Liman-von-Sanders-Krise und die Dardanellen. (..Ein Versuch)

Besten Dank für die beiden Links.

Kents "The Great Powers and the the end of the Ottoman Empire", wobei die einzelnen Aufsätze zu den Ländern jeweils von ausgewiesenen Experten für diese Länder geschrieben worden sind, ist ein Standardwerk zum Thema.

Danke, Silesia, für den Buchhinweis.

Ulrich Trumpeners Abschnitt kann ich allgemein zustimmen, besonders die Seiten 116 – 118 sowie S. 125 scheinen mir zur Orientierung in diesem Faden sinnvoll zu sein.

S. 118 oben schreibt Trumpener:

"The military defeat also gave rise to accusations, particularly in foreign newspapers, that the Germans had evidently not done a very good job in training and equipping the Turkish army."

Gemeint sind die Niederlagen der osmanischen Truppen im 1. Balkankrieg und danach, Herbst 1912, Winter 1913, für die in diversen ausländischen Zeitungen das aus dem dt. Reich stammende Militär mitverantwortlich gemacht wurde. Dies war einer der Auslöser zu neuen Vorstellungen/Planungen einer wesentlich weiterreichenden Militär-Mission in der Türkei, wie weiter oben bereits erwähnt. Was zur Mission Liman von Sanders führte.
 
Das britische Engagement wurde nicht nur dadurch gebremst, dass Admiral Limpus die türkische Flotte kommandiert, ebenso wirkte sich aus, dass am 3.12.1913 ein umfassender Vertrag zwischen Istanbuler Regierung und einem britischen Werftverbund (mit Einverständnis des Foreign Office ) geschlossen worden war, der den Bau, die Modernisierung von Werften, Docks und Marine-Arsenalen vorsah. Damit wäre durchaus möglich gewesen, weiterer Kapitalzufluss vorausgesetzt, dass die türkische Flotte hätte modernisiert und ausgebaut wie moderne Kriegsschiffe hätten gebaut werden können

Dazu bleibt noch zu ergänzen, dass die Türkei 1914 entsprechend zwei Kriegsschiffe in GB bauen lies, entlang der Marine-Verbindungen zu GB und dem Marine-Vertrag mit einem britischen Werften-Konsortium, und die britische Reg. die bereits fertig gestellten Kriegsschiffe beschlagnahmte, obwohl die Türkei bei Ausbruch des Krieges 1914 neutral geblieben war (Wallach, Anatomie einer Militärhilfe, S. 159) .
 
Silesia, du schreibt weiter oben:


Bzgl. der militärischen Tragweite der Mission solltest Du bei Interesse auf Erickson zurückgreifen, Ordered to Die - History of the Ottoman Army in the First World War, und in dem Kontext entstandene Publikationen.

Wenn man die militärische Bedeutung weiter einschätzen will, sollte man retrograd auch Limans Rolle im Verlauf der Dardanellen-Landung berücksichtigen. Dazu kommen die Details aus osmanischer Sicht.

For more details please...Jehuda Wallach, Anatomie einer Militärhilfe, 1976.
Das ist die mit Abstand gründlichste und umfangreichste Untersuchung und Arbeit zur Liman-Mission und ihren späteren Entwicklungen.

Wallach entscheidet sich bei der in der Historiker-Gemeinde leidenschaftlich untersuchten Frage, ob die Ideen zu einem umfangreichen Mission-Kommando eigentlich von der jüngtürkischen Regierung stammen würden oder der türkischen Seite von Berlin aufgedrängt wurden, schliesslich aufgrund seiner umfangreichen Akten- und Quellenforschungen dafür, dass beide Seiten wohl Interesse daran hatten und die Notwendigkeit dazu sahen.


Du nennst leider nicht von Seeckts problematisierende Beurteilung der Leistungen/Bedeutung Limans und andere kritische Stimmen.
Bei den türkischen Arbeiten/Beurteilungen neigst Du vermutlich zu denen, die Deine Meinung stützen...;-) Derweil gibt es ebenso genug Arbeiten und Meinungen "türkischerseits", die Limans Leistung eher negieren, soweit sie sie nicht geradezu herabwürdigen.

Ulrich Trumpeners Arbeit zum Verhältnis Osmanisches Reich - Dt. Reich kann ich wirklich empfehlen, er stellt die Leistungsmöglichkeiten Limans auf den Boden und spricht von dem ausgeprägten Attentismus der türkischen Führung nach allen Seiten. Das scheint mir zuzutreffen.
Vielleicht lohnt sich auch ein Blick auf Trumpeners Ansicht zu der Art und Qualität der Beziehungen Dt. Reich - Osmanisches Reich, mir scheint, dass er nicht speziell ein imperialistisches Verhältnis notiert oder es nicht so benennt.


Aber jetzt wir weit weg gekommen von der eigentlichen Liman-Krise. Jedenfalls vielen Dank für Deine engagierten Antworten und Deine Mühen.
 
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Noch ein Gedanke:

Oben ist darauf hingewiesen worden, welche desaströser Auswirkungen die kurzzeitige Sperre der Dardanellen im Italienisch-Osmanischen Krieg für die russische Ökonomie hatte. Betroffen waren die Getreideausfuhren, vom Schwarzen Meer über das Mittelmeer.

Bobroff argumentiert mit dieser Entwicklung bzgl. der russischen Sensibilität in der Meerengenfrage, die permanent gestiegen ist. Die Sperre zeigte schlaglichtartig die Achillesferse von Russland als Großmacht (dass die Exportüberschüsse der russischen Staatsfinanzierung wesentlich dienten, liegt wohl auf der Hand).

McMeekin in "Berlin-Bagdad-Expreß" weist auf das Detail hin, wonach die Liman-Mission in Krisenzeiten (hier der August 1914) binnen 4 Wochen auf 2000 Mann anstieg. Dieses dient nur als Beispiel, den Umfang der Mission als "Drohpotenzial" für Krisenfälle und die Fähigkeit zur raschen Aufstockung in wenigen Wochen zu verstehen.

Eine weitere Erhellung der strategischen Bedeutung ergibt sich aus der tatsächlichen Bedeutung der Liman-Mission (nur 15 Monate später) im Krieg. Diese macht - sozusagen retrograd - sehr deutlich, dass die Bedrohungslage und die Bedrohungsperspektive von russischer Seite durch diesen deutschen "Schachzug" richtig eingeschätzt wurde.


Es gibt vielleicht noch einen weiteren Aspekt.
Bobroff – Roads To Glory – Seite 86 oben) nennt als einen wesentlichen Punkt, dass sich die von deutschem Militär geführten Truppen in der Hauptstadt Konstantinopel befunden hatten. Daraus, so sei von russischer Seite befürchtet worden, ergäbe sich ein erhöhter Einfluss des DR auf das Osmanische Reich. Keine andere (vorhandene) Macht habe je eine so bestimmende Stellung in Konstantinopel erreicht.

Sieht man sich an, welche weitere Anziehungskraft das DR auf das Osmanische Reich entwickelte, so kann man annehmen, dies machte „..- sozusagen retrograd - sehr deutlich, dass die Bedrohungslage und die Bedrohungsperspektive von russischer Seite durch diesen deutschen "Schachzug" richtig eingeschätzt wurde.“

Nach der Katastrophe war die Hauptstadt des OR zunächst internationalisiert.
Ich frage mich inwiefern das schon vorher galt.
War nicht in der Folge des Italienisch-Türkischen Kriegs 1911-1912 eine internationale Flotte der Großmächte hier eingelaufen, um eine entsprechende Stabilisierung zu erreichen?
Das ist keine rethorische Frage, denn ich versuche gerade vergeblich die entsprechende Quelle zu finden, und frage mich ob ich hier falsch verknüpfe.
 
Zur Übersicht möchte ich einige Gesichtspunkte im Umfeld der Liman-Mission wiederholt referieren:

- die britische Marine reorganisierte die türkische Flotte, die gleichzeitig unter dem Kommando
von Admiral Limpus stand
- die türkische Gendarmerie wurde durch französische Kräfte reorganisiert
- die türkische Armee sollte durch die Liman-Mission reorganisiert werden.

Für die Aufgabenteilung bei der Reform der Streitkräfte, die türkische Marine wurde britischerseits, das türkische Heer von deutschem Militär reformiert, gibt es plausible, schlüssige Gründe. Die britische Marine galt als führende weltweit. Das reichsdeutsche, besonders preußische Militär galt führend in Organisation und Effizienz (besonders bei Teilen der Jungtürken) - was nun wiederum einen Teil des Bedrohungsszenarios darstellte, mit dem man das dt. Reich in Europa verbunden hatte.

Nicht zuletzt wurde die Reform der türk. Gendarmerie von französischen Kräften durchgeführt, war sie doch nach französischem Vorbild organisiert.

Das britische Marine-Engagement wurde begleitet von einem weitreichenden Vertrag mit einem britischen Werftenverbund von Anfang Dezember 1913, der Bau und Unterhalt von Arsenalen, Werften und Docks für die türkische Marine vorsah. Begleitend hat die Istanbuler Regierung zwei Kriegsschiffe in GB bestellt.

Allein aus dem Genannten wird deutlich, dass die jungtürkisch geprägten Regierungen vor und während der Liman-Mission autonom handlungsfähig waren und mit verschiedenen Großmächten gleichzeitig kooperierten.

Die These eines unilateraler Imperialismus, dem die Türkei entsprechend durch das dt. Reich ausgeliefert gewesen wäre, ist damit meiner Meinung nach nachhaltig in Frage gestellt bzw. widerlegt.
 
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Hatl, Du schreibst:

Nach der Katastrophe war die Hauptstadt des OR zunächst internationalisiert.
Ich frage mich inwiefern das schon vorher galt.
War nicht in der Folge des Italienisch-Türkischen Kriegs 1911-1912 eine internationale Flotte der Großmächte hier eingelaufen, um eine entsprechende Stabilisierung zu erreichen?
Das ist keine rethorische Frage, denn ich versuche gerade vergeblich die entsprechende Quelle zu finden, und frage mich ob ich hier falsch verknüpfe.


Sehr gut, besonders das FETT markierte darf man ruhig beachten, denn die "Osmanische Frage", der "kranke Mann am Bosporus" hatte die Großmächte bereits seit etlichen Jahrzehnte beschäftigt, das gabs z.B. extra dafür den Berliner Kongress 1878 wg. der Spannungen/Verwicklungen der Großmächte in Folge der Autonomie-Bewegungen und der Militäraktionen des Osmanischen Reiches auf dem Balkan.
 
Die Zahl der Offiziere, die der Liman-Mission angehörten, betrugen lt. militärischen Unterlagen und Liman von Sanders Angaben (Wallach, Anatomie einer Militärhilfe, S. 198)

- Anfang 1916: rund 200 Offiziere

- Gegen Kriegsende 1918: rund 800 Offiziere
 
Und noch ein paar Bemerkungen zur Großwetterlage um die Türkei herum in den Jahren vor der Liman-Mission.

Dass die jungtürkisch geprägten Regierungen (ab 1908) eine gewisse Präferenz zum Dt. Reich entwickelten, lag nicht zuletzt am dem Umstand, dass die "Garantie-Mächte" besonders der 2. Hälfte des 19 Jh., wir erinnern uns an den Krim-Krieg, Frankreich und Großbritannien, sich teilweise bereits vor 1900 der russ. Regierung angenähert hatten, eben jene Allianzen bildeten. Andererseits war und blieb das russ. Reich der Hauptrivale und –Gegner des Osmanischen Reiches, der Türkei.

Weiterhin bedeutsam speziell im Verhältnis GB- Türkei war die Entwicklung in Ägypten, das im 19. Jh. eine gewisse Autonomie gegenüber Istanbul erreicht hatte, und welches schließlich von britischen Truppen Ende des 19. Jh. besetzt wurde.

Speziell das Verhältnis zu London war daher nicht spannungsfrei, die teilweise jungtürkische Präferenz für das dt. Reich ohnehin plausibel und schlüssig.

Von daher verdeutlicht das britische Marine-Engagement in der Türkei, der britische Werften-Vertrag und die Bestellung von Kriegsschiffen durch die Istanbuler Regierung in GB nochmals die Autonomie der türkischen Regierungen, für die notwendigen Reformen verschiedenen Großmächte engagieren zu können und sich dadurch keiner allein auszuliefern. Bleibt mit Wallach zu bemerken, dass diese Politik gegenüber den Großmächten u.a. damit zusammen hing, dass es verschiedenen "Fraktionen" innerhalb der Regierungskreise in Istanbul gab, was die Präferenz z.B. für GB oder das dt. Reich betraf.
 
Liman von Sanders Mission führte also mitnichten die türkische Regierung automatisch auf die Seite des Dreibundes und d. Dt. Reiches.

Weder ist das hier behauptet worden, noch geht es darum (um Liman auf dem Weg zum Bündnis) im Kern der Krise.

Siehe dazu die Beiträge von Thanepower oben. Es geht hier vorrangig um einen Kontext und ein geschaffenes Klima der Konfrontation, was Wirkmacht auf russischer Seite in der Julikrise auf anderer Bühne entwickelte. Das zu betrachten, muss man sich einmal so weit in die Thesen von McMeekin hinein bewegen.

In einem anderen Thread hier im Forum ist anhand der Forschungslage außerdem detailliert diskutiert worden, dass weder die Goeben-Aktion noch die beschlagnahmten Dreadnoughts ursächlich für den osmanischen Kriegseintritt gewesen sind. bei Bedarf kann dort weiter diskutiert werden.

http://www.geschichtsforum.de/f62/w...mittelm-chten-und-nicht-den-alliierten-37906/
http://www.geschichtsforum.de/f58/zwei-kriegsschiffe-gehen-die-osmanische-marine-31611/
 
Woher kam die Idee zu einer umfangreichen und weitreichenden Militärmission, nach der die Liman-Mission projektiert wurde?

Hier wird bevorzugt und vorab der deutsche Botschafter in Konstantinopel, Hans von Wangenheim, verantwortlich gemacht als Vertreter einer imperialen Macht, die der türkischen Regierung mehr oder weniger den Missionsumfang willkürlich diktiert habe.

In den zurückliegenden Beiträgen des Fadens machte ich aus meiner Sicht plausibel und schlüssig deutlich, dass ein Missions-Plan dieses Umfanges nach den verlorenen Balkankriegen der osmanischen Armee allgemein notwendig und plausibel erschienen war, mithin türkisches Militär wie türkische Regierungsvertreter besonders der reformorientierten Jungtürken selbst eine außergewöhnliche Militärmission von Seiten z.B. des Deutschen Reiches für notwendig hielten, mit dem das Osmanische Reich zuvor bereits mehrere Militärmissionen vereinbart hatte.(Pomiankowski, Der Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches, 1928, S. 36; Richter, Der Krieg im Südosten. Band 1: Gallipoli 1915, 2013, S. 37, Gökpinar, Deutsch-türkische Beziehungen 1890 – 1914 und die Rolle Enver Paschas, 2011, S. 189)

Weiterhin erzeugten die Niederlagen der Osmanischen Armee in den Balkankriegen einige Kritik an den bis dahin durchgeführten Militärmissionen des Deutschen Reiches, teilweise wurde geradezu die dt. Militärhilfe bzw. Militärberatungen- bis hin zur Militärtechnik - für die Niederlagen verantwortlich gemacht, besonders in der Auslandspresse. (Wallach, Anatomie einer Militärhilfe, 1976, S. 119 – 121)

Entsprechend den Vorwürfen in den Nachbarländern wie im Deutschen Reich selber verteidigte sich der zuletzt Missions-Verantwortliche deutsche General Colmar von der Goltz 1913 in einer Veröffentlichung – Der jungen Türkei Niederlage - gegen die Vorwürfe (Krethlow, Golz Pascha, 2012, S. 368f.)

Ein entscheidendes Motiv für eine weitere, weit umfassendere Militärmission deutscherseits war damit gegeben. Weitere hatten wir schon genannt, erweiterte Einflußmöglichkeiten, Rüstungsgeschäfte und die mögliche Konkurrenz durch andere Großmächte, wenn man selber nicht dem Wunsch der türkischen Führung nachkäme.

Zurück zum Istanbuler Botschafter von Wangenheim und seiner Rolle.
In der Dokumentenreiche "Die Grosse Politik der europäische Kabinette 1871 – 1914", Band 38, "Neue Gefahrenzonen im Orient 1913 – 1914", wird das Kapitel "Die Liman Sanders-Affäre Januar 1913 bis Juni 1914 mit einem Dokument vom 3. Januar 1913 eröffnet (S. 193).

"Noradunghian bat streng vertraulich, ihm so schnell wie möglich Kenntnis von den Bedingungen zu verschaffen, unter denen der General Eydoux* engagiert sei, und von der Stellung, welche der General dienstlieh der griechischen Armee gegenüber einnehme. Anheimstelle, falls keine Bedenken, Graf von Quadt zu direkter Mitteilung gewünschter Information an mich zu veranlassen. " Wangenheim


Die kaum auf Anhieb verständlich Nachricht für Berlin vom Istanbuler deutschen Botschafter von Wangenheim lässt sich mit etwas Recherche verständlich machen. Dazu gehört noch der Hinweis, dass von Wangenheim am 5.1.1913 nach Berlin zur Erklärung telegraphierte,
"die Pforte [wünsche] Auskunft über die Kompetenzen des Generals Eydoux, weil sie erwägt, deutschen General als Oberkommandierenden im Frieden zu erbitten, hauptsächlich um die Armee außerhalb der Politik zu stellen"


Doch wer war nun "Noradunghian"? Gabriel Noradunghian war 1912/1913 der armenisch stämmige Außenminister Istanbuls, der in der Hohen Pforte residierte.(Meißner, Martin Rades 'Christliche Welt' und Armenien, 2010, S. 176, Anm. 818)


Im erwähnten Graf von Quadt finden wir den dt. Botschafter in Athen.

Wer war jener General Eydoux, nach dem der türkische Außenminister fragt?
General Eydoux führte seit 1911 eine französische Militärmission in Griechenland an. Vollmachten und Umfang dieser Militärmission im türkischen Nachbarland Griechenland ähneln sehr jener der späteren Liman-Mission. Doch nicht nur dies, die griechische Marine wurde von einer britischen Marine-Mission reformiert und reorganisiert, wie es schon und weiterhin in der Türkei ebenfalls geschah.


Der frühere ö.-u. Militärattaché in Istanbul 1909 – 1918 und dann polnische General und Staatsbürger, Joseph Pomiankowski, bestätigt die primäre Herkunft/Initiative der Missions-Idee von türkischer Seite im 1928 erschienen Werk "Der Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches" auf S. 36 mit folgenden Äußerungen:

"Der deutsche Botschafter Baron Wangenheim sprach mir im Jänner 1913 von einem, von ehemaligen türkischen Botschafter in Paris Münir Pascha stammenden Plane einer Reorganisation des türkischen Staatswesens durch den Dreibund, wobei Deutschland die Armee, …[…]."

Der Ex-Botschafter in Paris, Münir Pascha, hatte wohl Umfang, Einfädelung und Erfolg der französischen Eydoux-Mission im Nachbarstaat Griechenland beobachtet und in einer zirkulierenden Denkschrift einen entsprechenden Reorganisations-Entwurf für die türkische Armee formuliert.

In der Militärmission von General Eydoux in Griechenland finden wir daher die eigentliche Vorlage oder Blaupause für die spätere deutsche Liman-Mission.
 
Ein Beispiel anhand einer kleinen Chronik zum späteren Kontext der Mission:


Am 22. Juli 1914 wendet sich der türk. Großwesir an Botschafter von Wangenheim mit der Bitte um ein Bündnis zw. Dt. Reich und der Türkei, es geht besonders, angesichts der sich europäisch zuspitzenden Lage in Richtung Krieg, um die territoriale Garantie für die Türkei. Von Wangenheim lehnt aufgrund der mangelnden Bündnisfähigkeit der Türkei ab.

Wenige Tage später, Ende Juli, befindet sich das Dt. Reich in einer kritischen Lage und Wilhelm II. befiehlt von Wangenheim, Verhandlungen wg. eines dt.-türk. Bündnisses aufzunehmen.

Am 31. Juli 1914 konfisziert die britische Regierung in GB ohne Rechtsgrundlage die beiden fertiggestellten und bezahlten Großschlachtschiffe für die Türkei, was dort Empörung und Proteste auslöst.

Am 1. August erklärt Berlin Russland den Krieg.

Am 2. August schließt Botschafter von Wangenheim in Istanbul den geheimen Bündnis-Vertrag mit der Türkei. Von Seiten der türk. Regierung sind nur der Großwesir und Enver Pascha sowie Talaat beteiligt wie eingeweiht, von dt. Seite aus nur von Wangenheim, nicht die Berliner Regierung. Die erfährt die Details des Vertrages am 3. August. Die Türkei ist nur zum militärischen Beistand gegenüber dem Dt. Reich verpflichtet, wenn das Dt. Reich angegriffen wird.

Dieser Vertrag war damit schon teilweise überholt, wie er abgeschlossen worden war, denn Wilhelm II. hatte Russland den Krieg erklärt – und nicht umgekehrt. Entsprechend trat die türkische Regierung zunächst nicht in den Krieg ein.

Am 4. August, nachdem Berlin von den Vertragsdetails erfahren hat, wird den dt. Kriegsschiffen Goeben und Breslau im Mittelmeer befohlen, Konstantinopel anzufahren, was diese verzögert, und schließlich von britischen Kriegsschiffen verfolgt und zeitweilig beschossen, tun.
Auch am 4. August erklärt GB dem Dt. Reich den Krieg nach der Verletzung der belgischen Neutralität.

Am 10. August erreichen Goeben und Breslau die Dardanellen, Enver erteilt – unter zeitlichem und dt. Druck die Einfahrts-Erlaubnis. Die Türkei ist zu diesem Zeitpunkt nach wie vor neutral. Damit die Schiffe nicht die Türkei verlassen müssen, werden sie formal gekauft und die Besatzung formal der türkischen Marine angegliedert.

Damit sind mit einem Schlag rund 1600 dt. Marine-Angehörige in der Türkei stationiert. Admiral Souchon, der Befehlshaber der Schiffe, fordert von Berlin weitere Marine-Angehörige an, da etliche britische Kriegsschiffe vor den Dardanellen aufgelaufen sind und Souchon einen Angriff auf die Dardanellen befürchtet. Ende August 1914 treffen 300 – 400 Marine-Angehörige ein, das künftige Sonderkommando Usedom unter dem gleichnamigen Admiral.

Ende August 1914 sind also rund 2000 Angehörige der dt. Streitkräfte in der Türkei anwesend. Doch die meisten sind Marine-Angehörige, wie dargestellt, und haben mit der Liman-Mission weder dienstlich noch militärisch irgendetwas zu tun.




Und Liman Sander? Dieser wird z.B. bei den Vertragsverhandlungen zum Bündnis Dt. Reich-Türkei zu einem – einzigen - Punkt einbezogen, zur Stellung seiner Mission im Kriegsfall. Denn der Mission-Vertrag mit Liman von Sanders sah vor, dass im Kriegsfall die Mission abgebrochen wird und das Mission-Personal ins Dt. Reich zurückfährt. Das wird im Bündnisvertrag geändert geregelt, die Mission bleibt.

Ansonsten taucht er in einer vorläufigen Armeekorps-Gliederung Enver Paschas vom August 2014 als Befehlshaber der 1. Armee auf. Und dann wieder 1915 beim Dardanellen-Krieg.

Es sind Admiral Souchon, seine Marine-Angehörigen und die dt. und türkischen, etwas instandgesetzten Kriegsschiffe unter seinem Kommando, die die ersten Kriegshandlungen bzw. –Vortäuschungen Ende Oktober 1914 durchführen als Geheim-Kommando unter Billigung weniger Eingeweihter des türkischen Kabinettes, und damit vollendete Tatsachen schufen, dem sich dann die restlichen Kabinettsmitglieder anschließend beugten.




Was wäre ohne die Konfiszierung der türkischen Schlachtschiffe Ende Juli in GB passiert? Ein entscheidender Stimmungsumschwung wäre vielleicht ausgeblieben, die Neutralisten im türkischen Kabinett hätten womöglich die Oberhand behalten.

Was wäre ohne den Ausbruch des I. Weltkriegs passiert? Wäre der Bündnis-Vertrag zustande gekommen? Natürlich nicht.

Hätten sich die Groeben und Breslau nach Istanbul geflüchtet ? Natürlich nicht. Infolge dessen wären auch nicht so umfangreiche Verstärkungen der dt. Marine- und Militärpräsenz in der Türkei nachgefolgt – und Souchon hätte nicht die russ. Schwarzmeer-Häfen angegriffen.

Was wäre geschehen, hätte Liman von Sanders die vom türkischen Kriegsminister Enver Pascha Ende Juli, Anfang August für ihn vorgesehene Stellung als Generalstabschef angenommen? Liman lehnte ab, sicherlich auch aufgrund des spannungsreichen Verhältnisses und der Dominanz zueinander. Nur deswegen tauchte Liman schließlich als Armeekorps-Chef bei der Dardanellen-Verteidigung 1915, an der "Front" auf.

Die Liman-Mission hatte Ende Juli 1914 rund 70 Angehörige – wie die Marine-Mission des britischen Admiral Limpus auch. Das war, folgt man Sanders, einfach auch eine notwendige Größe. Britische Werften bauten Marine-Arsenale, -Docks und –Werften, britische Werfen bauten für die Türkei zwei Großschlachtschiffe.

Die Liman-Mission war nur ein Baustein in einem Netz von interdependenten und teilweise autonomen Akteuren und Aktionen wie Ereignissen unter zunehmend so nicht vorhersehbaren Bedingungen.

Die vereinfachte retrograde, auf das "Endergebnis" verengte Betrachtung/Deutung führt leicht dazu, dass die Mission "has been very much exaggerated", wie der britische Außenminister Grey am 11.2.1914 im bezeichnenderweise letzten abgedruckten Dokument zur Liman von Sanders-Krise notiert (British Documents on the Origins of the War 1898-1914, Band 10, Teil I, S. 423).
Und sie kann dazu führen, dass wir uns einen scheinbar homogenen Ablauf erfinden, der ebenso vermeintlich zielgerichtet auf das Endergebnis hinführt, welches wir kennen.

Literatur: Pomiankowski, Der Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches (1928); Wallach, Anatomie einer Militärhilfe (1976); Richter, Der Krieg im Südosten. Band 1. Gallipoli 1915 ( 2013); Kreiser, Atatürk (2008); Krethlow, Goltz Pascha (2012); Ziemke, Die neue Türkei (1930); Gökpinar, Deutsch-türkische Beziehungen 1890 – 1914 und die Rolle Enver Paschas (2011);
 
Weder ist das hier behauptet worden, noch geht es darum (um Liman auf dem Weg zum Bündnis) im Kern der Krise.

Siehe dazu die Beiträge von Thanepower oben. Es geht hier vorrangig um einen Kontext und ein geschaffenes Klima der Konfrontation, was Wirkmacht auf russischer Seite in der Julikrise auf anderer Bühne entwickelte. Das zu betrachten, muss man sich einmal so weit in die Thesen von McMeekin hinein bewegen.



http://www.geschichtsforum.de/f62/w...mittelm-chten-und-nicht-den-alliierten-37906/
http://www.geschichtsforum.de/f58/zwei-kriegsschiffe-gehen-die-osmanische-marine-31611/

Sorry, jetzt erst sehe ich Deinen Beitrag.
D'accord, fast überall.

Nur fehlen mir doch erheblich der konkrete Kontext und konkrete Kenntnisse zur Mission und zur türkischen Situation, die werden mir etwas zu kursorisch wegen der Konzentration auf den globalen, imperialistischen Kontext behandelt. Ebenso wenig werden mir ausreichend mögliche weitere Hintergründe der Reaktion von AA-Chef Sasonow usw. exploriert, eine Verwertung der Dokumentenbände zu den Kriegsursachen z.B. auf britischer Seite kann ich auch nicht erkennen.
Mit der ausreichenden Untersuchung von Primärquellen erreichen wir eine substanziellere Grundlagenkenntnis, scheint mir, als Basis.

Was ist der Kern der Krise? Darauf gibt es etliche Antworten und viele Perspektiven.
Und was bedeutet "Kern"? Auslöser, Grund und Ursache? Wird das konkretisiert ?

Wie gewichten wir zB. die Tatsache, das die britische Marine-Mission unter Admiral Limpus mit 70 Personen vor Ort wirkte, große Rüstungsaufträge über zwei Superschlachtschiffe bestanden und ein britisches Werften-Konsortium Marine-Arsenal, Docks und Werfen, eine "naval base" für die Türkei bauten? Was der russ. Regierung erhebliche Bauchschmerzen bereitet hatte, aber die britische diese einfach ignorierte? Ohne solche wertvollen Kenntnisse hängt die Liman-Mission merkwürdig leer im Raum, was ihre "internationale Bedeutung" angeht.

Die türkische Marine etwa war eh praktisch nicht vorhanden? Doch die Liman-Mission sollte möglicherweise Wunder bewirken angesichts der sehr desolaten Nachkriegslage der türkischen Armee, weil es Sasonow in seiner Perzeption für möglich gehalten hat?


In einem anderen Thread hier im Forum ist anhand der Forschungslage außerdem detailliert diskutiert worden, dass weder die Goeben-Aktion noch die beschlagnahmten Dreadnoughts ursächlich für den osmanischen Kriegseintritt gewesen sind. bei Bedarf kann dort weiter diskutiert werden.

Hm, Silesia, das hatte ich oben auch nicht geschrieben oder intendiert - falls Du das so verstanden hattest.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich überspitze nochmals meine Vorbehalte gegen eine weitgehende Replikation bekannter Zuweisungen retrograder Natur als Basis für weitere Zuweisungen oder Diskussionen wie Forschungen:


Wie realistisch waren die Erfolgsaussichten der Liman-Mission damals gewesen? Moltke spricht im Frühjahr 1914 von einem hoffnungslosen Fall, die Türkei sei kein kranker Mann am Bosporus, sondern ein toter. Wilhelm II. äussert sich ähnlich im April 1914 auf Korfu.

Der Zustand, die sehr mangelhafte Ausstattung wie Ausbildung in jeder Hinsicht der türkischen Armee war nicht etwa ein Staatsgeheimnis, weswegen sich Sasonow getäuscht habe.

Wie plausibel waren die unterstellten Erfolgsaussichten oder gar unterstellten Möglichkeiten der Liman-Mission? Halbwegs realistisch betrachtet in kurzer Zeit ohne gewaltige Kredite und Anleihen schlicht und einfach gering. Entsprechend tauchte die Tätigkeit der Liman-Mission auch nicht mehr als eigener, kritisch beäugter Diskussionsgegenstand im Führjahr/Sommer 1914 in den bekannten diplomatischen Dokumentenveröffentlichungen z. B. der britischen oder der französischen Regierung auf, soweit ich sehe, auch nicht in den russischen Dokumenten.

Die nicht methodenkritische Replikation retrograder Erkenntnisse oder Zuweisungen kann nicht wirklich weiter führen, meine ich.

War die Limpus-Mission realistischer, wirklichkeitsnäher betrachtet worden? So sieht es aus, obwohl das militärische Potential aufgrund des Werftvertrages und der beiden Superschlachtschiffe beachtlich war und die russ. Reg. durchaus mit einem Aufrüstungsprogramm für die Schwarzmeerflotte reagierte.
 
Ich überspitze nochmals meine Vorbehalte gegen eine weitgehende Replikation bekannter Zuweisungen retrograder Natur als Basis für weitere Zuweisungen oder Diskussionen wie Forschungen:
...
Die nicht methodenkritische Replikation retrograder Erkenntnisse oder Zuweisungen kann nicht wirklich weiter führen, meine ich.

Ich verstehe nicht, worauf Du hinaus willst.
Oben ging es um die Frage, welche Friktionen die Liman-Krise ausgelöst hat, die schon aufgrund des geringen zeitlichen Verlaufes russische Positionen in der Juli-Krise 1914 beeinflussten.

Ansonsten ist hier im Thema nichts als "weitgehende Replikation bekannter Zuweisungen retrograder Natur" dargestellt worden.

Die Krise ist Fakt. Die daraus resultierende russisch-deutsche Konfrontation ist Fakt. Der direkt folgende deutsch-russische Pressekrieg Anfang 1914 ist Fakt. Die Facetten des deutschen "weichen" Imperialismus der versuchten und realisierten ökonomischen und militärischen Penetration des Osmanischen Reiches ist Fakt.

Worum also geht also konkret, um welche These und Ereignisgeschichte genau bei der "nicht methodenkritischen Replikation retrograder Erkenntnisse oder Zuweisungen"?


Wie realistisch waren die Erfolgsaussichten der Liman-Mission damals gewesen? Moltke spricht im Frühjahr 1914 von einem hoffnungslosen Fall, die Türkei sei kein kranker Mann am Bosporus, sondern ein toter. Wilhelm II. äussert sich ähnlich im April 1914 auf Korfu.

Der Zustand, die sehr mangelhafte Ausstattung wie Ausbildung in jeder Hinsicht der türkischen Armee war nicht etwa ein Staatsgeheimnis, weswegen sich Sasonow getäuscht habe.

Wie plausibel waren die unterstellten Erfolgsaussichten oder gar unterstellten Möglichkeiten der Liman-Mission? Halbwegs realistisch betrachtet in kurzer Zeit ohne gewaltige Kredite und Anleihen schlicht und einfach gering.

Hier musst Du zunächst grundsätzlich zwischen Rezeption der militärischen Niederlage und zeitgenössischen Meinungen dazu, und der Ereignisgeschichte trennen. Dann solltest Du zunächst den Hintergrund analysieren, warum eine solche Mission, die sonstigen Rüstungsgeschäfte, das Vortreiben der ökonomischen Interessen dennoch und trotz des hoffnungslosen "Toten Mannes" deutscherseits betrieben wurde. Nicht nur biologisch naheliegend, auch in den hier im Thema genannten Imperialismusstudien geht es nämlich um das Fleddern der so wahrgenommenen Leiche.

Danach kann man sich der Wahrnehmung zuwenden, und die sollte man kritisch auf ihre Details analysieren.

Die bereits mehrfach angesprochene Gallipoli-Kampagne, aber auch die sonstigen militärischen Aktivitäten stehen in scharfem Kontrast zur katastrophalen türkischen Niederlage 1912. Warum? Hier hat die Literatur Aufklärungsarbeit geleistet, und die sollten wir zunächst einmal zur Kenntnis nehmen. Sehr schön aufbereitet hier:
Erickson, Defeat in Detail - The Ottoman Army in the Balkans 1912-1913.
Erickson, Ordered to Die - A History of the Ottoman Army in the First World War
Root, Balkan Battles
Özdemir, The Ottoman Army 1914-1918, Disease and Death in the Battlefield
Erickson, Ottoman Army Effectiveness in World War I - A comparative study

Aus der Literatur ist ersichtlich, dass Konsens über die Ursachen der Niederlage 1912 besteht und auch die Legenden der unmittelbaren Nachkriegszeit und früheren unzulänglichen Studien ausgeräumt werden: die osmanische Niederlage war grundsätzlich ein Problem der strategischen Dispersion, falscher strategischer Aufstellung zu Kriegsbeginn - resultierend aus einer grundlegenden Fehleinschätzung der Dislokation der bulgarischen Armee, unzulänglicher Mobilisierung und logistischen Schwächen. Defeat in Detail fördert dann ergänzend Schwächen in der operativen Führung zu Tage, dann weiter taktische und Ausrüstungsmängel.

Genau gegen die tieferen (strategischen, planungsseitigen, mob-bedingten) Ursachen der Niederlage richtete sich der Kern der Liman-Mission.

Und über den Erfolg muss man nicht rätseln, sondern - neben der operativen Kampagnenführung auf dem Schlachtfeld - die Mobilisierung und strategische Führung 1914/15 betrachten. Abgesehen von dem politischen und personell verantworteten Fehler in der anfänglichen Kaukasus-Kampagne schneidet die osmanische Armee da erheblich besser ab, als das Bild des Balkankrieges 1912/13 auch nur ansatzweise vermuten lässt. Das ist Ergebnis der Reorganisation in eineinhalb Jahren.

Hast Du Dich bereits mit diesen Entwicklungen und diesem Kontext beschäftigt?
 
Die akademische Geschichtsschreibung in angelsächsischer Tradition präsentiert Geschichte öfter mehr in Form von griffigeren Storys, was Veröffentlichungen leichter rezipierbar und etwas massentauglicher macht. Ferner wird man dabei bemerken, dass häufiger ein durchaus voluminöser Quellen- und Literaturnachweis dem eigentlichen Textkorpus folgt, das sehen wir vielfach auch bei eher schmalen Textkorpora.

Die Präsentation einer griffigeren Story, verbunden mit der Neigung, wenn nicht Notwendigkeit, sich als HistorikerIn vermehrt ebenfalls auf andere fachgeschichtliche Sekundärliteratur zu stützen, kann manchmal dazu führen, dass gewisse, eigentlich aus der im Werk angegebenen Literatur bekannte, wichtige Details entfallen. Selbstredend ist klar, dass angesichts eines großen Quellen- und Literatur-Verzeichnisses Fehler und Ungenauigkeiten ganz natürlich sind. Kein Autor kann sämtliche angegebene Literatur - und Primärquellen - vollständig selbst und gründlich wie kritisch gelesen haben.

Sean McMeekins The Berlin-Bagdad-Express (2010) enthält z.B. 14 Seiten Quellen- und Literaturnachweise. Darunter dürften sich sicherlich mindestens 100 Geschichtsbücher befinden – und die kann McMeekin gewiss nicht alle vollständig und gründlich zur Vorbereitung seines Buches durchgearbeitet haben.

Wer sich ein wenig mit akademischen Arbeiten auskennt, selber schon welche geschrieben hat, weiß das natürlich. Daher lohnt es sich, mal einzelne Abschnitte zB. bei McMeekins Werk anzuschauen. Analog zu diesem Faden schauen wir uns kurz die entsprechenden, zentralen Seiten bei The Berlin-Bagdad-Express bei nur wenigen Punkten an.

S. 105: Liman Sander verachtete angeblich von Anfang an Wangenheim, da keine Botschaftsangehörigen bei Ankunft der Mission am 14.12.1913 anwesend gewesen waren.

Die Berliner Außenpolitik, mithin der reichsdeutsche Botschafter von Wangenheim in Istanbul, hatte daran gelegen, Rücksicht auf die möglichen Empfindlichkeiten der anderen Mächte zu nehmen, die dt. Mission reiste daher in osmanischen Uniformen an und die deutsche Botschaft war bei ihrer Begrüßung am Bahnhof in Istanbul nicht vertreten. (M. Römer, Die deutsche und die englische Militärhilfe, 2007, S. 86)

S. 105: Liman von Sanders, commander of the forty-strong German military mission sent to Constantinople in 1913 .[…]

Das hört sich gut an, de facto traf Liman Sanders nur mit 9 Militärangehörigen Mitte Dezember 1913 in Istanbul ein (Wallach, Anatomie einer Militärhilfe, 1976, S. 129, S. 133). Die geplante Soll-Stärke betrug 42 Missions-Angehörige und sollte geplant auch erst im Laufe der Zeit nach Missionsbeginn in der Türkei erreicht werden.

Ende März 1914 gab es anscheinend 22 Missions-Angehörige. (Wallach, Militärhilfe, S. 134)
S. 105: When the Sultan gave Liman command of the Ottoman First Army Corps on 4 December 1913, this put a German national in nominal charge of both Constantinople […] and the Straits defences.
Liman Sanders traf erst am 14.12. in Istanbul ein (M. Römer, Militärhilfe, S. 86), McMeekins Worte legen anderes nahe.

Am 4.12. war der Befehl (Iradé) des Sultans zur Missions-Aufgabe ergangen (Römer, Militärhilfe, S. 85). In diesem Befehl war zudem erkennbar, dass die Meerengen nicht weder zum nominalen noch zum informellen Wirkungsbereich Liman Sanders gehörten. Warum McMeekin dann in seinen Zeilen einen Zusammenhang herstellte?

S
. 116: McMeekin notiert, in der letzten Augustwoche wären 700 deutsche Matrosen und Küstenbefestigungs-Fachleute in der Türkei eingetroffen und bemerkt wenige Zeilen später, Limans Sanders Mission wäre nun auf nahezu 2000 Militärberater – "mushroomed" – angewachsen.

Der Zuwachs hatte nichts mit der Mission zu tun gehabt, wie eigentlich McMeekin selber hätte bemerken können – zumindest gewöhnliche Matrosen gehören nicht zur Armee, sind keine Militärberater und die Liman-Mission war eine Armee-Mission.

Die Flucht der Goeben und Breslau in die türkischen Meerengen am 10.8.1914 bescherte der Türkei auf einen Schlag 1600 reichsdeutsche Marine-Angehörige. (Wallach, Anatomie, s. 154). Admiral Souchon als Befehlshaber beider Schiffe bat wenige Tage danach um mehrere hundert Marineangehörige aus dem dt. Reich, die gegen Ende August bis Anfang September in verschiedenen, aufgeteilten und anonymen Gruppen in Istanbul eintrafen.(Römer, Militärhilfe, S. 326f; Wallach, Anatomie, S. 155; Heinz A. Richter, Der Krieg im Südosten. Band 1. Gallipoli 1915, S. 73).
Anlass soll die massive britische und französische Flottenkonzentration vor den Dardanellen nach der Flucht von Goeben und Breslau am 10.8.1914 in die Meerengen gewesen sein, die Admiral Souchon zur – wg. des Kriegszustandes GB - Dt. Reich nachvollziehbaren - Annahme geführt hatte, die britische Kriegsschiffe würden den Durchbruch durch die Dardanellen planen. Souchon forderte entsprechend Fachleute für den Befestigungsausbau der Dardanellen und des Bosporus an, so dass dt. Marine schließlich Minenkriegs-Fachleute und Marineartilleristen schickte. (Richter, Gallipoli 1915, S. 73; Carl Mühlmann, Deutschland und die Türkei 1913 – 1914, 1929)

Die Liman-Mission selber erreichte noch in der ersten Jahreshälfte 1914 die Größe von ca. 70 Personen (Wallach, Anatomie, S. 134), das galt auch noch für den August.

Letztlich werden wir bei den zugehörigen Fußnoten/Quellennachweisen bemerken, die McMeekin im Text verankert hat, dass er sich weitgehend auf weitere Sekundärliteratur stützt. Seine "Ungenauigkeiten" in wichtigen Sachtatsachen sind manchmal auffallend, was die Liman-Mission angeht.

Weiterhin scheinen mir seine Ausführungen zu Botschafter von Wangenheim in Istanbul leicht "optimiert", ebenso die sinngemäße Behauptung eines "Intrigen-Stadls" zwischen Liman von Sanders, von Wangenheim und Marineattaché Hans Human – Militärattaché von Strempel wird nicht erwähnt. Als intrigant kann keiner von ihnen bezeichnet werden, die zwei erstgenannten waren von ihrer eigenen Unersetzlichkeit und Einzigartigkeit überzeugt, entsprechend direkt und offen wurde dies gegenüber möglicher "Konkurrenz im eigenen Lager" kenntlich gemacht wie gehandelt.

Hans Human, der Marineattaché in Istanbul, war ansonsten die mit Abstand einflussreichste reichsdeutsche Persönlichkeit Istanbuls beim "deutschenfreundlichen" Kriegsminister Enver, den er persönlich gekannt hatte und mit ihm eng befreundet gewesen war. (Wallach, Anatomie, S. 154, 177)
Ich kann nur empfehlen, auch und gerade die als autoritativ gehandelten, scheinbaren "Grundlagenwerke" kritisch und gründlich zu rezipieren. Wir kochen alle nur mit Wasser. Gewisse eigene Primärquellen-Kenntnisse sowie die Lektüre von wesentlich auf Primärquellen gestützten Geschichtswerken sind hier sehr hilfreich und weiterführend.


Wesentlich Primärquellen gestützte ("kritische") Grundlagenwerke u.a. zu Kontext, Vorgeschichte und Geschichte der Liman-Mission wie auch teilweise noch zur Liman-Sander-Krise selbst sind m.E.

- Jehuda Wallach, Anatomie einer Militärhilfe, 1976.
- Matthias Römer, Die deutsche und englische Militärhilfe für das Osmanische Reich 1908 - 1914, 2007.

Eine substanzielle, angemessene historisch-kontextuelle Einordung der Liman-Sander-Krise ist mit guten Kenntnissen zu Kontext, Vorgeschichte und Verlauf der Mission besser möglich, besonders sinnvoll sind noch weitere Kenntnisse des konkreten historischen Kontextes der damaligen Türkei, speziell 1912/1913..
 
...
Diese Konstellation hätte, ähnlich wie in 1914, bereits zu einer Eskalation führen können, die zu einem europäischen Krieg hätte führen können. Poincare war während seines Besuchs im September 1912 in Russland eher bestürzt als er die Formulierungen des Serbisch-Bulgarischen Vertrags einsehen konnte und formulierte: „Aber das ist ein Vertrag mit dem Ziel eines Krieges“ [9, S. 96]. Dennoch versicherte Poincare Izvolsky, dass die Eskalation eines Konflikts mit Angriff von Ö-U auf Serbien und der Intervention von Russland auch ein Casus belli für Frankreich gewesen wäre (vl. auch den „Blankoscheck“ von KW II im Herbst 1913[12, S. 1003ff]).
..........
(Hervorhebung durch mich)
Das ist der Punkt den ich nicht verstehe.
Über Ö-U hätte das DR, mit dem Zertrümmern Serbiens, wohl einen Griff nach der Gurgel (Meerengen) des wirtschaftlichen Gedeihens Russlands versuchen können.

Aber Frankreich?
Warum sollte für F hier ein "casus belli" entstehen?

P.S.:
Danke.
 
Silesia, vielen Dank, Du schreibst:

Aus der Literatur ist ersichtlich, dass Konsens über die Ursachen der Niederlage 1912 besteht und auch die Legenden der unmittelbaren Nachkriegszeit und früheren unzulänglichen Studien ausgeräumt werden: die osmanische Niederlage war grundsätzlich ein Problem der strategischen Dispersion, falscher strategischer Aufstellung zu Kriegsbeginn - resultierend aus einer grundlegenden Fehleinschätzung der Dislokation der bulgarischen Armee, unzulänglicher Mobilisierung und logistischen Schwächen. Defeat in Detail fördert dann ergänzend Schwächen in der operativen Führung zu Tage, dann weiter taktische und Ausrüstungsmängel.

Genau gegen die tieferen (strategischen, planungsseitigen, mob-bedingten) Ursachen der Niederlage richtete sich der Kern der Liman-Mission.

Beschäftigt habe ich mich damit.

- Es waren türkische Regierungsmitglieder, die nach den Balkankrieg-Niederlagen die tieferen Mängel beim türkischen Militär realistisch erkannt hatten und auch erkannt hatten, dass die zurückliegenden Missionen zuwenig wirksam waren und vor allem werden konnten.
Es waren die gravierenden Niederlagen, die zu einer ebenso realitätsnahen Bestandsaufnahme und Fehlersuche der inzwischen konservativen Regierung in Istanbul geführt hatten.

- Es war für türkische Regierungsmitglieder die Notwendigkeit einer grundlegenden Mission mit weitgehenden Befugnissen erkennbar, wie sie General Eydoux in Griechenland mit massiver Unterstützung von Ministerpräsident Venizelos durchführte. Siehe oben.
Selber kann ich nur dazu raten, verschiedenen türkischen Militärs und Regierungsmitgliedern entsprechende Analyse-Kompetenz auch rund hundert Jahre danach zuzubilligen. Das läuft mir sonst zu sehr auf die "zentristische" Sicht hinaus, sie wären allgemein und konstant nicht zur ausreichend kritischen und kompetenten Analyse wie Reflexion und zum anschließenden Korrekturversuch in der Lage gewesen.

- Bitte die entscheidenden Faktoren wie den türkischen Nationalismus und den Islam bei der Verteidigung von "alttürkischem Boden" beachten. Der wirkte auch schon bei der erfolgreichen türkischen Abwehrschlacht gegen die bulgarischen Truppen an der Catalga-Linie. Und erst reicht bei den Dardanellen 1915.
Bei diesem Punkt darf ich auf das bekannte Beispiel der Kriegsführung von Kemal Pascha auf den Dardanellen hinweisen - siehe Kreiser, Atatürk; Krethlow, Goltz Pascha; Richter, Gallipoli 1915; Gökpinar Hakan, Deutsch-türkische Beziehungen 1890 - 1914 und die Rolle Enver Paschas; usw. usw.
Enver wie Kemal Pascha hatten schon mit kleinster Truppe und nationalem Pathos wie "moderner" (Guerilla-)Kriegsführung 1911/1912 den italienischen Truppen in "Lybien" unerwartete Schwierigkeiten bereiten können - sie kehrten triumphal nach Istanbul zurück.


Ansonsten nochmals einige allgemeine Bemerkungen zur türkischen Lage vor Ort:

- Ohne Enver Pascha, den energischen wie risikobereiten wie "deutschfreundlichen" Kriegsminister ab Januar 1913, wäre die Liman-Mission schlicht und ergreifend bald verpufft.
- Ohne Taalat Bey und dem Großwesir und dem notfalls auch skrupellosen Enver Pascha wäre der Bündnis-Vertrag mit dem Dt. Reich am 2. August 1914 nicht zustande gekommen, der Kriegseintritt auf Seiten der Mittelmächte wahrscheinlich ebenso wenig. Abgesehen von der Goeben und der Breslau..
- Am 29.7.1914 bat Liman von Sanders in einstimmigem Votum der Missionsoffiziere um Abbruch der Mission und Rückkehr ins Dt. Reich, entsprechend dem Missionsvertrag.
- Ohne den Ausbruch des Krieges in Mitteleuropa kein Bündnisvertrag, keine Goeben und keine Breslau in türkischen Gewässern, keine Generalmobilmachung der osmanischen Armee, keine Sanders-Kommando für die Dardanellen.

Mich wundert letztlich, wie sehr Du viele zufällige, aber entscheidende Umstände einfach als Rahmen der Liman-Mission betrachtest, ohne zu thematisieren, dass bei der Initiative zur Mission im Frühjahr 1913 weder die beteiligten türkischen Kreise noch die reichsdeutschen Stellen hellsehen konnten oder allmächtig waren.
Gerade Dein Hinweis auf die spätere Entwicklung nach Kriegsausbruch 1914 entkräftet ja eher Deine Argumente, wie weitreichend die Liman-Mission gewirkt habe - konnten die Verantwortlichen 1913 hellsehen? Wenn ja, warum war dann der Vertrag und die Mission nicht gleich passend gestaltet worden?
Wieso waren die anderen Großmächte mit dem modifizierten Missionsauftrag einverstanden, wenn die neue Stellung Liman Sanders angeblich auch noch so wirksam werden konnte - weil sie es nicht erkennen konnten, was die Mission "in Wirklichkeit" tat und einfach - aus welchen Gründen auch immer - schwiegen? Falsche Wahrnehmung?


Ich gehe nach wie vor von der "Missionsreichweite" für den Friedenszustand aus, Kriegsumstände machen Entwicklungen möglich, die keineswegs im "Normalfall" eingetreten und absehbar oder gar planbar gewesen wären.
Die geradezu metaphysische Wirkung, die alleinig die Mission begleitet haben müsste, die bleibt mir suspekt. Die Mission und die Mission-Krise scheint mir ein klassischer Fall der Perzeption zu sein, ein Lehrbeispiel des Perzeptions-Paradigmas (Gottfried Niedhart).
 
(

Aber Frankreich?
Warum sollte für F hier ein "casus belli" entstehen?

P.S.:
Danke.

Es ging immer um die Stabilität und um die gegenseitige Zuverlässigkeit von F und R.

Im Prinzip standen beide mit dem Rücken zueinander und nur beide zusammen konnten die Mittelmaechte besiegen.

Deswegen diente die Zusicherung der generellen Stabilität des Bündnisses.
 
Es ging immer um die Stabilität und um die gegenseitige Zuverlässigkeit von F und R.

Im Prinzip standen beide mit dem Rücken zueinander und nur beide zusammen konnten die Mittelmaechte besiegen.

Deswegen diente die Zusicherung der generellen Stabilität des Bündnisses.

War man sich der russischen Bündnistreue so unsicher, dass man glaubte eine so gefährliche Ausweitung eines Defensivpaktes in Kauf nehmen zu müssen?
Oder war sich die französische Seite der Gefahr nicht bewußt?
 
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