Ich habe erst heute JP´s Beitrag entdeckt.
Wenn das gängige Modell der Abfassungszeit von Paulusbriefen und kanonischen Evangelien falsch sein soll und auch außerchristliche Texte als Fälschungen und spätere Änderungen konstruiert werden müssen, um dieses neue radikalkritische Modell zu ermöglichen, was erreichen diese Umstellungen am Ende? Welche verbliebenen Probleme werden gelöst? Welche offenen Fragen werden beantwortet? Inwiefern ist dieses Modell überlegen?
Diese Fragen müssten in speziellen Kontexten beantwortet werden, auf die wir vielleicht noch zurückkommen. Ich äußere mich im folgenden eher allgemein, um zumindest die Basics abzuklären.
Die radikalkritische These von der Nichtexistenz des Jesus wurde seit der 2. Hälfte des 19. Jh. von hauptsächlich niederländischen Theologen, alles hochgelehrte Professoren, ausgearbeitet und verbreitet. Schon von daher ist es bedenklich, dass von fachlichen Amateuren/Laien versucht wird, diese Strömung als unseriös, weil angeblich in "ideologischen Weltbildern" befangen, abzustempeln,
ohne die Texte jener Theologen auch nur im Ansatz zu kennen. Der Verdacht liegt nahe, dass besagte Skeptiker ihr eigenes Weltbild durch die Radikalkritik bedroht sehen und deshalb versuchen, die kritische Quelleninterpretation als "ideologisch" zu disqualifizieren. Psychoanalytisch nennt man das eine ´Projektion´.
Ich empfehle jedenfalls, die Homepage von Dr. Detering, dem aktuell aktivsten Exponenten der Radikalkritik, genauer zu studieren, dort findest du viele Texte radikalkritischer Klassiker, die dir deine Fragen besser beantworten können als ich. Ich gehe dennoch, da ich schon einmal hier bin, auf deine weiteren Bemerkungen ein.
Die Beantwortung ist aus dem Grunde wichtig, weil viele (und nicht nur) hier glauben, dass die Radikalkritik nur 3 Ziele verfolgt:
1. Selbstbeweihräucherung
2. Kirchenkritik
3. Umsatz?
Punkt 2 trifft logischerweise zu, die anderen Punkte sind so lächerlich, dass sie keinen weiteren Kommentar verdienen.
"Kirchenkritik" ist hier zudem kein exklusiver Selbstzweck, sondern eine Begleiterscheinung der Quellenkritik. Es geht der Radikalkritik in erster Linie um
Quellenkritik sowie um Kritik am leichtfertigen Umgang von Kirchenvertretern und kirchlichen Institutionen mit den Quellen.
Ich bin selbst davon überzeugt, dass die frühe Geschichte der Kirche von vielen Seiten gefälscht wurde und dass die Version, die heute von den meisten akzeptiert wird, in erster Linie die Fälschungen der rechtgläubigen Kirche repräsentiert. Das Zentrale bei der Aufarbeitung muss aber das Motiv bleiben. Wenn ich eine Lüge aufdecken will, muss ich
1. die Wahrheit darstellen und plausibel begründen
2. das Motiv für die Lüge herausstellen
können.
Also: Was genau ist die Wahrheit und warum und warum wurde sie gefälscht?
Die von dir präsentierte Logik stimmt nicht ganz.
1) Das Aufdecken einer Lüge setzt nicht voraus, dass das Motiv der Lüge bekannt ist.
2) Zudem wird der Begriff "Lüge" von dir ins Spiel gebracht, von der Radikalkritik wird er aber nicht verwendet, da er in diesem Kontext zu moralisierend bzw. zu banal ist. Die Radikalkritik behauptet auch nicht, was du ihr hier irrtümlich unterstellst, zu
wissen, dass Jesus nie gelebt hat. Sie äußert darüber nur
sehr dezidierte Zweifel und begründet diese. Ich habe in diesem Forum schon öfters darauf hingewiesen, dass man über die Historizität des Jesus nur Hypothesen aufstellen kann, egal ob diese die Existenz bejahen oder verneinen. Eine absolute Sicherheit kann es in dieser Frage nicht geben.
Nochmals zum Begriff der "Lüge":
Beispiel Moses und Abraham: Dass diese Figuren keine Historizität haben, wird von der Religionswissenschaft mit breitem Konsens angenommen. Dennoch behauptet keiner, auch nicht der religionskritischste Wissenschaftler, es handele sich bei den erfundenen Geschichten um diese Gestalten um "Lügen", sondern man spricht von ´Mythen´. Mythen können bewusst oder unbewusst generiert werden, im Falle der mosaischen Mythen kann man sicher von einem gewissen Bewusstseinsgrad der Autoren (israelitische Priester im babylonischen Exil) ausgehen; diese Figuren wurden, so die wichtigste These über das Motiv, erfunden, um dem durch Verlust von Staat und Tempel angeknacksten Identitätsgefühl der Israeliten einen Gründungsmythos zu liefern, der die israelitische Identität auf ein neues Fundament stellt. Das ist natürlich auch ganz allgemein auch das Motiv für das Abfassen eines "Heiligen Buches", das die Funktion hatte, den verlorengegangenen Tempel zu ersetzen.
Was das hypothetische Motiv für die Erfindung einer Jesusgestalt betrifft, kann man darüber nur spekulieren. Hier ist die historische Kontextsituation sehr viel unklarer als im Falle der Tora-Entstehung, da im letzteren Fall viel mehr kontextuelle Details und Faktoren bekannt sind. Hinzu kommt, dass die höchstwahrscheinlich komplett erfundenen Figuren Abraham und Moses keinen "göttlichen" Status innerhalb des Judentums haben, so dass Zweifel an ihrer Historizität längst nicht die Sprengkraft haben, die den Zweifeln an der Historizität des Jesus zukommt, da mit dessen Historizität das Christentum steht oder fällt.
Für den Moment belasse ich es dabei. Wir können natürlich gerne verschiedene Versionen eines Motivs durchdebattieren, nur bitte ich diesbezüglich um Geduld bei etwaigen Verzögerungen, da ich gegenwärtig zeitlich stark ausgelastet bin.