer "panchristlichen" bzw pantheistischen Lehre ausgebaut. Da man 14 von ihnen, allesamt studierte Kleriker, 1210 auf einer Synode anklagte (davon 10 zum Feuertod und 4 zu lebenslanger Haft verurteilte), kennt man etwas von ihren Dogmen, daneben steht auch manches in einer Gegenschrift von Garnier de Rochefort.

Ein Auszug dieser Lehren: Niemand kann das Heil erlangen, wenn er nicht glaubt, er sei ein Glied Christi; die Gläubigen sind damit der verklärte Christus selbst. Wer aber Christus ist, ist auch Gott. "Omnia unum, quia quidquid est, est Deus": Alles ist eines, was immer ist, ist Gott. Als Christus kann man zudem nicht sündigen. Sündenfreiheit wurde von manchen der Anhänger darüber hinaus auch als Sündenfreiheit des Körpers verstanden, Unzucht sei daher keine Sünde. Immer wieder betont wird das Erlebnis der Einheit mit Christus / Gott. Ein Dualismus ist nicht bekannt, es gibt also kein böses Prinzip. Zentraler Begriff ist Erfahrung - mit ihr erlangt der Mensch Wissen, eben Wissen von Gott, und zwar unabhängig von kirchlicher Autorität.

Die Amalrikaner waren allesamt Geistliche. Gewisse Belege deuten auf die Nähe zum französischen Könighaus hin, tatsächlich gab es Aussagen (von einem gewissen Wilhem der Goldschmied), dass nun - nach der Lehre von Joachim von Fiore - das Zeitalter des Heiligen Geistes angebrochen sei und der fr. König alle religiöse und weltliche Macht gewinnen würde.

S. a. Amalrikaner ? Wikipedia
 
Häretiker sind getaufte Christen, die vom 'richtigen' Glauben abweichen

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Antwort auf die Ausgangsfrage von Eumolp

Was ist ein 'Häretiker'? Er weicht vom offiziell gelehrten Glauben ab und/oder hängt einer 'Irrlehre' an. Dieses Ausscheren wird von den Glaubensbewahrern als 'Häresie' bzw. 'Ketzerei' bezeichnet.

In christlichen Kirchen werden nur getaufte Christen, die vom 'richtigen' Glauben abweichen, als 'Häretiker' oder 'Ketzer' bezeichnet, nicht Angehörige einer nichtchristlichen Glaubensrichtung.

Dahinter steckt vor allem die Vorstellung, dass man, wenn man einmal getauft ist, nicht mehr aus seiner Kirche austreten kann bzw. darf.

Bereits ab 50 nC bezichtigten einander die ersten christlichen Gemeinschaften der Häresie. Mit der Auflistung von Häresien und Häretikern müssten wir also hie beginnen. Aber vielleicht ist die Einschränkung des Themas auf die nichtkatharischen Häresien des Mittelalters zweckmässig.

Das religiöse Verbot des Austritts bzw. der Konvertierung besteht noch im Islam. Ob es vom Koran oder von der Tradition ausgeht, weiss ich nicht. Willst du dazu auch Angaben?

Hier vorerst ein historisches Standardwerk:
Malcolm Lambert: Ketzerei im Mittelalter – Häresien von Bogumil bis Hus, Bechtermünz Verlag, Augsburg 2002

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Danke für die Ergänzung, Oberhänslir. Aber es ist sicher sinnvoll, die Gruppen / Sekten auf 1. das Mittelalter und 2. das christliche Mittelalter einzuschränken, einfach weil das Unterforum "Die Inquisition" heißt. Sonst würde es ausufern.
 
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Zwischen 'Häresie' und 'Apostasie' muss unterschieden werden. Ein Austritt (= 'Apostasie') aus den christlichen Kirchen des Mittelalters war nicht erlaubt und wurde ebenso verfolgt wie eine 'Häresie'. Offenbar kamen dennoch solche Apostasien vor:

"Der Ausdruck Apostasie (gr. αποστασία apostasía, von από apó „fern“ und στάσις stásis „Stand“, „Haltung“, „Position“) bezeichnet den Abstand von einer Religion durch einen förmlichen Akt (z. B. Kirchenaustritt, Übertritt zu einem anderen Bekenntnis, Konversion). Jemand, der Apostasie vollführt, ist ein Apostat. Der Begriff stammt aus der christlichen Tradition, besonders der Römisch-katholischen Kirche. Heute ist er jedoch auch im Zusammenhang mit dem Islam weit verbreitet. Während Häresie nur eine oder mehrere überlieferte Lehren der Religion bestreitet, lehnt der Apostat die Religion, zu der er Abstand hat, selbst ab. ..."
Apostasie ? Wikipedia

Ich gehe davon aus, dass du die 'Apostasie' einbeziehen willst.

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Tanchelm

Tanchelm wirkte in der Zeit um 1110 in der Gegend von Flandern, Seeland und Brabant. Er war 1112 im Dienst des Grafen Robert II von Flandern nach Rom gereist, um dort die Ablösung Seelands von Utrecht zu erlangen, was jedoch misslang.

Erbittert zurückgekehrt, brach er einen Streik vom Zaun und erwirkte bei den Gläubigen die Aussetzung des Zehnten, zudem wetterte er gegen den unwürdigen und korrupten Klerus und behauptete, die Priester könnten keine Sakramente austeilen. Er selbst bezeichnete sich als Gott, weil er die Fülle des Heiligen Geistes empfangen hatte. Ein Marienbild ließ er aus der Kirche schaffen, nahm die Hand der Statue und verkündete seine Verlobung mit Maria.

Er ging auf Wanderschaft, nahm 12 Männer mit (seine 12 Apostel). Seine Anhänger waren vor allem Handwerker aus aufstrebenden, reichen Siedlungen wie etwa Antwerpen. Angeblich habe er 3000 bewaffnete Anhänger gehabt, sei in goldgewirkten Gewändern umhergezogen, die Anhänger hätten sein Badewasser geschlürft oder als Reliquie weggetragen. Ein Priester soll Tanchelm erschlagen haben.

Mehr darüber: TANCHELM (auch: Tanchelinus)
 
Was es alles für Begriffe gibt, die ich noch nie gehört habe ^^! Ich hätte kein Problem, das zu integrieren, falls es zunächst häretische Strömungen gab, die dann kollektiv ausgetreten sind. Könnte man die ganzen Reformer (seit Luther) mit diesem Begriff belegen?


Dem verlinkten Wikipedia-Artikel nach: Definitiv nein!

apostasia a fide, das vollständige und freiwillige Aufgeben des christlichen Glaubens

Das kann man den christlichen Reformatoren nun auch beim bösesten Willen nicht unterstellen...
 
Eine Gruppe von Häretikern, die beinahe das Kriterium der "apostatischen Häresie" erfüllt, ist mir zufällig unter die Augen gekommen: die sogenannten Passagini in Norditalien, 12. Jahrhundert, erstmals erwähnt 1184. Sie traten zwar nicht kollektiv zum Judentum über, befolgten aber die jüdischen Gebote, z.B. beschnitten sie sich, glaubten nicht an die göttliche Natur von Jesus, hielten den Sabbat und jüdische Speisevorschriften ein. Sie wandten sich gegen die Taufe und die Eucharistie, gegen den Reliquienkult. Offenbar waren es schriftkundige Leute. Interessanterweise wurden sie nicht verfolgt, zumindest gibt es keine Kunde davon. Mehr weiß ich von ihnen leider nicht.
 
Petrus von Bruis

Petrus von Bruis zog 20 Jahre lang als Wanderprediger durch Frankreich, seine Wanderung endete ca. 1133, er starb 1139. Zuvor war er Pfarrer in den französischen Hauts-Alpes, 1119 abgesetzt.

Seine Lehre, die von Petrus Venerabilis überliefert ist: man solle das Kreuz nicht verehren, sondern es als Symbol für die Rache und Qualen des Herrn begreifen, daher sei es ins Feuer zu werfen, auerdem benötige man keine Kirchen, sondern könne auch in den Wirtshäusern die Predigt halten. Man muss hier dazusagen, dass die Bogomlen in Bulgarien ähnliche Lehren verfochten.

Er wetterte gegen die Kindstaufe und führte Wiedertaufe ein - wohl als erster. Auch gebe es kein Fegefeuer, daher brauche man für die Verstorbenen auch nicht zu beten. Auch das Alte Testament sei wertlos. Es heißt, er sei ums Leben gekommen, als er einen Haufen von Kreuzen aufgeschichtet und verbrannt habe, empörte Gläubige hätten ihn ins Feuer geworfen.

Seine Anhänger waren vor allem in Südwestfrankfreich zu finden (Petrobruisianer).

Mehr: PETRUS von Bruis
 
Der Mönch Heinrich (von Lausanne)

An Petrus schließt sich unmittelbar der Mönch Heinrich (von Lausanne) an.

Die Anhängerschaft von Petrus von Bruis lief nach dessen Tod zum Prediger Heinrich über (die "Henricianer"), der fälschlich auch Heinrich von Lausanne genannt wurde.

H. war ein entlaufener Mönch, sein Wirkgebiet vor allem Nordfrankreich in der Gegend von Le Mans. (D.h. die Verbindung zu den Petrobruisaner kam erst später zustande). Sein Auftreten war auf Wirkung bedacht: so ließ er sich von Jüngern in die Stadt geleiten, trug Büßerhemd, langen Bart und ging barfuß. Zu Anfang besaß er das Vertrauen des lokalen Klerus: der Bischof von Le Mans holte ihn sogar als eine Art Stellvertreter in die Stadt, als er selbst nach Rom ging. Dort predigte er, die Häuser der Geistlichen zu zerstören, sie selbst sollten gesteinigt werden.

Heinrich wandte sich auch an die Prostitutierten der Stadt, vermählte sie mit Anhängern (was längerfristig allerdings schief ging). Später ging Heinrich nach Bordeaux, wurde 1135 gefangen, kam frei und wirkte in Toulouse.

Bernard von Clairveaux wollte mit ihm öffentlich disputieren, wozu es aber nicht kam; offenbar war Heinrich nicht so bibelfest. 1145 soll er festgenommen worden sein. Danach enden die Nachrichten über Heinrich.
 
Noch ein Wort zu einer "apostatischen Häresie". Beim Studium der verschiedenen Ketzerbewegungen sind mir natürlich auch die Bogomilen untergekommen, einer osteuropäischen Ketzerbewegung mit Hauptsitz in Bulgarien und Bosnien, aber auch mit Anhängerschaft in Byzanz. Sie könnten den Status einer "apostatischen Häresie" erhalten, denn nach der osmanischen Besetzung von Bulgarien 1393 sind sie komplett zum Islam übergewechselt.

Allerdings sehe ich in diesem Wechsel weniger einen theologischen Vorgang sondern eher politischen Druck.
 
Allerdings sehe ich in diesem Wechsel weniger einen theologischen Vorgang sondern eher politischen Druck.

Die Bogomilen wurden von den umwohnenden Christen als Ketzer angesehen, daher würde ich weniger von Druck durch die Muslime sprechen, denn von einer Reaktion auf christlichen Druck?

Bogomilen und Katharer mit ihrem dualistisch, gnostischen Weltbild werden noch immer gerne mit den Arianern in Verbindung gebracht. Unter Anderem hört man gelegentlich, dass ihere Verbreitungsgebiete in Bereichen lagen, in denen einst Goten gelebt haben. Das halte ich allerdings für recht weit hergeholt. Den Arianern kann man überdies vieles vorwerfen, aber m.W. nicht, dass sie ein dualistisches Weltbild hatten...
 
Ja genau, aber wer spricht denn von Arianern? Die Bogumilen galten als Doketisten, die Christi Leib als "Scheinleib" bezeichnen und dazu als Manichäer (wegen des Dualismus), schließlich als Abkömmlinge der Paulikianer (was umstritten ist). Von der Abkunft als Arianer habe ich noch nix gehört.

Zum Übertritt der Bogomilen zum Islam kann ich im einzelnen wenig sagen. In Bosnien wurde der B. Staatsreligion: Tatsächlich wurde der B. bosnische Staatsreligion schon unter Ban Kulin, 1180-1214. Auch in Bulgarien war er die 1. Hälfte des 13. Jh. anerkannt. Der Übertritt erfolgte sowohl in Bosnien wie auch in Bulgarien, d.h. nicht unbedingt unter religiösem Druck.

Allerdings hatten die Bogumilen Ende des 14.Jh kaum Einfluss mehr: Als schwache Sekte sahen sie vielleicht mehr Chancen in einer neuen Religion? Letzter Satz = Spekulation.
 
Leutard von Vertus

Bis wir mehr über die bosnischen Bogomilen wissen (was mich schon interessieren würde), mache ich mal mit einer anderen Häresie weiter.

Habe ich schon Leutard erwähnt? Nein, aber das ist ein Muss, denn er bildete die älteste bezeugte Häresie des katholischen Mittelalters. Sie handelt von einem Bauern aus dem Dorf Vertus in der Nähe von Chalons-sur-Marne in der Champagne, um das Jahr 1000.

Von Bienen träumte der Mann namens Leutard auf seinem Feld (wohl beim Mittagsschläfchen, wenn die Sonne ohnehin sticht), Bienen, die ihn stachen und ihm befahlen, nach Hause zu gehen und sich von seiner Gattin scheiden zu lassen, was er auch tat. Dann ging er in die Kirche und zerbrach das Kreuz. Er begann dem Volk zu predigen, den Zehnten herzugeben sei überflüssig, was ihn bei den Bauern sofort beliebt machte.

Er wurde vor den Bischoff Gebuin zitiert, der sich jedoch nicht von seinen Thesen überzeugen ließ. Schließlich konnte er Leutards Anhänger wieder zum rechten Glauben zurückführen, und Leutard stürzte sich vor Verzweiflung in einen Brunnen.

(Eine Website, die mehr dazu liefert, habe ich nicht gefunden. Wäre auch mal einen wikipedia-Eintrag wert. Am ehesten findet man noch hier Robert II de France - Wikipédia etwas)
 
Humiliaten

Wie die Passagini (s.o.) waren auch die Humiliaten in Norditalien beheimatet. Ähnlich wie sie zogen sie auch nicht umher, sondern praktizierten ihren Glauben in ihren Häusern, tatsächlich waren die Humiliaten vor allem unter Handwerkern vertreten. Erste Erwähnung 1179 in Mailand. Reichtum und Luxus wurden abgelehnt. Offensichtlich gehörten eher ärmere Handwerker zu ihnen, Herbert Grundmann spach sogar vom "untersten Protelariat" im Kampf gegen die Ausbeutung in der Tuchindustrie, diese Interpretation ist jedoch umstritten. Auch der Eid war verpönt, was vor Gericht zu Problemen führte.

Die Humiliaten wollten - als Laien - ihren Mitbrüdern predigen, dies wurde 1179 auf dem 3. Laterankonzil verboten, und 1184 wurden die Humiliaten (zusammen mit Katharern und Waldensern) von Papst Lucius III exkommuniziert. Später (1201) versuchte Papst Innozenz III (der "echte", nicht der Gegenpapst) eine Rehabilitierung, um Mitkämpfer gegen die Katharer zu gewinnen, und erlaubte den Humiliaten die Predigt über sittliche, jedoch nicht über religiöse Fragen; ebenso erlaubte er die Enthaltung vom Eid bei "unnötigen Eiden" im Gegensatz zu "unbedingt nötigen" Eiden - was immer das ist. Durch diese Rehabilitierung erhielten die Humuliaten einen Ordensstatus, sie waren danach gegliedert in Kleriker, Laien mit klösterlicher Lebensform und Laien mit Familie. Im 13. Jahrhundert wurden die Humiliaten immer mehr einem herkömmlichen Orden ähnlicher.

Humiliaten
 
Kann es sein, daß wir die Dolcinianer (bekannt insbesondere aus Umberto Ecos "Name der Rose") noch nicht hatten?
Fra Dolcino ? Wikipedia
Richtig. In meinem Zettelkasten hätte ich noch:

Waldenser, Joachim von Fiore, Flagellanten, Beginen und Begarden, Goliarden und die Brüder und Schwester vom freien Geist

das sind meine Vorschläge. Die Dolcinianer hätte ich glatt vergessen.
Für Ergänzungen bin ich natürlich immer dankbar, obwohl es wahrscheinlich hunderte von häretischen Gruppen gibt. Wieviele überhaupt, gibt es da eine Aufstellung?
 
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