Pythagoreer

Klagro

Neues Mitglied
Mein Enkel (9. Gymnasialklasse) hat eine Projektarbeit zum Thema “Pythagoras” anzufertigen.
Im Rahmen der Beschäftigung mit dem Thema stieß er auf die Schülergemeinschaft “Pythagoreer”.
Dabei fand er die Ordensregeln der Gemeinschaft und unter anderem speziell die, in der es heißt:
“Nicht auf einem Viertelmaße zu sitzen”. Die Bedeutung dieser Regel ist uns trotz intensiver Recherche verborgen
geblieben. Könnten Sie uns bitte weiterhelfen?
Mit freundlichen Grüßen
Klagro
 
Nicht zum Sinn, aber zu den Quellen: Burnet, Early Greek Philosophy, der den Spruch als erste Regel mit "Not to sit on a quart-measure" zitiert.

Die von ihm verwendete Quelle ist Orellius, Opusc. graec. sent., S. 60.
MDZ-Reader | Band | Opuscula Graecorum veterum sententiosa et moralia / Orelli, Johann Konrad von [Hrsg.]

Mit dem Viertelmaß ist das Choinix angesprochen, also ein griechisches Getreidemaß, χοῖνιξ

Ich bin mal so frei: auf einem Viertel Weizen sollst Du nicht sitzenbleiben.
Da die Aufforderung nicht für das Oktoberfest geschrieben ist, würde ich daran denken, dass man sich nicht auf halbfertigen ("viertelfertigen") Sachen ausruhen soll, also eine Rede gegen den Müßiggang und Faulheit.

Vielleicht können die Sprachexperten die Erläuterungen übersetzen:
MDZ-Reader | Band | Opuscula Graecorum veterum sententiosa et moralia / Orelli, Johann Konrad von [Hrsg.]
Oder auf der Vorseite das griechische Original.
 
Ich bin mal so frei: auf einem Viertel Weizen sollst Du nicht sitzenbleiben.
Da die Aufforderung nicht für das Oktoberfest geschrieben ist, würde ich daran denken, dass man sich nicht auf halbfertigen ("viertelfertigen") Sachen ausruhen soll, also eine Rede gegen den Müßiggang und Faulheit.

Nein, das denke ich nicht. Die Pythagoreer waren eine Gruppe, die man durchaus mit einer Sekte vergleichen kann. Wir wissen nur sehr wenig über das Innenleben, und viele Details bleiben einfach verborgen. Was man aber sagen kann, ist, daß derlei Vorschriften eine wichtige Funktion für das Gruppenleben hatten und nicht einfach nur allgemeingültige Metaphern darstellten.

Man muß sich die Gebote anschauen, mit denen die Regel über das Viertelmaß zusammengestellt ist. Es handelt sich dabei um Fragen der Reinlichkeit, um Speisevorschriften. Die Ernährung war für die Pythagoreer extrem wichtig, bis hin zu vegetarischen Vorstellungen, und auch da gab es Grenzen, Pythagoras und die Bohnen. Daß man das Getreidemaß nicht zweckentfremden oder gar verunreinigen soll, hat sicher ganz handfeste und praktische Gründe in der Haushaltsführung einer pythagoreeischen Gruppe gehabt.
 
Interessante Überlegung, auch das Weizenmass in den Kontext von Reinheitsgeboten zu rücken.

Das könnte natürlich sein.

Burnet sortiert Gruppen: Reinheit etc. kombiniert, andere mit Symbolik für Moral und natürlich weitere mit mathematischem Bezug.

Folgt man der Reihenfolge von Orellius, so steht das Weizenmaß nicht direkt vor den Lebensmitteln, sondern es folgt die Ansage nach, nicht über den Wiegebalken, Waagebalken (Deichseljoch), Querbalken einer Goldwaage hinüber zu treten.

Nun kann natürlich die Reihenfolge falsch sein, und Weizenmaß kann man sowohl auf die Lebensmittel als auch auf die Gruppe des mathematischen "Gleichgewichts" der Welt beziehen.

Das Maß für Weizen nicht zu verunreinigen, klingt ebenfalls plausibel.
 
Ich habe auch erst nach einer mathematischen Begründung gesucht, alldieweil der Vier in der pythagoreeischen Lehre ja eine besondere Bedeutung zukommt, aber das erschien mir dann doch alles zu konstruiert.
Die Verbindung mit der Waage kann man auch dahingehend deuten, daß nichts verfälscht werden soll, was auch eine Art der Reinheit wäre. Wobei zu fragen ist, wie weit es wirklich eine feste Reihenfolge gab - ich kenne die Liste so, daß vor dem Viertelmaß das Gebot steht, keinen Kranz zu zerreißen, und danach, kein Herz zu essen, aber diese Reihenfolge kann ja von jedem Bearbeiter beliebig geändert worden sein.

Was man auch bedenken sollte, ist die Möglichkeit persönlicher und aus Sicht dritter Menschen vielleicht irrationaler Gebote. Ich meine, nur weil Pythagoras keine Bohnen mochte, macht er ein Gebot draus? Und was ist das Problem mit einem weißen Hahn, das nicht auch ein andersfarbiger Hahn hätte?

Noch als Nachtrag - ich habe mich dumm und dusslig gesucht nach einem Orellius, der in meinen beiden Pythaogorasbiographien nirgends als Quelle erwähnt wird und auch im neuen Pauly nicht verzeichnet wird.
Johann Konrad Orelli dagegen, ein Schweizer Theologe und Philologe des 18. Jhs., war schon eher auffindbar, ist dann aber natürlich keine Quelle mehr.
 
Oh, sorry, ich hatte das wegen der Verlinkung (Orelli) als klar angesehen.

Der bsb/MDZ-link geht auch direkt auf seine Sammlung der Sprüche, mit seiner Reihenfolge.

Die Verbindung mit den im Band genannten Quellen habe ich nicht geprüft.
 
Meine Schuld, das war wieder der übliche Tunnelblick. Ich hatte sofort angenommen, daß es wieder irgendein spätantiker Autor sei, von dem ich bisher mal wieder nichts gehört habe, und habe den Johann Konrad völlig ausgeblendet.
 
“Nicht auf einem Viertelmaße zu sitzen”. Die Bedeutung dieser Regel ist uns trotz intensiver Recherche verborgen geblieben.

Diogenes Laertius hat in seinem Werk Über Leben und Lehren berühmter Philosophen im Abschnitt über Pythagoras (dort unter XVIII.) die Regel so erklärt: Das choinix (Behälter als Maßeinheit für die tägliche Ration Korn) steht symbolisch für die Gegenwart. Nicht auf dieser zu "sitzen" bedeutet, nicht nur in den Tag hinein zu leben, sondern den Blick über ihn hinaus in die Zukunft zu richten.

Leben und Lehren berühmter Philosophen, Buch VIII, Kap.1:

18. Was den Sinn dieser Sprüche anlangt,

  • so bedeutete das Wort "Mit dem Schwerte nicht das Feuer schüren" so viel wie:
    • wecke nicht den Zorn und die schwellende Wut der Gewalthaber;
    "die Wage nicht überschlagen lassen":
    • nicht Recht und Billigkeit überschreiten;
    "nicht auf dem Kornmaß sitzen": für Gegenwart und Zukunft Fürsorge tragen,
    • denn das Kornmaß ist die tägliche Nahrung.
    Der Spruch "das Herz nicht essen" bedeutete,
    • nicht durch Kummer und Leid die Seele auszehren.
    Der Spruch, sich nicht umzuwenden, wenn man auf Reisen geht,
    • enthielt die Mahnung an die aus dem Leben Scheidenden,
      • nicht sehnsüchtig am Leben zu hängen
        • und sich nicht von den irdischen Lüsten fesseln zu lassen.
 
Mich erinnert die Debatte an eines meiner Lieblingsstücke in einem kleinen Heimtmuseum: Ein "Scheffel", also ein Getreidemaß, aus dem 19. Jahrhundert.
Das Stück trägt die Jahreszahl "1848" und wurde zusammen mit zahlreichen anderen solcher Scheffel aus diesem Zeitraum im Dorf zurück gelassen.
Und zwar von Auswanderern, in diesem Fall nach Amerika.

Das Getreidescheffel war nämlich gleichzeitig das gültige Maß für die Erhebung von Steuern/Naturalabgaben. Damit war es mit einer unerwartet starken Symbolik verbunden, dieses Relikt staatlichen Einflusses auf das Privatleben bei der Auswanderung zurück zulassen.

Ganz im Sinne von "Was nehmen wir mit ins neue Vaterland, so allerlei, so allerhand", einem zeitgenössischem Auswandererlied "Weil es in der neuen Welt - sonst den Deutschen nicht gefällt" oder so ähnlich entnommen. Titel ist mir leider nicht geläufig. Melodie dagegen schon.

Kann es sein, dass auch in der fraglichen Epoche der Antike das Getreidemaß auch ein Steuerzeichen darstellte und der Satz daher - im Zusammenhang mit den erwähnten Wiegebalken und anderen Instrumenten staatlichen Maß- und Gewichtswesens - frei bedeutet:
"Du sollst keine Steuerschuld auf dir lasten lassen/keine Steuern zurück behalten"?

Und: Wie würde die Welt sich anders verhalten haben, wenn alle, die sich als Pytagoreer sehen wollten, diese Regel so begriffen hätten?
Aber: Ich vergass gerade, dass "was wäre, wenn" keine historische Frage darstellt. Schade.
 
Könnte sich auch auf die Aussaat beziehen: nicht auf dem Saatgut sitzen bleiben (aus Geiz, oder um es zu zweckwidrig essen), sonst hast du in Zukunft nichts.

Viellicht wird mit dem Getreidemaß abgemessen, wie viel Saatgut für eine bestimmte Fläche benötigt wird.
 
Andere Frage hätte ich:

Weiß jemand Konkreteres zu Pythagoreer-Pogromen bzw. -verfolgungen z.B. aus dem Bereich auch lokaler (Politik?)Forschung?

Lg
 
Weiß jemand Konkreteres zu Pythagoreer-Pogromen bzw. -verfolgungen z.B. aus dem Bereich auch lokaler (Politik?)Forschung?

Es gibt bei Iamblichus, "De vita Pythagorica", eine überaus konkrete Legende um die Pythagoräerin Timycha. Es geht dabei zwar nicht um einen Pogrom, aber in eindrucksvoller Weise um die Standfestigkeit der Pythagoräer, wenn ihre Prinzipientreue auf dem Spiel stand.

Der Tyrann von Syracus, Dionysos, hatte vergeblich versucht, die Freundschaft von Pythagoräern zu gewinnen, da sie seine politischen Praktiken strikt ablehnten. Also befahl er dem Truppenführer Eurymenes, den Pythagoräern zwischen Tarentum und Metapontum aufzulauern, wo sie sich jahreszeitbedingt vorwiegend aufhielten, und sie lebend gefangenzunehmen. Den zahlenmäßig weit unterlegenen Pythagoräern wird auf der Flucht der Weg durch ein blühendes Bohnenfeld versperrt, das sie aber nicht betreten, weil der körperliche Kontakt mit Bohnen ein pythagoräisches Tabu ist. Also versuchen sie die Angreifer mit Steinen abzuwehren, was natürlich misslingt und mit dem Tod aller Pythagoräer endet.

Auf dem Rückweg nach Syrakus begegnet Eurymenes, der das Problem hat, entgegen der Order des Königs keine lebenden Gefangenen gemacht zu haben, dem Pythagoräerpaar Millias und Timycha, beide aus Sparta stammend, die hinter der Hauptgruppe zurückgeblieben sind, weil Timycha im 6. Monat schwanger ist. Sie werden gefangengenommen und vor Dionysos gebracht, der über den Tod der Hauptgruppe sehr betrübt ist und dem Paar - aus einem Schuldgefühl heraus - die Beteiligung an seiner Regierung anbietet. Millias und Timycha aber lehnen ab.

Daraufhin fragt Dionysos nach dem Grund für die Entscheidung der Pythagoräer, lieber im Kampf zu sterben als ein Bohnenfeld zu betreten. Millias antwortet, lieber würde er ein Bohnenfeld betreten als Dionysos den Grund für jene Weigerung zu verraten. Der erzürnte König lässt ihn wegbringen und Timycha foltern, um an das Geheimnis zu gelangen. Statt aber zu reden, beißt sie ihre Zunge ab und spuckt sie dem Tyrannen ins Gesicht.

Die Legende belegt u.a., wie schwierig es für Außenstehende war, die Freundschaft von Pythagoräern zu gewinnen.

++++

Der bekannteste tatsächliche Pogrom gegen Pythagoräer fand in Kroton (Sizilien) statt, wo Pythagoras und seine Gruppe in der Stadtpolitik kräftig mitmischten, allerdings wohl kaum in dem Ausmaß, wie Diogenes Laertius es behauptet, der Pythagoras als Regenten der Stadt hinstellt. Jedenfalls wurde der Aristokrat Kylon eines Tages von Pythagoras abgewiesen, als er um Aufnahme in den Orden bat. Gedemütigt begann Kylon seine gewalttätigen Anhänger gegen die Pythagoräer aufzuhetzen, woraufhin Pythagoras um 510 BCE nach Metapont übersiedelte. Kroton blieb aber unter (zumindest weitgehender) pythagoräischer Herrschaft, was eine aristokratische Regierungsform implizierte, die den Freunden der Demokratie widerstrebte. So kam es - nach dem Bericht des Philosophen Aristoxenos - um 450 BCE in Kroton zu weiteren Unruhen, bei denen das Haus des Milon während einer Pythagoräerversammlung abgefackelt wurde, was nur zwei junge Pythagoräer überlebten, Archippos und Lysis.

Diogenes Laertius dichtet Pythagoras fälschlich jenen Tod am Bohnenfeld an, den die obengenannte Legende für eine ganz andere pythagoräische Gruppe schildert. Er vermischt diese mit einer antipythagoräischen Satire, die ein gewisser Hermipp verfasst hatte. Archippos und Lysis sind, der zweifelhaften Diogenischen Version gemäß, dem Massaker am Bohnenfeld entkommen statt dem Brand in Milons Haus.

Aus Diogenes Laertius, "Leben und Lehren berühmter Philosophen"; VIII, 1:

Man habe bemerkt, wie Pythagoras sich von der Unheilsstätte entfernte; vor einem Bohnenfelde angekommen, blieb er stehen mit den Worten: "Besser, sich gefangen geben als die Bohnen niederzutreten, und besser, ermordet zu werden als sich auf Unterhandlungen einzulassen;" und so sei er von den Verfolgern niedergemacht worden.

Ebenso sei auch die Mehrzahl seiner Genossen umgekommen, an die Vierzig; nur ganz wenige seien entkommen, zu denen der Tarentiner Archippos gehörte und der oben genannte Lysis.
 
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