Grundlegendes zur Sprachwissenschaft

H

hyokkose

Gast
Da es in Diskussionen immer wieder vorkommt, daß skurrile Thesen mit dilettantischen Wortvergleichen "bewiesen" werden sollen, möchte ich - einer Anregung Lynxxx' folgend - einige grundlegende Aspekte zum Thema "Vergleichende Sprachwissenschaft" darlegen.

Immer wieder wird mit ähnlichen Wörtern argumentiert. Ähnliche Wörter beweisen für sich überhaupt nichts, denn ähnliche Wörter in verschiedenen Sprachen können verschiedene Ursachen haben:

1. Zufall

Wenn man zwei Sprachen miteinander vergleicht, wird man immer ähnliche oder gleiche Wörter finden. Mit einem dicken Wörterbuch und genug Geduld wird man immer fündig. Einige Beispiele:
sumerisch "ĝen" = deutsch "gehen"
indonesisch "dua" = lateinisch "duo" (deutsch: "zwei")
koreanisch "mani" = englisch "many" (deutsch: "viel")
japanisch "namae" = deutsch "Name"

Je kürzer die Wörter oder Wortstämme, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, durch reinen Zufall etwas "Passendes" zu finden. Die Wahrscheinlichkeit, daß etwa das deutsche Wort "Philologie" nur zufällig dem griechischen Wort "philologia" ähnelt oder daß das japanische Wort "orugasumusu" nur zufällig dem deutschen Wort "Orgasmus" ähnelt, ist hingegen recht gering...

2. Lallwörter und lautmalende Wörter

Wörter wie "Papa", "Mama", "Wauwau", "Kuckuck" sind über die ganze Welt verbreitet. Hier ist zwar kein reiner Zufall am Werk, dennoch erlauben Ähnlichkeiten bei solchen Wörtern keine Schlußfolgerungen über historische Zusammenhänge.

3. Entlehnungen

Entlehnungen von der einen in die andere Sprache sind seit alters her ein ganz alltäglicher Vorgang. Alltägliche Wörter wie "Mauer", "Keller", "Küche", "Tisch", Pfanne" wurden vor annähernd 2000 Jahren aus dem Lateinischen ins Germanische übernommen, sie sind im Deutschen heute noch zu Hunderten nachweisbar. Oft werden entlehnte Wörter wieder in die Nachbarsprachen weitergereicht, so sind z. B. die griechischen Wörter "nomos" ("Gesetz") und "dipthtera" ("Haut", "Pergament", in der Bedeutung "Papier", "Schriftstück") im Lauf der Jahrhunderte durch Zentralasien bis nach Nordostasien ins Mandschurische gewandert. In der anderen Richtung wurde ein mongolisches Wort ("karakoli" = "Stoßtrupp") bis ins südöstliche Afrika durchgereicht, ohne daß jemals mongolische Stoßtrupps dorthin gekommen wären.

Das heißt, daß Entlehnungen zwar auf einen direkten kulturellen Kontakt zurückgehen können, aber keineswegs müssen. Die Entlehnung kann auch über mehrere Zwischenstationen gegangen sein, ohne daß es jemals einen direkten Kontakt gegeben hat.

4. Sprachverwandtschaft

Wenn die Gemeinsamkeiten zwischen zwei Sprachen nur dadurch zu erklären sind, daß sie aus derselben Grundsprache hervorgegangen sind, spricht man von Sprachverwandtschaft. Ein bekanntes Beispiel bilden die romanischen Sprachen (Portugiesisch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Rumänisch u. a.), die sich allesamt aus dem Lateinischen entwickelt haben. Daß die einstige Grundsprache schriftlich bezeugt ist, ist allerdings nur selten der Fall. Meist läßt sich die Grundsprache nur rekonstruieren. Wenn die Rekonstruktion nicht nur eines gewissen Wortschatzes, sondern eines sprachlichen Systems - dazu gehören Phonologie (Lautlehre) und Grammatik - nach wissenschaftlichen Grundsätzen möglich ist, gilt eine Sprachverwandtschaft als bewiesen.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Wissenschaftliches Vorgehen: Nachweis von Regelmäßigkeiten

Zu den wissenschaftlichen Grundsätzen gehört, daß nicht wahllos Gemeinsamkeiten nebeneinandergestellt und mehr oder weniger phantasievolle Rekonstruktionen ersonnen werden, sondern es müssen Regelmäßigkeiten nachgewiesen und in ein System gebracht werden.
Eine solche Regelmäßigkeit ist, daß lateinischen Wörtern mit "c-" in vielen Fällen deutsche Wörter mit "h-" entsprechen.

lat. "caput" = dt. "Haupt"
lat. "collus" = dt. "Hals"
lat. "culmus" = dt. "Halm"
lat. "cor(dis)" = dt. "Herz"
lat. "centum" = dt. "hundert"
lat. "cornu" = dt. "Horn"

Es gibt freilich auch lateinische Wörter mit "c-", denen deutsche Wörter mit "k-" entsprechen:
lat. "consensus" = dt. "Konsens"
lat. "cubus" = dt. "Kubus"
lat. "corrigere" = dt. "korrigieren"
lat. "commentarius" = dt. "Kommentar"

Es fällt auf, daß die Wörter der ersten Gruppe einerseits lautlich stärker voneinander abweichen, andererseits zu einem allgemeineren Wortschatz zählen (Körperteile, Pflanzenteile, Zahlwörter) als die zweite Gruppe, die eher der Gelehrtensprache angehören. Im ersten Fall liegt Urverwandtschaft vor, im zweiten Fall handelt es sich nachweislich um Entlehnungen, die erst in den letzten paar hundert Jahren im Deutschen einheimisch geworden sind, als Latein die Sprache der Gelehrten war.

Noch komplizierter wird ein Vergleich zwischen den lateinischen Wörtern mit "p-" und ihren deutschen Entsprechungen. Hier sind drei Regelmäßigkeiten am Werk, denn es lassen sich drei Gruppen bilden:

1. "p-" entspricht "f-" (oder im Schriftbild "v-")

lat. "pater" = dt. "Vater"
lat. "pannus" = dt. "Fahne"
lat. "pes" = dt. "Fuß"
lat. "plaga" = dt. "Fläche"
lat. "plere" = dt. "füllen"

2. "p-" entspricht "pf-"

lat. "pondo" = dt. "Pfund"
lat. "plantare" = dt. "pflanzen"
lat. "propago" = dt. "pfropfen"
lat. "Persicus" = dt. "Pfirsich"
lat. "pila" = dt. "Pfeiler"
lat. "porta" = dt. "Pforte"
lat. "postis" = dt. "Pfosten"

3. "p-" entspricht "p-"

lat. "polus" = dt. "Pol"
lat. "pastor" = dt. "Pastor"
lat. "passio" = dt. "Passion"
lat. "praeparare" = dt. "präparieren"
lat. "privilegium" = dt. "Privileg"

Bei einer unwissenschaftlichen Vorgehensweise würde man diese Wörter nicht zu Gruppen ordnen, sondern alles in einen Topf werfen und behaupten: "p", "pf", "f" ist doch alles dasselbe. Dann würde man auch beispielsweise lat. "fasciulus" = dt. "Päckchen" mit in den Topf werfen und eine beliebige Menge wertloser Schlußfolgerungen ziehen.

Bei wissenschaftlicher Vorgehensweise muß jede einzelne Verschiebung als Regel formuliert werden, und es muß darauf geachtet werden, daß jede einzelne Regel in ein stimmiges System gebracht werden kann.

Bei der 1. Gruppe zeigt sich bei einem umfassenden Vergleich z. B. folgendes:
- Die Lautverschiebung tritt nicht nur im Deutschen, sondern in allen germanischen Sprachen auf: lat. "pater" = dt. "Vater" = engl. "father" etc.
- Die Lautverschiebung betriff nicht nur das "p-", sondern alle stimmlosen Verschlußlaute (p, t, k), außer in den Verbindungen mit s (sk, sp, st). Die Lautverschiebungen "pater" -> "Vater" und "cornu" -> "Horn" folgen somit derselben Gesetzmäßigkeit
- Der Wortschatz dieser Gruppe gehört schwerpunktmäßig zu einem "Kernwortschatz", der von kulturellen Änderungen kaum beeinflußt wird und erfahrungsgemäß selten durch Entlehnungen ersetzt wird. Dazu gehören Verwandtschaftsbezeichnungen (z. B. "Vater"), Zahlwörter (z. B. "hundert"), Bezeichnungen für Körperteile ("Fuß", "Herz"), für alltägliche, nicht sehr spezielle Tätigkeiten ("füllen") und dergleichen.

Bei der 2. Gruppe zeigt sich:
- Die Wörter finden sich auch in anderen germanischen Sprachen (z. B. englisch "pound"), doch tritt dort die Lautverschiebung "p" -> "pf" nicht auf.
- Die Lautverschiebung steht wiederum in Zusammenhang mit einer Reihe anderer Erscheinungen, so wird "t" zu "z" wie in lat. "tegula" -> dt. "Ziegel" (aber englisch "tile")
- Der Wortschatz dieser Gruppe bildet einen charakteristischen "Kulturwortschatz", besonders häufig finden wir Wörter aus dem Bereich Hausbau (Keller, Küche, Pfeiler, Ziegel, Mauer, Fenster, Kamin), Wohnungs- und Kücheneinrichtung (Pfanne, Tisch, Bottich, Kelter, Mörser, Trichter), Garten- und Feldbau (Birne, Kirsche, Pflaume, Pfirsich, Kohl, Zwiebel, Rettich, Kümmel) und Handel (kaufen, Pfund, Münze, Markt). Hier zeigt sich der römische Kultureinfluß auf die Germanen in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung

Bei der 3. Gruppe läßt sich feststellen:
- Es tritt keine Lautverschiebung auf, die Wörter werden entweder unverändert übernommen ("pastor" = "Pastor") oder nur leicht eingedeutscht, indem lateinische Endungen verschwinden ("polus" -> "Pol", "privilegium" -> "Privileg") oder durch deutsche Endungen ersetzt werden ("praeparare" -> "präparieren"; "corrigere" -> "korrigieren")
- Der Wortschatz dieser Gruppe hat einen besonderen Bezug zu Kirche, Wissenschaft, Recht und Verwaltung, also den Bereichen, in denen bis in die Neuzeit die lateinische Sprache als Sprache von Klerus und Gelehrten verwendet wurde.

Zusammengefaßt läßt sich sagen: Gruppe 2 und 3 gehören in die Kategorie "Entlehnung", nur die Wörter der Gruppe 1 lassen sich als Beweis für eine Sprachverwandtschaft zwischen Deutsch und Latein heranziehen. Hier handelt es sich um die indoeuropäische Sprachverwandtschaft. Diese ist freilich nicht aus dem deutsch-lateinischen Vergleich allein zu beweisen, hier müssen auch die anderen indoeuropäischen Sprachzweige herangezogen werden, z. B. lat. "pater" = dt. "Vater = griechisch "pater" = altindisch "pita(r)"...
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Nachweis von Sprachverwandtschaft / Rekonstruktion der Grundsprache

Zum Nachweis einer Sprachverwandtschaft genügt es nicht, eine gewisse Anzahl von vergleichbaren Wörtern zu finden. Vielmehr müssen folgende Bedingungen erfüllt sein:

1. Es ist notwendig, genügend vergleichbare Wörter zu finden, um Lautgesetze aufstellen zu können.
2. Die Lautgesetze müssen umfassend sein, also alle Laute einer Sprache miteinbeziehen.
3. Die Wörter, die zur Erstellung der Lautgesetze herangezogen werden, müssen in genügendem Maße zum Kernwortschatz gehören, ausgesprochene Kulturwörter sind in hohem Maße anfällig für Entlehnungen
4. Die Gemeinsamkeiten dürfen sich nicht nur auf Wörter beschränken, sondern müssen auch die Grammatik miteinbeziehen. Zwar können auch einzelne grammatische Elemente entlehnt werden, doch niemals ein komplettes grammatisches System. Daher können z. B. durchgängige Gemeinsamkeiten in der Konjugation einschließlich charakteristischer Unregelmäßigkeiten als ziemlich sichere Beweise für eine Sprachverwandtschaft gewertet werden, z. B. altindisch "asti - santi", latein "est - sunt", deutsch "ist - sind".

Rekonstruktion

Wie läßt sich bei festgestellten Lautgesetzen der ursprüngliche Laut rekonstruieren? Bei lat. "pater" / dt. "Vater" (gesprochen: "Fater") wären ja theoretisch zwei Möglichkeiten denkbar:
a) Ursprünglich lautete das Wort "fater", das "f" wurde im Lateinischen zu "p".
b) Ursprünglich lautete das Wort "pater", das "p" wurde im Germanischen zu "f"

Hier führt der Vergleich mit den anderen Sprachen (griechisch "pater", altindisch "pitar") zu dem Schluß, daß wohl das "p" der ursprüngliche Laut gewesen sein muß. Daß ein ursprüngliches "f" in den Einzelsprachen - in Italien, in Griechenland, in Indien - unabhängig voneinander zu einem "p" geworden ist, ist extrem unwahrscheinlich, die Rekonstruktion eines ursprünglichen "p" daher als zuverlässig zu werten.

Vor zweierlei Mißverständnissen über den Begriff "Rekonstruktion" ist zu warnen:

1. Eine wissenschaftliche Rekonstruktion ist in keinem Fall das Ergebnis phantasievoller Spekulationen, vielmehr muß jede einzelne Lautverschiebung schlüssig begründet und mit hieb- und stichfesten Beispielen belegt werden.

2. Die wissenschaftliche Rekonstruktion einer Grundsprache beansprucht nicht, eine damals gesprochene Sprache naturgetreu wiedergeben zu können. Wie das oben rekonstruierte ursprüngliche "p" ganz genau ausgesprochen wurde (z. B. wie im Deutschen mit hörbarem nachfolgendem Hauch oder eher wie im Französischen), läßt sich nicht immer rekonstruieren. Auch läßt sich in vielen Fällen nur die Grundbedeutung eines Wortes erschließen, nicht aber, in welchem übertragenen Sinne es genutzt wurde ("Fuß" kann im Deutschen nicht nur ein Körperteil bezeichnen, sondern auch z. B. als "Fuß eines Berges" verstanden werden.) Ferner ist es schwierig, die dialektalen Varianten oder auch gruppenspezifischen Slang einer Grundsprache zu rekonstruieren.
 
Danke für die Beiträge, wie sieht es mit dem Wort "Kaiser" aus? Könnte man sagen, dass das eher die damalige Aussprache trifft als "Cäsar"? Das c und k ist mir klar, aber die Vokale finde ich spannend.
 
Eher "Kaizar", oder?

Mit "z" wie in "Zar" und "Zimmermann" sicher nicht, das war schon ein "s".

Ob dieses "s" damals stimmlos (wie es ein Süddeutscher aussprechen würde) oder stimmhaft (wie im Standarddeutschen) ausgesprochen wurde, darüber mag man sich vielleicht streiten.
 
Auch von mir Danke für die Einführung.

Könntest du noch ein paar Literaturtipps angeben? Ich wollte mich auch einmal etwas genauer in die Methoden der Sprachwissenschaftler einlesen. Gibt es hier ein Standardwerk, das jeder Student der Sprachwissenschaften zur Einführung gelesen haben sollte und auch für Studenten anderer Geisteswissenschaften nicht zu ausführlich ist?
 
Nun interessiert mich mal etwas grundsätzliches zu den Sprachverwandtschaften bzw. "frühen Sprachen". Man geht doch von einer recht überschaubaren Gruppengröße beim ersten Menschen aus und auch, daß dieser bereits über Sprache verfügte. Ist die Hypothese einer einzigen "Ursprache" korrekt?

Desweiteren, gibt es eine Theorie, wie lang es dauert, bis sich eine Sprache in verschiedenen Gruppen so weit entwickelt hat, daß hernach unterschiedliche Sprachen bzw. nicht mal mehr eine Sprachverwandtschaft festgestellt werden können?

Zu Gesetzmäßigkeiten hast du, lieber Hyo, dich ja schon ausgelassen. Wie aber kommen völlig unterschiedliche grammatische Strukturen zustande? Ich denke dabei zum einen gerade an die Klassensprachen und zum anderen an die "Besonderheit" im deutschen, daß das Prädikat stets zweites Satzglied ist, im Gegensatz zu "Subjekt-Prädikat-Objekt".

Und dann noch eine Frage zu den Sprachen Amerikas. Greenberg ist in der Zusammenlegung der Sprachfamilien ja recht großzügig, was aber, wie du @Hyo schon an anderer Stelle geschrieben hast (glaube ich), so nicht haltbar sein soll. Gehen wir von einer Besiedlung von vor 20.000 Jahren aus, scheint es mir aber ein recht kurzer Zeitraum für die Aufspaltung in diese Vielschichtigkeit...

Huch, so viele Fragen... Hoffe, ich habe mich verständlich ausgedrückt und würde mich über eine Antwort für einen Laien sehr freuen. :)
 
Nur ein paar Anmerkungen "a-propos":
Otto Weikopf hat eine Menge an Sprachen bezogener Information gesammelt uns schön sortiert: Welt der Sprache - Sprachen der Welt

Die Methode der Lexikalischen Massenvergleiche, die Joseph Greenberg letztendlich begründet hat, ist natürlich viel primitiver als die von den Indogermanisten entwickelten, da sie nur das Wortmaterial und nicht die "Struktur" berücksichtigt.. Das heißt, dass sie weniger trennscharf sind, also die eine oder andere Sprache falsch eingruppieren; das muss man dann im Einzelfall umetikettieren. Dies ist eine Eigenschaft statistischer Methoden, und kein "Fehler" :)


Wenn man Worte wie Gene behandelt, dann kann man die gleiche Software verwenden, die auch genetische Verwandschaft berechnet und hiermit einen Stammbaum erzeugen. Hiermit ist auch eine Schätzung des Alters der Stammbaumverzweigungen möglich, wenn man konstante "Mutationsraten" voraussetzt. Dies ist allerdings sicher nicht gerechtfertigt.

Wir unterschätzen gerne, wie schnell sich literaturlose Sprachen verändern können. Die Kalibrierung der Mutationsraten erfolgt naturgemäß eher an schrift-überlieferten Sprachen..
 
Wir unterschätzen gerne, wie schnell sich literaturlose Sprachen verändern können. Die Kalibrierung der Mutationsraten erfolgt naturgemäß eher an schrift-überlieferten Sprachen..
Meinst du, eine Sprache, die keine Schrift kennt, verändert sich schneller?
Glaube ich eigentlich nicht...
:grübel:
 
Nur ein paar Anmerkungen "a-propos":
Otto Weikopf hat eine Menge an Sprachen bezogener Information gesammelt uns schön sortiert: Welt der Sprache - Sprachen der Welt

Im großen und ganzen ist der Link empfehlenswert, etliche Aussagen sind freilich mit Vorsicht zu genießen. Vor allem werden mitunter umstrittene Hypothesen (bis hin zu Außenseiterhypothesen) als Tatsachen verkauft, etwa die These "Vaskonisch als Ursprache Europas"...



Die Methode der Lexikalischen Massenvergleiche, die Joseph Greenberg letztendlich begründet hat, ist natürlich viel primitiver als die von den Indogermanisten entwickelten, da sie nur das Wortmaterial und nicht die "Struktur" berücksichtigt.. Das heißt, dass sie weniger trennscharf sind, also die eine oder andere Sprache falsch eingruppieren; das muss man dann im Einzelfall umetikettieren. Dies ist eine Eigenschaft statistischer Methoden, und kein "Fehler" :)

Da gibt es allerdings noch ganz andere Haken. Das "falsch Eingruppieren" kann ja auch ohne Massenvergleichsmethode passieren, indem man einfach nach der Intuition vorgeht. So hat man früher z. B. das Vietnamesische wegen der dort zahlreichen Entlehnungen aus dem Chinesischen zur falschen Sprachfamilie gerechnet. Tatsächlich ist es aber nicht mit dem Chinesischen verwandt, sondern mit dem Khmer (und weiteren Sprachen Südostasiens, die zusammen die austroasiatische Sprachfamilie ergeben.)
Ähnliches ist mit dem Thai passiert, das ebenfalls viele alte Entlehnungen aus dem Chinesischen enthält, aber weder mit dem Chinesischen noch mit dem Vietnamesischen verwandt ist.

Die Massenvergleichsmethode à la Greenberg setzt da allerdings noch einen Fehler drauf: Sie gruppiert grundsätzlich bei Bestehen signifikanter Gemeinsamkeiten Sprachen zu einer Familie, was meist zu recht großen "Makrofamilien" führt. Im erwähnten Fall Chinesisch/Vietnamesisch/Thai würde weder eine falsche noch eine richtige Grenze zwischen diesen drei Sprachen gezogen, sondern alles in einen Topf geworfen, was signifikante Wortübereinstimmungen zeigt. Da der Massenvergleich sicherlich auch einige signifikante Gemeinsamkeiten zwischen den tatsächlich verwandten Sprachen Vietnamesisch und Khmer ergeben würde, würden sämtliche Verwandten des Vietnamesischen und sämtliche Verwandten des Thai mit Chinesisch und seinen Verwandten in einer riesigen Makro-Sprachfamilie landen. Dort würde man dann auch weitere Sprachen finden, die mit Chinesisch mitnichten verwandt sind, wie etwa Koreanisch und Japanisch.

Letztlich würden praktisch alle Sprachen und Sprachfamilien Ostasiens und Südostasiens in einer postulierten Makrofamilie landen. Auf dieses Ergebnis kommt man jedoch auch ohne jegliche Methodik, man muß nur einen einfachen Mann auf der Straße, dessen asiatische Sprachkenntnisse exakt bei Null liegen, danach fragen, was der Unterschied zwischen Thai, Vietnamesisch, Chinesisch, Japanisch und Koreanisch sei. Und wenn er sagt: "Für mich ist das doch alles dasselbe", dann haben wir mit sehr viel geringerem Aufwand dasselbe Ergebnis erzielt wie die Massenvergleichsmethode à la Greenberg...


Wir unterschätzen gerne, wie schnell sich literaturlose Sprachen verändern können. Die Kalibrierung der Mutationsraten erfolgt naturgemäß eher an schrift-überlieferten Sprachen..

Da muß ich Dir allerdings recht geben. Das Vorhandensein einer Schriftsprache dürfte (zumindest in der Vergangenheit, mit den heutigen Fast-food-Medien läßt sich das kaum vergleichen) einen eher entwicklungshemmenden Faktor dargestellt haben.
Allerdings läßt sich auch bei schriftlich bezeugten Sprachen recht gut feststellen, daß sich Phasen rasanter Entwicklung mit Phasen vielhundertjähriger Stagnation abwechseln können. Jede "Kalibrierung von Mutationsraten" ist also mit sehr großer Vorsicht zu genießen.
 
@hyo, schön dass du hier in paar Dinge gerade gerückt hast. Greenberg scheint aber sehr populär zu sein, seine Amerind-Hypothese wird immer wieder kolportiert.
 
Zuletzt bearbeitet:
Meinst du, eine Sprache, die keine Schrift kennt, verändert sich schneller?
Glaube ich eigentlich nicht...
:grübel:

Ganz sicher ist die Verschriftung einer Sprache geeignet, Veränderungen zu verlangsamen (aufhalten läßt sich der Sprachwandel freilich nicht). Ich bin mir sicher, daß sich z. B. dank der Lutherbibel zahlreiche Ausdrücke über fünfhundert Jahre lang in der gesprochenen Sprache erhalten haben, die längst ausgestorben wären, hätten sie die Leute nicht jeden Sonntag immer wieder in der Kirche gehört. Das mitteldeutsche Wort "scherf" (= "kleine Münze") ist schon längst aus dem deutschen Wortschatz verschwunden; daß sich das "Scherflein" bis zum heutigen Tag gehalten hat, ist m. E. allein der Lutherbibel zuzuschreiben.
 
Das mitteldeutsche Wort "scherf" (= "kleine Münze") ist schon längst aus dem deutschen Wortschatz verschwunden; daß sich das "Scherflein" bis zum heutigen Tag gehalten hat, ist m. E. allein der Lutherbibel zuzuschreiben.
Ja gut, das Wort ist mir schon noch ein Begriff, aber frag mal heute einen Jugendlichen nach der Bedeutung dieses Wortes. Du wirst keine Antwort bekommen, weil es keiner weiß.
 
@hyo, schön dass du hier in paar Dinge gerade gerückt hast. Greenberg scheint aber sehr populär zu sein, seine Amerind-Hypothese wird immer wieder kolportiert.
Sagen wir mal so: Hyok hat einige bekannte Probleme adressiert,die auch Greenberg und seinen vielen "Anhängern" wohlbekannt sind :)

Auf der einen Seite ist ein statistischer Wortvergleich sehr wohl geeignet, Sprachen gegeneinander abzugrenzen und einen Stammbaum herzustellen (wenn er auch zeitlich unkalibriert bleiben muss). Biologisch gesehen wären wir jetzt bei den "Arten". Die nächste Frage ist die nach den Gattungen und Familien. Dies ist genauso wenig trivial wie in der Biologie und mit der gleichen Problemlage behaftet, wenn man nur wie Linne vorgeht :)

Grammatische "Features" - nach denen Tekker ja ausdrücklich gefragt hat - sind immer etwas willkürlich (Morphologischer Typ (analytisch, flektierend, agglutinierend, isoliert), Wortstellung, Wortklassen (Casus),..); oder auch phonetische Eigenheiten, wie besondere Vokal- oder Konsonantenarmut...).
Vermutlich wird man irgendwann solche Unterscheidungen auch in Massenuntersuchungen mit berücksichtigen, allerdings waren sie für Stammessprachen nicht immer zuverlässig bekannt.

Im Sinne einer strengen Kladistik ist die konkrete Abstammung wesentlich, nicht die Ähnlichkeit. Dass z.B. Farsi eine indo-europäische Sprache ist, kann man wohl nur wegen unserer Kenntnis der Vorläufersprache beweisen.
 
Man geht doch von einer recht überschaubaren Gruppengröße beim ersten Menschen aus und auch, daß dieser bereits über Sprache verfügte.

Wann und wo genau lebte die erste Menschengruppe, und welche Möglichkeiten gäbe es, zu erfahren, ob er über Sprache verfügte? Soviel ich weiß, ist man sich da ja schon über ganz grundlegende Fragen im unklaren, z. B. ob der Neandertaler sprechen konnte oder nicht.


Desweiteren, gibt es eine Theorie, wie lang es dauert, bis sich eine Sprache in verschiedenen Gruppen so weit entwickelt hat, daß hernach unterschiedliche Sprachen bzw. nicht mal mehr eine Sprachverwandtschaft festgestellt werden können?

Es gibt ja nur sehr wenige Sprachfamilien, bei denen man Entwicklungen über drei oder gar vier Jahrtausende überblicken kann. Grob über den Daumen gepeilt, würde ich sagen, daß man mit dem Mittel der Rekonstruktion etwa noch einmal denselben Zeitraum zurückprojizieren kann. D. h. spätestens ab ca. 8.000 Jahren vor unserer Zeit stochern wir völlig im Nebel. Da sind wir aber von der postulierten Ursprache noch weit entfernt.


Ist die Hypothese einer einzigen "Ursprache" korrekt?

Ich würde eher fragen: Welchen Wert soll angesichts der Faktenlage eine solche Hypothese haben?


Zu Gesetzmäßigkeiten hast du, lieber Hyo, dich ja schon ausgelassen. Wie aber kommen völlig unterschiedliche grammatische Strukturen zustande? Ich denke dabei zum einen gerade an die Klassensprachen und zum anderen an die "Besonderheit" im deutschen, daß das Prädikat stets zweites Satzglied ist, im Gegensatz zu "Subjekt-Prädikat-Objekt".

Manchmal kann's auch andersherum sein:

Wilhelm Busch schrieb:
Im Süden fern die Feige reift,
Der Falk am Finken sich vergreift.

Die Gams im Freien übernachtet,
Martini man die Gänse schlachtet.

Nun gut, dieses Beispiel scheint keine Schule zu machen, aber schau Dich doch mal in Chats um, da findest Du "Sätze" wie z. B.:
*Susi das Taschentuch reich*
*Vor Lachen unterm Tisch lieg*


Hier scheinen sich durchaus Regelmäßigkeiten zur Satzbildung anzubahnen. Wer weiß, vielleicht stehen diese Sätze in einigen Jahrzehnten in den Schulbüchern...



Und dann noch eine Frage zu den Sprachen Amerikas. Greenberg ist in der Zusammenlegung der Sprachfamilien ja recht großzügig, was aber, wie du @Hyo schon an anderer Stelle geschrieben hast (glaube ich), so nicht haltbar sein soll. Gehen wir von einer Besiedlung von vor 20.000 Jahren aus, scheint es mir aber ein recht kurzer Zeitraum für die Aufspaltung in diese Vielschichtigkeit...

Erstens halte ich diesen Zeitraum schon für sehr lang, zumal es mit den altbezeugten (à la Akkadisch oder Hethitisch) Indianersprachen ja schon sehr hapert.
Zweitens: Wer sagt denn, daß die frühesten Amerika-Einwanderer allesamt als Mitglieder einer großen Reisegruppe, die sich untereinander prächtig verstand, ins Land gekommen sind? Es könnte sich ja auch um einzelne Kleingruppen mit ganz verschiedenen Sprachen gehandelt haben...
 
@hyo: Nun gut, dieses Beispiel scheint keine Schule zu machen, aber schau Dich doch mal in Chats um, da findest Du "Sätze" wie z. B.:
*Susi das Taschentuch reich*
*Vor Lachen unterm Tisch lieg*

Das ist durch die deutschen Übersetzungen der Disney-Comics (Donald Duck) ausgelöst worden. M.W. war es eine inzwischen verstorbene Frau, deren Name mir nicht geläufig ist. Jedenfalls hat sie "seufz, kreisch" usw. erfunden und das Volk baut es aus.
 
Auf der einen Seite ist ein statistischer Wortvergleich sehr wohl geeignet, Sprachen gegeneinander abzugrenzen und einen Stammbaum herzustellen (wenn er auch zeitlich unkalibriert bleiben muss). Biologisch gesehen wären wir jetzt bei den "Arten". Die nächste Frage ist die nach den Gattungen und Familien. Dies ist genauso wenig trivial wie in der Biologie und mit der gleichen Problemlage behaftet, wenn man nur wie Linne vorgeht :)

Der Vergleich mit der Biologie greift nicht, da Entlehnungen im Wortschatz zwischen entfernt oder gar nicht verwandten Sprachen sehr häufig vorkommen, während es in der Biologie Paarungen keinen gattungs- oder familienübergreifenden Genaustausch gibt.

Es gibt nicht wenige Sprachen, deren Wortschatz etwa zur Hälfte entlehnt ist. Um Entlehntes von Ererbtem unterscheiden zu können (oder zumindest um "neuen" von "altem" Wortschatz trennen zu können), müssen erst einmal lautliche Gesetzmäßigkeiten untersucht werden, dann lassen sich erst verwandtschaftliche Beziehungen feststellen.



Im Sinne einer strengen Kladistik ist die konkrete Abstammung wesentlich, nicht die Ähnlichkeit. Dass z.B. Farsi eine indo-europäische Sprache ist, kann man wohl nur wegen unserer Kenntnis der Vorläufersprache beweisen.
Leider kenne ich mich mit dem Farsi so gut wie gar nicht aus, doch schon beim Blick in den Wikipedia-Artikel finde ich einige Elemente, die genug Ansätze liefern, um im direkten Vergleich mit dem Deutschen (ohne Kenntnis irgendwelcher anderer alter oder neuer indoeuropäischer Sprachen) zumindest

Eigentlich enthält das Farsi genug indo-europäische Elemente, um sogar im 1:1-Vergleich mit dem Deutschen zumindest Ansatzpunkte zu liefern. Die folgende kleine Liste beweist zwar noch keine Verwandtschaft, doch wird man bereits hier zumindest den reinen Zufall nahezu ausschließen:

"pedar" = "Vater"
"madar" = "Mutter"
"baradar" = "Bruder"
"dochtar" = "Tochter"

Eine der oben erwähnten Lautgesetze (indoeuropäisch "p" -> germanisch "f") läßt sich ebenfalls bereits aus den wenigen dort aufgeführten Wörtern im direkten Vergleich zwischen Deutsch und Farsi aufzeigen; neben "pedar"/"Vater" wäre das das Zahlwort "pandsch"/"fünf"

* * *

Ich möchte mir noch den Spaß machen, die sehr genaue Entsprechungen der Verwandtschaftsbezeichnungen zwischen dem modernen Deutsch und dem modernen Farsi zu vergleichen mit den Verwandtschaftsbezeichnungen, die Greenberg und Ruhlen für die "amerindischen " Sprachen zusammenrühren. Sie meinen, man könne die Wörter "T'A'NA = Kind, Geschwister", "T'I'NA = Sohn, Bruder, Knabe" und "T'U'NA = Tochter, Schwester, Mädchen" (selbstverständlich ohne Lautgesetzlichkeit, nur aufgrund vager Ähnlichkeiten) "rekonstruieren".

Bei näherem Hinsehen merkt man, daß sowohl lautlich wie auch semantisch alles mögliche zusammengerührt wird; es sind im "Beweismaterial" fast alle Bezeichnungen vertreten, die irgendwas zur Verwandtschaft oder auch nichts zur Verwandtschaft aussagen, sondern irgendwie für Menschen unterschiedlichsten Alters und Geschlechts verwendet werden. Wörter mit den Bedeutungen "Bruder", "Knabe", "Sohn", "Enkel", "Kind", "Erstgeborenes", "Mädchen", "Tochter", "junger Mann", "Nichte", "männlich" (die Liste ist nicht vollständig) werden wahllos verglichen. Unter den Beispielen für "T'I'NA = Sohn, Bruder, Knabe" findet sich schon mal eine Tochter, andererseits unter den Beispielen für "T'U'NA = Tochter, Schwester, Mädchen" auch mal ein Sohn.

Und lautlich ist man sowieso noch viel großzügiger. Die verglichenen Wörter lauten z. B. "sin", "tzhoeng" oder gar "utsekwa"...

Viel zwangloser würde da z. B. die deutsche "Tante" hineinpassen, oder aus dem Koreanischen "sa-tschon" (Cousin/Cousine) und "tong-saeng" (Geschwister).

Ich habe den Verdacht, daß die Greenberg-Methode noch nicht einmal in der Lage ist, Zufallsähnlichkeiten von nicht-zufälligen Ähnlichkeiten zu unterscheiden.
 
Zurück
Oben