Historische "Damsels in distress"

Gallienus

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Hallo ihr Lieben! :winke:

Ich lese gerade eine Biografie über Maria Stuart und finde es faszinierend, dass die schöne Schottin immer wieder Männer zu ihrer Rettung inspirierte.

In Gefangenschaft befreit sie ein einfacher Diener aus der schottischen Burg Loch Leven in dem er sie unter einem Mantel versteckt und über einen See in Sicherheit rudert. In England erheben sich die katholischen Adligen um sie auf den Thron zu setzen. Während ihrer langen Gefangenschaft, stehen Männer aus England und dem ganzen katholischen Europa Schlange um sie zu erreten, meist indem man Elisabeth I. ermordet. Sogar Schiller erschafft später mit dem Mortimer eine romantische Figur die ausgezogen ist die eingekerkerte Maria in die Freiheit zu führen.

Was sahen all die Männer in ihr? Viele handelten sicher aus machtpolitischen (vielleicht auch religiösen?) Motiven, aber für manche muss sie ja gerade der Urtyp einer tragischen Gestalt gewesen sein, die schöne Köngin die von rebellischen Untertanen und später von der eigenen Verwandten eingekerkert wird. Eine Jungfrau in Nöten die unverschuldet in Gefangenschaft gerriet. Historisch ist das sicher nicht so haltbar, schließlich war sie weder Jungfrau, noch ganz unverschuldet in Gefangenschaft, sie war in die Ermordung ihres zweiten Gatten, Lord Darnleys, involviert und war wohl Teil so mancher Verschwörung gegen Elisabeth.

Meine Frage ist jetzt: Gibt es ausser Mary Stuart noch weitere historische Personen, die "edle Recken" (deswegen auch zum Thema Rittertum und nicht Neuzeit) dazu inspirierten sie aus Nöten zu erreten?
 
Ich will dir wirklich nicht zu nahe treten, aber es ist gerade für mich zu verlockend so zu antworten: Mir scheint deine Frage ist etwas zu sehr vom täglichen Anblick des Märchenschlosses inspiriert. :friends:
 
Hallo Liborius,

gut möglich, dass das Schloss da abfärbt, aber vielleicht muss ich meine Frage anders formulieren. Mir geht es nicht darum romantische Vorstellungen in die Geschichte zu projezieren, sondern vielmehr darum zu untersuchen, ob es historische Persönlichkeiten gibt, bei denen (auf den ersten Blick) populäre Stereotype zutreffen.

Es gibt ja eine extreme Diskrepanz zwischen der realen Geschichte und populären Mythen und Vorstellungen. In der Vorstellung der breiten Masse finden wir ein von Archetypen durchzogenes Geschichtsbild, voll mit märchenhaften Charakterzügen. Am klassischten sind da wohl: Der gute König, die holde Maid und der böse Schurke.

Selbst die ältere Geschichtsschreibung war nicht ganz frei von dieser Stereotypisierung historischer Persönlichkeiten: Nero war wahnsinnig, Richard Löwenherz ein edler Ritter, Barbarossa ein weiser König, Johann Ohneland ("Prinz John") ein Schwächling. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.

Die moderne Geschichtsschreibung sieht das ja bekanntlich viel differenzierter, man nimmt Rücksicht auf reale Gegebenheiten, versucht moderne Ansichten und Wünsche aus dem Geschichtsbild auszuklammern und auf eine eindeutig positive oder negative Be- oder Verurteilung zu verzichten.

Interessant ist für mich eben die Frage, ob es denn trotzdem reale Vorbilder für romantisch verklärte Geschichtsbilder gibt oder ob diese ein reines Fantasieprodukt späterer Epochen sind. Um das an noch einem Beispiel festzumachen: Die Italienpolitik Ottos I. bei der er sich die Krone Italiens (oder der Langobarden) sichert. Historisch gesehen haben wir hier einen Konflikt um die Macht in Oberitalien zwischen Kaiser Otto und König Berengar II der durch den militärischen Sieg Ottos und die Hochzeit mit Adelheid der Witwe König Lothars von Italien entschieden wird. Man könnte die Ereignisse aber auch auf eine sagenhafte Ebene reduzieren: Adelheid, die holde Maid wird vom Schurken Berengar entführt und dazu bedrängt ihn zu heiraten, aber es kommt Otto unser edler Held und guter König der sie befreit und heiratet. Ein klassisches Märchen also, fallen Euch noch andere (komplexe) Ereignisse ein, die sich zu Märchen umdeuten ließen?
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich weiß nicht so recht, ob das etwas für Dich sein könnte:
Honoria, die Schwester des weströmischen Kaisers Valentinian III., die zu einem Leben in Keuschheit gezwungen wurde, ließ sich trotzdem mit einem Kämmerer ein. Als die Affäre aufflog, wurde sie nach Konstantinopel verbannt, wo sie erst recht nonnenhaft leben musste. Als sie das nicht mehr ertrug, soll sie heimlich durch einen Eunuchen dem Hunnenkönig Attila einen Ring geschickt und ihm ihre Hand angeboten haben, wenn er sie befreit und heiratet. Attila nahm das tatsächlich als Vorwand, um von Valentinian Honoria und das halbe Reich als Mitgift zu fordern, und fiel ins Reich ein. Er bekam sie allerdings trotzdem nicht und wurde auf den Katalaunischen Feldern geschlagen.

Etwas anderes wäre vielleicht die Geschichte von Rosamunde: Rosamunde (Gepiden) ? Wikipedia
 
Was wäre eigentlich mit der Habsburgerin Anna von Österreich (Mutter von König Ludwig XIV.). Im Roman "Die drei Musketieren" von Alexandre Dumas d. Ä. dürfen D'Artagnan & Co. im wahrsten Sinn des Wortes der (keineswegs nur positiv besetzte), aber natürlich wunderschönen Königin sozusagen den Hals retten.
 
Was vielleicht in die gleiche Richtung gehen könnte, ist die (allerdings legendäre) Geschichte des Grafen Julian von Ceuta, dessen Tochter vom Gotenkönig Roderich geschändet wurde und der sie und sich dadurch rächte, daß er die Araber ins Land rief...
 
Ich finde deine Frage falsch formuliert, weil sie davon ausgeht, dass es "reale Vorbilder" für eine narrative Konstellation gegeben hat - sprich, dass die narrative Konstellation der "damsell in distress" sich aus konkreten, "vor-narrativen" historischen Szenarien abgeleitet hat, anstatt dass sich beides gegenseitig bedingt.

Die damsell in distress kann es nur geben, wenn Frauen keinen politischen Handlungsspielraum haben außer den, Männer zu ihren Gunsten zu mobilisieren (und sich dann wohl oder übel darauf verlassen müssen, dass die Männer das auch durchziehen statt es sich anders zu überlegen). Diese Mobilisierung kann legitim sein oder auch nicht - und die Frage, ob dieser begrenzte Handlungsspielraum von Frauen nicht an sich schon das Problem ist, geht dann auch schon in eine grundsätzliche Diskussion übers Patriarchat über. Die damsell in distress ist in erster Linie ein Topos, über den sich Geschlechterverhältnisse im Patriarchat aktualisieren lassen. An dieser Tatsache kommt man nicht vorbei.

In diesem Sinne ist wahrscheinlich, dass die Situation realer Personen einfach für Zeitgenossen und spätere Interpreten mehr Sinn gemacht hat, wenn man sie nach einem wohlbekannten narrativen Muster formulieren konnte - und das hilft insofern, dass man dann zB gut festlegen kann, auf welcher Seite eines Konflikts man sich stellen und damit moralisch richtig handeln kann.

Das Buch "Die drei Musketiere", das hier schon erwähnt wurde, bietet ein gutes Beispiel für das Problem historischer Interpretation solcher Vorkommnisse. Im Buch gibt's ja nicht nur die "wahre" damsell in distress, die Königin, sondern auch eine strategische damsell in distress, Lady de Winter, die das Konzept der wehrlosen, unschuldigen Frau gezielt benutzt, um mit Hilfe ihres Wärters aus dem Gefängnis auszubrechen und den Wärter sogar dazu bringt, ihr zuliebe einen Mord zu begehen. Der Wärter denkt, dieser Mann den er tötet sei derjenige, der Lady de Winter ruiniert hat - in Wahrheit ist er aber derjenige, für den sie selbst einen Mordauftrag bekommen hat, und er ist nur ihr Werkzeug, das etwas Schreckliches tut weil er fälschlicherweise glaubt, etwas Gutes zu tun. Die Musketiere selbst sind im Kontrast dazu das Werkzeug der Königin. Der Unterschied zwischen Wärter und Musketieren ist, dass ersterer einer Betrügerin auf den Leim geht und letztere sich heldenhafterweise von einer Frau für ihre legitimen Interessen einspannen lassen. Ihr Heldentum speist sich daraus, dass sie eine wahre von einer falschen damsell in distress zu unterscheiden wissen. Dass im Buch zwischen genuinen und falschen damsells in distress unterschieden wird, zeigt sehr deutlich die inhärente Konstruiertheit dieser Konstellation.

Das allgemeine Phänomen der narrativen Konstruiertheit von Geschichte wurde übrigens auch schon sehr schlüssig theoretisiert. Lies mal Hayden White's "Metahistory" (heißt auch so in der deutschen Übersetzung), das hilft dir bei der Frage garantiert weiter.
 
Nur eine andere Idee zu dieser Fragestellung:
Kennt hier jemand ein Beispiel, wo eine historische männliche Figur als "damsel in distress" bzw. "verfolgte Unschuld" gesehen werden könnte?
 
Nur eine andere Idee zu dieser Fragestellung:
Kennt hier jemand ein Beispiel, wo eine historische männliche Figur als "damsel in distress" bzw. "verfolgte Unschuld" gesehen werden könnte?

Leider ist mir bisher noch keine männliche "historische" "damsel in distress" bzw. "verfolgte Unschuld" untergekommen. Offensichtlich scheint diese Konstellation wirklich nur bei Frauen möglich. Oder gibt es doch die sogenannte Ausnahme?:grübel:
 
Vielleicht passt die Geschichte vom Fürst Necheljudow und Katja Maslowa zu dieser Problematik.

L. Tolstoi bekam im Sommer 1887 in Jasnaja Poljana von einem Juristen eine Gerichtsakte.
Diese veranlasste ihn einen sehr bewegenden Roman – m.M. nach einer seiner Besten – zu schreiben.
Einen Roman, der einen nicht so schnell wieder loslässt.

Fürst Necheljudow fühlt sich schuldig am Schicksal dieser Frau, gibt alles auf und folgt der verurteilten Katja in die Verbannung nach Sibirien.
 
Nur eine andere Idee zu dieser Fragestellung:
Kennt hier jemand ein Beispiel, wo eine historische männliche Figur als "damsel in distress" bzw. "verfolgte Unschuld" gesehen werden könnte?

Vielleicht Stede Bonnett - viel Distress durch feidliche Übernahme seiner Crew durch Blackbeard, der Bonnett fortan in seine Kajüte zum Lesen verbannte ehe er ihn kaltherzig seinem Schicksal überließ.

Ansonsten... Marquis de Sade? Kam auch ständig in Distress und wurde dann von irgendwem in letzter Minute wieder errettet.
 
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