Versuch einer Interpretation
Für eine "deutsche" "Heldenballade" fallen mir bei der "Schäbischen Kunde" bei einem ersten "Lesen" zwei Merkwürdigkeiten auf.
Schon der Titel "Schwäbische Kunde" klingt nicht gerade nach einer aufregenden Geschichte, und das Versmaß hat eine (wohl beabsichtigte) Schwerfälligkeit, die nicht so recht zu einer "Heldenballade" passen will.
Als Kaiser Rotbart lobesam
zum heil'gen Land gezogen kam,
da mußt' er mit dem frommen Heer
durch ein Gebirge wüst und leer.
Zum Vergleich eine andere Ballade, die eindeutig als "Heldenballade" einzustufen ist und wo der Held ebenfalls ins Heilige Land aufbricht, also auf Kreuzfahrt ist.
Graf Douglas, presse den Helm ins Haar,
Gürt' um Dein lichtblau' Schwert,
Schnall' an Dein schärfstes Sporenpaar
Und sattle dein schnellstes Pferd!
So temporeich und dynamisch lässt z. B. Moritz Graf Strachwitz seine Ballade "Das Herz von Douglas" (publiziert 1844, der Zeitpunkt der Entstehung ist unbekannt) beginnen.
Bei einem Vergleich mit der schwäbischen Kunde gibt es übrigens noch einige weitere interessante Details, so z. B. das Rolle von Tieren. Bei Strachwitz reitet der "Held" (Graf Douglas) im Eiltempo zu seinem sterbenden König (Robert the Bruce), und diese Eile wird auch dadurch deutlich, wenn es heißt: "... und als sie kamen vor Königs Palast / Da blutete Sporn und Tier". (Was für einen Gewaltritt keineswegs unglaubwürdig ist, bei einem Blick auf geschichtlich belegte Ritte, wo ein beachtliches Tempo vorgelegt wurde.)
Das Tier ist im "Herz von Douglas" ein reiner Gebrauchsgegenstand, der zum Zweck von "Pflichterfüllung" und "Heldentum" ohne Rücksicht und Verluste genutzt wird und Schaden nehmen darf.
Ganz anders dagegen in der "Schwäbischen Kunde", auch wenn hier das Pferd eines "Türken" getötet wird, was einige Leser/innen heute schlimmer empfinden, als den Tod des Türken. (Meine Erfahrung, als ich einmal das Gedicht in einer Leserunde vorgetragen habe.)
Uhlands "Held" kommt nur deswegen in eine Lage, in der er seinen "heldenhaften" Schwabenstreich führen kann, weil er sich um sein Pferd kümmert. (Anders als der Graf Douglas ist er also keineswegs darauf erpicht, Heldentaten zu erleben, weshalb er aus der Sicht des 21. Jahrhunderts vermutlich der sympatischere "Held" sein dürfte.)
Fakt ist, dass Kaiser Friedrich I. Barbarossa auf dem Dritten Kreuzzug gestorben ist und die Truppen, die er anführte, sich aus den Gebieten des HRRs, über das er damals herrschte, zusammengesetzt haben. Aus der Sicht des 19. Jahrhunderts waren das "Deutsche", allerdings beschränkte sich die tatsächliche Herrschaft des Friedrich Barbarossa keineswegs nur auf Länder, die Teil des heutigen Deutschlands oder Teil des "Deutschen Reichs" der preußischen Kaiser in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren. (Uhlands Gedicht entstand zu einer Zeit, als das HRR nicht mehr offiziell existiert und das preußische deutsche Reich noch gar nicht gegründet war.)
Wie verhält es sich mit der Bezeichnung "deutsch" in der "Schwäbischen Kunde". Nun, die Ballade trägt den Titel "Schwäbische Kunde" und nicht etwa "Deutsche Kunde", obwohl dies (nach rein sprachlichen Kriterien wie z. B. kurzer prägnanter Titel, Lautmalerei etc. möglich gewesen wäre.
Im Text selbst findet sich der Begriff deutsch an folgenden Stellen:
- Und mancher deutsche Reitersmann / Hat dort den Trunk sich abgetan."
- Da wallt dem Deutschen auch sein Blut. ...
Zweimal findet sich die Bezeichnung "Deutsch" bzw. "Deutscher".
An einer einzigen Stelle wird Uhlands "Held" also als Deutscher bezeichnet.
Ansonsten heißt es:
- Nun war ein Herr aus Schwabenland, / ...
- Der wackre Schwabe forcht' sich nit, / ...
- der ließ den Schwaben vor sich kommen; ...
Von der Metrik her wäre eine Formulierung wie "ein Herr aus deutschen Land", "der wackre Deutsche focht sich nicht ..." oder "der ließ den Deutschen vor sich kommen" problemlos möglich gewesen, daraus schließe ich, dass Uhland die Herkunft seines Helden aus dem schwäbischen Herzogtum wichtig war. Sein Held ist zwar auch "Deutscher", aber in erster Linie ist er doch ein "Schwabe".
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Einschub: Das "Schwäbische" in dieser Ballade.
Wie auch der Dichter selbst: Uhland war Untertan des damaligen Königreichs Württemberg, das bis 1918 bestand und zu dem Teile des mittelalterlichen schwäbischen Herzogtums gehörten.)
Es wird zwar in der Ballade nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, aber die Hohenstaufen, die Familie von Friedrich Barbarossa, waren Herzöge von Schwaben, und das dürfte für Uhlands Zeitgenossen noch klar gewesen sein. Barbarossa ist somit nicht nur der Kaiser, sondern er ist auch Landesherr von Uhlands Helden.)
Einschub Ende
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Wie ist nun die "Heldentat", dabei handelt es sich um die Tötung eines Angreifers (bei Uhland "ein Türke" ) und seines Pferdes, beschrieben?
Die Tötung des Gegners samt Pferd ist aus heutiger Sicht offiziell etwas, was nicht gut geheißen wird.
Nach der Beschreibung in der Ballade wirkt sie allerdings weniger wie eine Kampfhandlung, sondern dürfte, juristisch betrachtet, unter das Delikt einer "Notwehrüberschreitung" fallen (oder sogar als "Notwehr" gesehen werden). Denn der "Schwabenstreich" wird eindeutig von einem der "Türken" provoziert, sie sind als die Aggressoren dargestellt, nicht aber der Schwabe, der darauf nur reagiert.
Da sprengten plötzlich in die Quer
fünfzig türkische Reiter daher!
Die huben an, auf ihn zu schießen
nach ihm zu werfen mit den Spießen.
Der wackre Schwabe forcht' sich nit,
ging seines Weges Schritt vor Schritt,
ließ sich den Schild mit Pfeilen spicken
und tät nur spöttlich um sich blicken,
...
(Wobei vielleicht zu bedenken ist, dass allerdings dessen "stoisches" Verhalten auf die "Türken" ebenfalls provokant gewirkt haben könnte.)
Würde man diese Szene als realistischen Angriff sehen, müsste man wohl davon ausgehen, dass diese türkischen Reiter richtige Stümper sind. 50 zu einem, und obwohl der Angegriffene nicht wirklich Widerstand leistet, gelingt ihnen kein einziger Treffer.
"... ließ sich den Schild mit Pfeilen spicken ..." macht deutlich, dass der Schwabe es nicht einmal für notwendig hält, sich zur Wehr zu setzen oder durch Einsatz seines Schildes sich erfolgreich zu schützen versucht.
Allerdings, allzu bedrohlich wirkt die Situation gerade deswegen nicht, obwohl sie ausgesprochen gefährlich ist. Nimmt man das Ganze todernst, so entsteht der Eindruck, dass die Angreifer (die 50 "Türken") mit ihm lediglich ein wenig Katz und Maus "spielen" wollen und zunächst einmal gar keine so bösen Absichten gehabt haben, denn schließlich kommt es zunächst nicht einmal zu einer versehentlichen Verletzung von ihm.
Dann aber spitzt sich die Situation zu, als einer der Angreifer dem "Schwaben" zu weit geht.
...
bis einer, dem die Zeit zu lang,
auf ihn den krummen Säbel schwang.
Da wallt dem Deutschen auch sein Blut.
Erst hier wird es bedrohlich, die Folge ist die brutale Tötung von diesem und seinem Pferd, und die anderen Angreifer fliehen, ist die Geschichte eigentlich gleich darauf beendet.
Diese Szene ist nun wirklich brutal.
Er trifft des Türken Pferd so gut,
er haut ihm ab mit einem Streich
die beiden Vorderfüß zugleich.
Als er das Tier zu Fall gebracht,
da faßt er erst sein Schwert mit Macht,
er schwingt es auf des Reiters Kopf,
haut durch bis auf den Sattelknopf,
haut auch den Sattel noch zu Stücken
und tief noch in des Pferdes Rücken.
Zur Rechten sah man wie zur Linken
einen halben Türken heruntersinken.
Betrachten wir den Vorgang allerdings mit Blick auf die Glaubwürdigkeit (und visuell), ist das Ganze eindeutig unrealistisch, zudem kaum vorstellbar ist, dass sich da der Gegner nicht einmal zur Wehr setzen konnte, weil alles zu schnell ging.
Einem Pferd die Vorderbeine abzuschlagen, das ist zwar möglich, aber sicher nicht mit einem einzigen Schlag, zudem das Pferd wohl kaum ruhig dargestanden sein wird. Und wenn auch so begründet werden soll, wie es möglich ist, dass der "Schwabe" den "Türken" samt Pferd daraufhin in zwei Teile spalten kann (er selbst ist nicht auf einem Pferd), wie lang muss sein Schwert wohl gewesen sein, da er kaum direkt neben bzw. über dem Gegner gestanden haben kann, da dieser offensichtlich nichts einmal irgendeinen Abwehrreflex zeigt.
Die Beschreibung läuft eher nach dem Motto: "und Siegfried zog sein Schwert und hundert fielen um ..."
Die Szene ist zwar brutal, aber nicht wirklich glaubwürdig. Uhland hätte das sicher auch realistischer gestalten können oder einen tollen Kampf beschreiben können, wo sein Held sich gegen Feinde behaupten, die tatsächlich gefährlich sind. Aber vielleicht sollte diese Übertreibung, die auch für die damalige Zeit eine gewisse Komik gehabt haben dürfte (auch wenn sie aus heutiger Sicht problematisch wirkt) das Ganze ein wenig abmildern.
Jedenfalls erinnert mich das Ganze eher an die Action aus einem Trickfilm oder einem Superhelden-Comic.)
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Bis zur Flucht der "türkischen" Reiter handelt es sich übrigens nur um einen Zwischenfall zwischen dem "Schwaben" und einigen "Türken". Damit dieser Zwischenfall als Heldentat wahrgenommen wird, braucht es in dieser Ballade jedenfalls noch eine offizielle Anerkennung durch eine "höhere Instanz", die nun dem Kaiser zufällt.
Man beachtete nochmals in diesem Zusammenhang den Titel: "Schwäbische Kunde", und eben nicht "Der Schwabenstreich", "Der Held aus dem Schwabenland" oder "Eine schwäbische Heldentat".
Die "offizielle" Anerkennung der "Heldentat" setzt voraus, dass der Kaiser informiert wird. Zu den Tugenden eines Helden gehört gewöhnlich, dass er zu bescheiden ist, um sich selbst zu loben. Um ihn nicht als seinen eigenen Berichterstatter auftreten zu lassen, wird nun noch jemand notwendig, der das für den Helden übernimmt.
Drauf kam des Wegs 'ne Christenschar,
die auch zurückgeblieben war;
die sahen nun mit gutem Bedacht,
welch Arbeit unser Held gemacht.
Von denen hat's der Kaiser vernommen, ...
Interessant ist, dass es sich dabei um eine namenlose Christenschar und keine deutsche Schar handelt, obwohl bisher nur "deutsche Reitersmänner" und "türkische Reiter" vorgekommen sind.
(Auffallend ist übrigens, dass der Ausdruck "Ritter" nur einmal in der Ballade vorkommt, am Schluss, wenn der Kaiser sagt: "Sag an, mein Ritter wert! ...") Es bleibt somit offen, ob sich hier um eine "deutsche" Christenschar (also Leute aus dem HRR) handelt oder ob jetzt plötzlich die Geschichte noch etwas "Internationales" bekommt. (Am Dritten Kreuzzug waren außer dem Kaiser auch noch Herrscher über andere Länder beteiligt.)
Im Gegensatz zum Helden wird kein konkreter Grund angegeben, warum diese Christenschar zurückgeblieben war, und somit erst auftaucht, nachdem alles schon vorbei ist (womit sich auch nicht die Frage stellt, warum sie dem schwäbischen Helden nicht zu Hilfe gekommen haben.)
Im Schlussteil tritt dann der Held nicht Deutscher, sondern als selbstbewusster Herr aus Schwabenland auf.
"Die Streiche sind bei uns im Schwang!
Sie sind bekannt im ganzen Reiche;
man nennt sie halt nur Schwabenstreiche!"
Auch hier wäre es durchaus möglich gewesen, die Schwabenstreiche als deutsche Streiche zu bezeichnen.
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Eine Sicht hat immer etwas Subjektives, und wenn jemand diese Ballade todernst nimmt oder sogar fremdenfeindliche Elemente darin sieht, ist das natürlich sein/ihr gutes Recht.
Nachdem ich nun eine eigene textbezogene Interpretation dieser "Heldenballade" hier versucht habe, habe ich jedenfalls den Eindruck, dass die Geschichte, die da erzählt wird, in erster Linie doch eine (augenzwinkernde) Parodie auf Heldentum sein dürfte.
Dafür spricht, dass die "Heldentat" zwar unter Rahmenbedingungen stattfindet, die zumindest zur Entstehungszeit im 19. Jahrhundert noch als Schauplatz für eine Heldengeschichte üblich waren (auf einem Kreuzzug), aber diese keineswegs besonders heldisch beschrieben sind.
Der Zug durch das Gebirge, wo die Kreuzfahrer Hunger und Durst leiden, hat etwas Realistisch-Alltägliches an sich - es fehlt das Martialisch-Abenteuerliche, das bis in die 1970er-Jahre mit so einem Kreuzzug in Verbindung gebracht wurde (und auf dem z. B. auch in einer Ballade wie "Das Herz von Douglas" der Schwerpunkt liegt.)
Vom Ansatz her dürfte der Zug durch das Gebirge sogar den Vorstellungen unserer eigenen Zeit, des 21. Jahrhunderts entsprechen.
Die Beschreibung der "Heldentat", also der Zusammenstoß mit den türkischen Reitern enthält Übertreibungen und so viele Unglaubwürdigkeiten, dass sie eindeutig "unrealistisch" ist und sicher so nicht stattgefunden haben kann. Das Ganze erinnert eher an den Stammtisch, wo jemand Heldentaten von sich gibt, die er wohl erfunden haben muss und das Publikum das zwar weiß, aber eben seinen Spaß an der Erzählung hat.
Neben Hinweisen auf die Fiktion durch Erzählen (Titel, Bericht an den Kaiser) ist die Ballade in einer Metrik gehalten, die eindeutig nicht zu einer Heldenstory passt.