Die Kirche als Bremser des wissenschaftlichen Fortschritts ab 1540

@Sepiola, #89: Das Argument scheint richtig, aber sollen wir uns begnügen mit dem Vorteil, den z.B. Astrologen haben für eine genauere Bestimmung des Horoskops?

Welchen Vorteil hast Du davon, Astrologen und Horoskop in die Diskussion zu werfen?
Das ist doch kein sachliches Argument.
 
Von der Kalenderreform profitieren paradoxerweise auch die Astrologen, die ja gemeinhin nicht als Wegbereiter des wissenschaftlichen Fortschritts gelten. Andererseits gründet die Kalenderreform von 1582 n.Chr. wie die von 46 v.Chr. auf der festen Erde, bei der morgens im Osten die Sonne aufgeht und abends im Westen unter. Dennoch gibt der Gregorianische Kalender auch heute zuverlässig an, zu welcher Zeit sich die Erde wo auf ihrer Umlaufbahn um die Sone befindet.:winke:
 
Ich kann mir vorstellen, dass eine Kalenderreform für die betroffene Generation hinsichtlich ihrer Alltags-Geschäfte immer etwas unbequem ist. Immerhin verschob sich das Kalenderjahr in unserem Fall um zehn Tage gegen das natürliche Jahr. Das bedeutete eine Umstellung für jene Menschen. Für uns Nachfolgenden ist es natürlich etwas Begrüssenswertes, dass Sonne u. Kalender im Gleichschritt gehen.
Nun reformierte die Kirche den Julianischen Kalender ja in erster Linie nicht wegen einer Vorliebe für astronomische Erkenntnisse über die Länge des Sonnenjahres, sondern m. W. in erster Linie, um die Frühlingstagundnachtgleiche wieder auf das Datum zu bekommen, auf welches sie um 325 n. Chr., zur Zeit des Konzils von Nicaea, gefallen war; damit das bewegliche Osterfest wieder im Einklang mit den von jenem Konzil geforderten Faktoren bestimmt werden konnte. Ich wollte damit nur sagen: Die Kalenderreform wurde nicht um der Wissenschaftlichkeit willen umgesetzt, aber man betrieb Wissenschaft und vertraute dieser, um die Reform umsetzen zu können. Die Astronomie war in diesem Fall für die Kirche Mittel, nicht Zweck. Aber was ich damit jetzt eigentlich sagen wollte:grübel:, weiß ich nicht:).
 
Zu dem ersten Teil Deiner „Zusammenfassung“, ein paar Anmerkungen:

Ich möchte noch einmal die bisherige Diskussion zusammenfassen: Bis etwa 1480 n.Chr. entsprach das anschauliche Weltbild dem Glauben. Der Taghimmel leuchtend blau mit dahin ziehenden weißen Wolken. Bei bedecktem Himmel Lichtstrahlen, welche die Wolkendecke durchdringen, aber erkennbar von einer Stelle in der Wolke ausgehen. Der Himmel als Thron des Herrn ist für jeden sichtbar [...]
Der Himmel umgibt von allen Seiten die Erde, aber bis zu welcher Höhe? Heute wissen wir, bloß bis ca. 20 km. Bei einem Globus von 1 Meter Durchmesser sind dies nur 2 Millimeter. Für einen Sitz Gottes ist das wenig, allzu wenig.
Schon in früheren Beiträgen hast Du bei den Christen den Glauben an einen ziemlich körperlichen und örtlich lokalisierbaren Gott vorausgesetzt. Ich dachte, das sollte lediglich überspitzt sein. Aber wieder sagst Du, die Christen hätten die Erdatmosphäre bzw. die Wolkenschicht als den Sitz Gottes aufgefasst und ein Problem damit haben müssen, dass ihr Umfang so gering ist. Das wird der damaligen Vorstellung von Gott m. E. nicht gerecht, denn man hat ihn als Geist, als transzendent aufgefasst, der seiner Schöpfung, dem Kosmos, eben nicht innewohnte. Der „Himmel“ als Wohnung Gottes ist auch damals m. E. nicht als sichtbarer Himmel gemeint gewesen, nicht als der Himmel am Tage mit Blau und Wolken und nicht als der Nachthimmel mit seinen Sternen, sondern als eine transzendente Dimension (von deren Größe und Herrlichkeit der sichtbare Himmel nach damaligem Verständnis maximal eine vage Ahnung vermittelt haben dürfte).
Darum dürfte jene nur 2mm hohe Atmosphären-Schicht auf einem 1-Meter-Durchmesser-Globus die Kirche und ihre Schäfchen damals nicht gerade in Verzweiflung gestürzt haben. Man muss die Damaligen nicht geistig plumper und unreflektierter machen, als sie es waren.

Unter dem Himmel eine flache Erde, von oben einsehbar. Andere Modelle von Himmel und Erde werden von Gelehrten diskutiert, aber weit weg vom Bürger. Dann zu Beginn der Entdeckungsfahrten wird es offenkundig: Die Erde ist ein geschlossener Körper, sicher eine große Kugel. Auf handliche Körper aus Pappe werden nun die Landkarten geklebt. Hier kann der Bürger nachvollziehen, welcher Seeweg nach Indien nun der kürzere ist, um die Südspitze Afrikas herum oder quer über den Ozean nach Westen [...]
Die Kirchen stellen sich schützend vor ihre Gemeinden. Nicht der gesamte Fortschritt wird verteufelt, wohl aber das neue Weltbild. Je offensiver sich dessen Vertreter äußern, desto härter die Reaktion. Erst allmählich verliert das neue Weltbild seine Schrecken, und der Widerstand läßt nach.
Das hört sich so an, als sei der Kirche die Kugelgestalt der Erde neu und gefährlich vorgekommen. Dabei war doch die Kugelgestalt der Erde keinesfalls ein Problem für die Kirche, sondern die Frage, ob sich alles um die Erdkugel oder ob sich die Erdkugel mit allem anderen zusammen um die Sonne bewegt. Heliozentrisches Weltbild – damit hatte die Kirche ihre Probleme. Kopernikus oder Ptolemäus war die Streitfrage, nicht die Kugelgestalt der Erde.
(Ich denke, Dir ist das klar. Aber Du hast Dich dann sehr missverständlich ausgedrückt).

Verstaubt ein Globus in seinem Regal, fragt sich der Bürger: Sind auch wir solche Stäubchen? Kümmert sich Gott um uns, ist er fern? Erreichen unsere Gebete ihn überhaupt?
Dass der Mensch vor Gott nichts weiter als ein Staubkörnchen ist (vgl. z. B. Psalm 103, 14) und dass gar die Völker der Erde vor Gott nur wie ein Tropfen am Eimer u. wie Staub auf der Waagschale sind (siehe Jes. 40, 15), wusste man aus der Bibel. Der Clou war ja gerade, dass Gott den Menschen trotz seiner Niedrigkeit als wertvoll ansah und ihn so zu etwas machte. Da dürfte ein verstaubter Globus im Regal den damaligen Betrachter nicht so sehr eine ganz neue Ahnung in der Brust aufsteigen lassen haben, die ihn in seinem Glauben erschütterte. Der verstaubte Globus wäre doch ein schönes Sinnbild jener biblischen Aussagen gewesen.
(Natürlich kann man die Medaille auch wenden und mit jenen biblischen u. theologischen Aussagen argumentieren, in welchen der Mensch sinngemäß als „Krone der Schöpfung“ betrachtet wird. Aber um in einem verstaubten Globus ein Argument gegen diese zu erblicken, scheint es mir doch einer sehr phantasievollen Transferleistung zu bedürfen.)


Ich fand also die implizierte Gleichsetzung von Kugelgestalt der Erde und neuem Weltbild, außerdem den sichtbaren Himmel als Wohnort Gottes sowie das Bild des verstaubten Globus' als Zweifelsbringer nicht gerade glücklich gewählt. Allerdings will ich damit nicht behaupten, dass Deine hinter diesen Beispielen stehenden Grundüberlegungen falsch sein müssen.
Solltest Du z. B. jenen Globus im Regal gewissermaßen als Sinnbild einer sich auch im Bürgertum verbreitenden naturwissenschaftlichen Erklärung der Welt begreifen, mag da viel daran sein. Diese naturwissenschaftliche Welterklärung mag allmählich für viele den Schöpfer- und Lenker-Gott entbehrlich gemacht und einen sich um den Menschen kümmernden Gott zweifelhaft gemacht haben; somit mag das Bedürfnis nach Gebet usw. abgenommen haben. Das wäre dann eine Tendenz, die es den Kirchen u. ihren Mitgliedern erschwert haben müsste, der „neuen Wissenschaftlichkeit“ geneigt zu sein (so man diese Tendenz auf zunehmende Naturwissenschaftlichkeit zurückführte). Meine vielen „mag sein“, „lässt sich vermuten“ und Konjunktive in diesem Abschnitt zeigen allerdings deutlich, dass mir letztlich die Kenntnis entsprechender Quellen sowie generelles Wissen über solche komplexen Entwicklungen i. d. Frühen Neuzeit fehlen, weshalb ich es hiermit mal lieber gut sein lasse.
 
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Das hört sich so an, als sei der Kirche die Kugelgestalt der Erde neu und gefährlich vorgekommen. Dabei war doch die Kugelgestalt der Erde keinesfalls ein Problem für die Kirche, sondern die Frage, ob sich alles um die Erdkugel oder ob sich die Erdkugel mit allem anderen zusammen um die Sonne bewegt. Heliozentrisches Weltbild – damit hatte die Kirche ihre Probleme. Kopernikus oder Ptolemäus war die Streitfrage, nicht die Kugelgestalt der Erde.
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Das ist zutreffend beschrieben.
Die Kugelgestalt der Erde stand ausser Frage.

Ein erhebliches Problem des abgelehnten heliozentrischen Weltbildes ergibt sich aus dessen Konsequenzen bezüglich der Eigenbewegung der Erde und deren Geschwindigkeiten.

Aristoteles kannte bereits die Kugelgestalt und führte Nachweise dieser.
Erastosthenes berechnete den Durchmesser zutreffend mit nur geringer Abweichung.
Wenn aber die Erde einen Umfang von ca. 40.000 km hat und sich einmal innerhalb von 24 Stunden um sich selbst dreht, dann sausst ein Bewohner des Äquators mit rund 1700 km/h durch den Raum.
Das heliozentrische Weltbild setzt ja eine Erdrotation mit dieser unvermeidlich vorhandenen Erscheinung voraus.

Das wiederum widersprach ja jeder Erfahrung (und im Übrigen auch der aristoteleschen Vorstellung der Ursachen der Bewegung im Raum).
1. Damit das heliozentrische Weltbild korrekt sein kann, muss sich die Erde nicht nur um ihre eigene Achse drehen, sondern auch mit hoher Geschwindigkeit durch das Universum bewegen. Dies wirft gleich zwei Fragen auf: Zum einen ist zunächst nicht klar, warum wir die notwendige rasche Bewegung nicht spüren können, zum anderen ist zu klären, wie diese Bewegung aufrecht erhalten werden kann.

Im Rahmen des heliozentrischen Weltbildes wurde zur Lösung dieser Probleme eine neue Mechanik vorgeschlagen, die eine Hypothese verwendet, die als “Relativität” bezeichnet werden kann. Darunter ist zu verstehen, dass eine Bewegung nur relativ zu einer anderen Bewegung überhaupt bemerkbar sein soll, dass aber eine gleichförmige Bewegung selbst nicht zu detektieren sein soll. Hieraus folgt auch, dass eine gleichförmige Bewegung ohne den Einfluss äußerer Kräfte nicht beendet werden kann, sondern für alle Zeit anhält.

Natürlich steht diese Hypothese in klarem Gegensatz zu unserer Alltagserfahrung und unzähligen Beobachtungen. Irdische Bewegungen können über einen mehr oder weniger großen Zeitraum anhalten, kommen aber ohne äußeren Anstoß immer zum Erliegen, wenn der zur Bewegung notwendige Impetus aufgezehrt ist. Wie wir weiter unten noch näher beleuchten werden, ist dies auch im Rahmen der Elementarlehre unmittelbar verständlich. Die Hypothese der Relativität steht hierzu in klarem Widerspruch.
“Eine kritische Analyse der heliozentrischen Kosmologie” – Hier wohnen Drachen

Nun hatte die katholische Kirche auch damit noch kein Problem, sofern derartige Überlegungen als reine Abstraktionen verstanden wurden.
Das kopernikanischen System wurde aber zugleich zu einer Herausforderung für das durch die katholische Kirche in ihr Dogma aufgenommene geozentrische Weltbild. In diesem Weltbild steht der Mensch auf einer ruhenden Erde im Zentrum des Kosmos, hier spielen sich Geburt und Tod, Werden und Vergehen ab, während im Himmel andere Gesetze walten; hier kreisen in ewiger Bewegung die Gestirne. Dieses Weltbild war im Übrigen auch im Einklang mit den bewährten physikalischen Vorstellungen und Erfahrungen, die ja keinen Hinweis auf eine Bewegung der Erde enthielten, sondern eine solche Hypothese als unplausibel erscheinen ließen. Durch die von der Kirche übernommene aristotelische Naturphilosophie waren diese beiden Herausforderungen, die theologische und die physikalische, eng miteinander verknüpft. Doch solange das heliozentrische System von Kopernikus vor allem als Rechenmodell für die Bewältigung astronomischer Probleme gesehen werden konnte, und damit in seiner Wirkung auf eine bestimmte spezialisierte Wissenssphäre beschränkt war, blieb die Sprengkraft des neuen Systems verborgen
Galilei und die Anderen

Es lässt sich hier wohl keine grundsätzlich wissenschaftsfeindliche und fundamentalistische Haltung herausdestillieren.
 
Von der Kalenderreform profitieren paradoxerweise auch die Astrologen
Welchen Profit zogen die Astrologen des 16. Jahrhunderts von der Kalenderreform?

Andererseits gründet die Kalenderreform von 1582 n.Chr. wie die von 46 v.Chr. auf der festen Erde

Wer sagt, dass die Kalenderreform von 1582 "auf der festen Erde gründete"?

Bei Wikipedia lese ich etwas anderes:
Gleichwohl bildeten Kopernikus’ Werk De revolutionibus orbium coelestium („Von den Umdrehungen der Himmelskörper“) sowie die prutenischen Tafeln von Erasmus Reinhold die Basis für die schließlich von Papst Gregor XIII. dekretierte Reform.
Gregorianischer Kalender ? Wikipedia
 
@Sepiola #97: Der Profit der Astrologen: Glauben wir ihnen, so bestimmt die Stellung der Planeten bei unserer Geburt unseren Charakter. Das genaue Datum übereinstimmend mit der Planetenstellung liefert nun einmal ein zuverlässiger Kalender. Bei wichtigen Entscheidungen kann die aktuelle Planetenstellung helfen. Jedoch "In Deiner Brust sind Deines Schicksals Sterne", so der Astrologe Seni zum Feldherrn Wallenstein (F. Schiller).
Die feste Erde bildete nun einmal die Grundhaltung der Kirchen gegenüber dem neuen Weltbild. Ohne Grund wäre Galilei nicht verfolgt worden, wäre auch nicht das Buch des Kopernikus auf dem Index gelandet.
 
@buschhons #94 und hatl #95: Bei diesen Ausführungen wird angenommen, die wissenschaftlichen Kenntnisse und Überlegungen seien damals Allgemeingut gewesen. Aber - wer konnte schon lesen? Wer verstand dazu Bücher in Latein geschrieben? Heute mit allgemeiner Schulpflicht hat jeder Bürger einen Grundsockel an Wissen und Verständnis, durch TV aktuell erweitert. Um 1600 n.Chr. haben wir auf der einen Seite den Papst, der die Forderung nach einer Folterung Galileis zurückweist, seines früheren hochverehrten Lehrers (B. Brecht, "Galilei". Auf der anderen Seite haben wir das hölzerne Eselchen auf Rädern, eine Jesusstatue auf dem Rücken, das am Palmsonntag an einer Schnur durch die Kirche gezogen wird, irgendwo zwischen Religion und Volksbelustigung.
 
@ El Quijote #96: ..."dass er diesbezügliche Hinweise nicht zur Kenntnis nimmt", nämlich das Alter des Holzschnitts in Flammarions Buch von 1888. Auch mein Kenntnisstand ist, diese beeindruckende Darstellung der festen Erde und dem Pilger, der die Wahrheit dahinter sieht, stammt von Flammarion bzw. ist in seinem Auftrag entstanden. Ich hatte das in #55 erwähnt, aber das konnte leicht überlesen werden.
 
@Sepiola #97: Der Profit der Astrologen: Glauben wir ihnen, so bestimmt die Stellung der Planeten bei unserer Geburt unseren Charakter. Das genaue Datum übereinstimmend mit der Planetenstellung liefert nun einmal ein zuverlässiger Kalender.
Hätte ein im astrologischen Sinn "zuverlässiger" Kalender nicht das siderische Jahr berücksichtigen müssen? Der Gregorianische Kalender basiert auf dem tropischen Jahr.

Die feste Erde bildete nun einmal die Grundhaltung der Kirchen gegenüber dem neuen Weltbild.
Behauptet hast Du, dass die Kalenderreform von 1582 "auf der festen Erde gründete".
Für diese Behauptung sehe ich keinen Beleg.

Ohne Grund wäre Galilei nicht verfolgt worden, wäre auch nicht das Buch des Kopernikus auf dem Index gelandet.
Das Buch des Kopernikus war 1582 noch nicht auf dem Index gelandet. Dazu kam es erst viel später im Zusammenhang mit dem Galileo-Prozess.
Vielleicht lohnt es sich, sich einmal mit den Gründen für diesen Prozess zu beschäftigen.
 
@buschhons #94 und hatl #95: Bei diesen Ausführungen wird angenommen, die wissenschaftlichen Kenntnisse und Überlegungen seien damals Allgemeingut gewesen. Aber - wer konnte schon lesen? Wer verstand dazu Bücher in Latein geschrieben? Heute mit allgemeiner Schulpflicht hat jeder Bürger einen Grundsockel an Wissen und Verständnis, durch TV aktuell erweitert. Um 1600 n.Chr. haben wir auf der einen Seite den Papst, der die Forderung nach einer Folterung Galileis zurückweist, seines früheren hochverehrten Lehrers (B. Brecht, "Galilei". Auf der anderen Seite haben wir das hölzerne Eselchen auf Rädern, eine Jesusstatue auf dem Rücken, das am Palmsonntag an einer Schnur durch die Kirche gezogen wird, irgendwo zwischen Religion und Volksbelustigung.

Die Kugelgestalt der Erde war seit der Antike Lehrbuchwissen. Aber ok, wenn Du davon ausgehen möchtest, dass sich dies um 1600 beim einfachen Volk in den 'germanischen Sümpfen' und sonst wo in der 'Provinz' noch nicht herumgesprochen hat, sondern dass viele einfache Menschen stattdessen eine Erdscheibe annahmen, kann ich das nicht widerlegen. Mag so gewesen sein, dass der ein oder andere sich erst im Zuge des Vernehmens vom neuen Kopernikus-Kepler-Galilei-Weltbild bewusst machte, dass ja die Erde gar keine Scheibe, sondern ein Ball war. Hätte ich in meinem Leben nie was von der Gestalt der Erde gehört oder gelesen, würde ich vermutlich auch davon ausgehen, dass ich auf einer ebenen Fläche lebe, sonst würde ich ja runter fallen. Es wäre eigentlich gar nicht uninteressant nach Alltags-Quellen zu stöbern, die in diesem Punkte etwas über das Weltbild der Bauern und der sonstigen einfachen Leute zu erkennen geben. Wie informiert waren sie?* Es ist ja an sich kein schlechter Hinweis, nicht immer das gedruckte Wissen der 'Bildungselite' zum Maßstab bei der Beurteilung des damaligen Durchschnitts-Wissens zu machen.

Aber wie hängt das Deiner Meinung nach nun mit der Rolle der Kirche(n) als Wissenschafts-Bremser zusammen? Hat die Kirche in den Jahrhunderten zuvor nicht genug getan, um den einfachen Leuten in Europa Allgemeinbildung zu verschaffen, oder worauf willst Du hinaus?

* @all: Damit haben sich doch Historiker bestimmt schon beschäftigt. Hat jemand einen Literaturtipp?
 
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Die Kugelgestalt der Erde war seit der Antike Lehrbuchwissen. Aber ok, wenn Du davon ausgehen möchtest, dass sich dies um 1600 beim einfachen Volk in den 'germanischen Sümpfen' und sonst wo in der 'Provinz' noch nicht herumgesprochen hat, sondern dass viele einfache Menschen stattdessen eine Erdscheibe annahmen, kann ich das nicht widerlegen.

Das lässt sich leicht widerlegen.

Wenn die einfachen Leute in die Kirche gingen, konnten sie in Predigten von der Kugelgestalt der Erde erfahren.

Bei Berthold von Regensburg lesen wir so ein einer Predigt aus dem Jahre 1272:
Wan diu erde ist rehte geschaffen alse ein bal. Swaz daz firmament begriffen hat - daz ist der himel, den wir da sehen, da die sternen ane stent - , swaz der umbe sich begriffen hat, daz ist geschaffen als ein ei. Diu uzer schale daz ist der himel den wir da sehen. Daz wize al umbe den tottern daz sind die lüfte. So ist der totter enmitten drinne, daz ist diu erde.
zit. nach:
Reinhard Krüger
moles globosa, globus terrae und arenosus globus in Spätantike und Mittelalter - Eine Kritik des Mythos von der Erdscheibe
Berlin 2012
S. 175

Und bestimmt haben auch die einfachen Leute im Mittelalter irgendwann mal eine Abbildung des Kaisers gesehen, mit dem Reichsapfel in der Hand.
Der symbolisiert die Erde.
 
Selbst wenn man von der Diskussion um die Autorschaft der Berthold zugeschriebenen Predigten absieht ( Berthold von Regensburg ? Wikipedia ), werden wenige einfache Leute eine davon zu hören bekommen haben.
Ich wage die Behauptung, dass die Frage nach der Gestalt der Erde, wie sie hier diskutiert wird, buchstäblich jenseits des Horizonts der meisten Menschen des Mittelalters war. Gestalt der Erde waren für sie die Berge, Täler, Gewasser etc. um sie herum, guter oder schlechter Ackerboden.

Womit ich nicht bestreiten will, dass die meisten Leute, für die es ein "Problem" war, die Sachlage schon einigermaßen richtig gesehen haben.
 
Zuletzt bearbeitet:
@ Liborius: Danke für den Link in #104, der ja auch weitere Literatur zum Thema anführt.:winke:

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Das lässt sich leicht widerlegen.

Wenn die einfachen Leute in die Kirche gingen, konnten sie in Predigten von der Kugelgestalt der Erde erfahren.
[...]
Und bestimmt haben auch die einfachen Leute im Mittelalter irgendwann mal eine Abbildung des Kaisers gesehen, mit dem Reichsapfel in der Hand.
Der symbolisiert die Erde.

Predigten auszuwerten ist schon mal eine blendende Idee, weil man von denen im Gegensatz zu Büchern weiß, dass sie den Weg auch zur einfachen Bevölkerung gefunden haben. Man könnte ansonsten z. B. noch nach Abbildungen der Erde in den Armenbibeln oder auf Kirchenfenstern suchen (z. B. im Zusammenhang mit der Erschaffung der Welt oder mit Christus als Pantokrator oder so). Das sind ja alles "Medien", die auch die einfachen Leute erreicht haben.
 
@ Sepiola #101: Zur Bedeutung der Astrologie heute: Hobby-Astronomen schätzen das aus Frankreich stammende Taschen-Planetarium "Planetica". Dieses zeigt unser Sonnensystem als Scheibe von oben, darüber eine drehbare Plastik-Abdeckung zum Einstellen des Datums. Für den Weihnachtsabend 2014 sehen wir darauf im Südosten den Planeten Jupiter, im Nordosten den Mars. Jedoch, obwohl heute gefertigt, läßt sich das Datum bis Jan 1940 zurückstellen - zur Anfertigung eines Geburts-Horoskops (!).
 
@ Sepiola #101: Zur Bedeutung der Astrologie heute: Hobby-Astronomen schätzen das aus Frankreich stammende Taschen-Planetarium "Planetica". Dieses zeigt unser Sonnensystem als Scheibe von oben, darüber eine drehbare Plastik-Abdeckung zum Einstellen des Datums. Für den Weihnachtsabend 2014 sehen wir darauf im Südosten den Planeten Jupiter, im Nordosten den Mars. Jedoch, obwohl heute gefertigt, läßt sich das Datum bis Jan 1940 zurückstellen - zur Anfertigung eines Geburts-Horoskops (!).

Wenn die Astrologen des 16. Jhs. mit einigermaßen vergleichbaren Hilfs-Modellen arbeiteten, konnten sie diese aber für die Geburtskonstellationen von Personen, die nach dem Oktober 1582 geboren worden sind, nicht mehr gebrauchen, oder? Die mittels jener alten Modelle angezeigten Konstellationen müssten um 10 Tage ungenau geworden sein?
 
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