Die Radikalisierung der Rechten in der Weimarer Republik

thanepower

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In einem anderen Thread ging es um die Radikalisierung der Rechten bzw. der extremen Rechten in der Weimarer Republik. Ein derartigen Thread gibt es so bisher nicht. Andere befassen sich punktuell mit Organisationen oder einzelnen Ereignissen, aber nicht dem dem Prozess insgesamt und den politischen und sozialen Trägern.

Dieses auch vor dem Hintergrund der Frage, aus welchem Milieu und aus welchem ideologischen Umfeld sich die führenden Köpfe der SA und noch zugespitzter der SS rekrutiert haben.

Im Kern sollte eher der biografische Ansatz stehen, über den die sehr unterschiedlichen Lebensläufe deutlich werden können und zeigen, dass es keine einheitliche Form der Radikalisierung gab, trotz gemeinsamer Erfahrungen und auch Ähnlichkeiten der politischen Sozialisierung

Insgesamt ist das ist ein interessantes Thema rund um die Radikalisierung der extremen Rechten im Rahmen der Freikorps, die Schwarze Reichswehr, die Geheimorganisationen (Organisation Consul etc.), das man gerne vertiefen kann.

Dabei können drei Organisationsformen benannt werden, die als frühe Plattformen die extreme politische Radikalisierung auf der Rechten mit getragen haben.

Im politischen Umfeld wären da zunächst die "gemäßigteren" deutschnationalen, antisemitischen rechten Parteien, die den politischen, bürgerlichen und konservativen Resonanzboden und das Umfeld für die radikaleren Organisationen gebildet haben

- Alldeutschen
https://de.wikipedia.org/wiki/Alldeutscher_Verband

- DNVP
https://de.wikipedia.org/wiki/Deutschnationale_Volkspartei

Relevant sind zusätzlich weltanschauliche Gruppieren, in denen sich "Gleichgesinnte" organisiert haben

- weltanschauliche Gruppieren / z. B. "Thule Gesellschaft"
https://de.wikipedia.org/wiki/Thule-Gesellschaft

Wichtig für die gewaltorientierte Radikalisierung waren zudem die paramilitärischen Vereinigungen, die teilweise mit Duldung der offiziellen Stellen oder sogar in deren Namen agieren konnten.

- Freikorps
https://de.wikipedia.org/wiki/Freikorps

- Schwarze Reichswehr
https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarze_Reichswehr

Geheimorganisationen / z.B. "Organisation Consul"
https://de.wikipedia.org/wiki/Organisation_Consul

Dieses als Einstieg in ein komplexes und spannendes Thema und auch unter dem Aspekt der Radikalisierung hin zur "Endlösung".

Allgemein und noch sehr "selektiv" dazu:
Bromhead, Alan de; Eichengreen, Barry; O'Rourke, Kevin H. (2013): Political extremism in the 1920s and 1930s: Do German lessons generalize? In: The Journal of Economic History 73 (02), S. 371–406.
Evans, Richard J. (2003): The coming of the Third Reich. London: A. Lane.
Gerwarth, Robert (2013): Reinhard Heydrich. Biographie. Unter Mitarbeit von Udo Rennert. München: Pantheon.
Hilberg, Raul; Pehle, Walter H. (2016): Anatomie des Holocaust. Essays und Erinnerungen. Berlin: S. Fischer
Ingrao, Christian (2012): Hitlers Elite. Die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmords. Berlin: Propyläen.
Kershaw, Ian (2008): Hitler, the Germans, and the final solution. Jerusalem, New Haven [Conn.]: International Institute for Holocaust Research, Yad Vashem; Yale University Press.
Kühl, Stefan (2014): Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust. 1., Orig-Ausg. Berlin: Suhrkamp
Mallmann, Klaus-Michael; Paul, Gerhard (2013): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische täterbiographien. 3. Auflage. Darmstadt, Germany: Primus Verlag (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Band 2).
Mann, Michael (2004): Fascists. Cambridge, New York: Cambridge University Press.
Wildt, Michael (2003): Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichsicherheitshauptamtes. Hamburg: Hamburger Ed.
 
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Interessanter Thread!

Als ich mich zuerst intensiver mit dem NS befasste, überraschte mich der relativ hohe Anteil an verhältnismäßig jungen Akademikern in der NSDAP und deren Organisationen. Schon vor dem Einbruch der Weltwirtschaftskrise hatte der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund in den Studentenausschüssen vieler Universitäten beachtliche Stimmen und Sitze erreicht.

Die Elitekonzeption des ehemaligen Hühnerzüchters Himmler wurde anfangs belächelt, schien aber recht bald eine hohe Attraktivität auf Akademiker und Ex-Offiziere auszuüben, die nicht zu den alten Eliten gehörten und deren Existenz als bedroht erschien. Schon vor der Machterschleichung traten auch Mitglieder des Hochadels der SS bei wie der Erbprinz von Mecklenburg, Josias von Waldeck-Pyrmont und die Prinzen Christof und Wilhelm von Hessen. Neben Adeligen kamen auch Bürgerliche wie Walther Schellenberg und Otto Ohlendorf, um im Sicherheitsdienst der SS Karriere zu machen.

Die Teilnehmer der Wannseekonferenz waren erstaunlich jung. Die Hälfte jünger, als Vierzig und nur zwei älter, als 50. Zwei Drittel hatte studiert, die meisten Jura, und die Hälfte hatte promoviert.
 
Interessanter Thread!

Als ich mich zuerst intensiver mit dem NS befasste, überraschte mich der relativ hohe Anteil an verhältnismäßig jungen Akademikern in der NSDAP und deren Organisationen.

Die Elitekonzeption des ehemaligen Hühnerzüchters Himmler wurde anfangs belächelt,

Das sind zwei wichtige Kernpunkte. Zum einen die These einer generationsspezfischen Radikalisierung, die im Kern annimmt, dass die Radikalität des jüngeren Alters die radikalen Mittel im Rahmen der Endlösung erklärt.

Und zum anderen die Erfahrung einer Generation, die vom kollektiven sozialen Abstieg aus den Mittelschichten sich bedroht fühlte und aus diesem Grund eine Zuwendung zu einer "neuen Elite" gesucht hatte. Also individuellen und kollektiven sozialen Aufstieg suchte in einer Zeit, in der vor allem die Mittelschicht durch die kriegsbedingte Hyperinflation und durch die Weltwirtschaftkrise sich bedroht fühlte.

Und deswegen die Ideologie der Rechtfertigung von "Rechts": Und wer sich bedroht fühlt, der ist natürlich automatisch legitimiert, alle Mittel zu nutzen, sich zu verteidigen. Es geht ja um einen Angriff auf "das Staats-Volk", dass es - vermeintlich - zu verteidigen galt. Da war es gut, dass die individuellen und subjektive Motivation erstaunlich gut mit einer universellen, altruistischen Motivation, die dem "Volkswohl" - angeblich - dienen wollte, übereinstimmte. Die individuellen Interessen wurden auf die staatlichen Interessen projiziert.

Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass die extreme Linke sehr ähnlich argumentierte und beide somit als Strategien begriffen werden können, die Modernisierungsprojekte der ehemaligen feudalen Gesellschaften voran zu bringen. Das wäre aber ein anderes Thema.

Beide Aspekte sind für die Erklärung der Radikalisierung vermutlich sehr wichtig. Diese Aspekte kann man als Einstieg an den Biographien von Himmler und Heydrich gut illustrieren.

Gerwarth, Robert (2013): Reinhard Heydrich. Biographie. Unter Mitarbeit von Udo Rennert. München: Pantheon.
Longerich, Peter (2010): Heinrich Himmler. Biographie. München: Pantheon.
Mües-Baron, Klaus (2011): Heinrich Himmler. Aufstieg des Reichsführers SS (1900-1933). Göttingen: V&R unipress.

Insgesamt ist die Literatur, die sich mit speziellen Aspekten beschäftigt nicht so umfangreich. Es gibt wenige spezielle Studien zur Organisation Consul und auch nicht so viele zur "Schwarzen Reichswehr", erstaunlicherweise.

Als Einstieg in die Radikalisierung der Rechten zwischen Kaiserreich, verlorenem Krieg, Weimar und dem 3 Reich sind folgende Beiträge bzw. Dissertationen hilfreich (natürlich nur, wer mag ;))

Jones
https://books.google.de/books?id=gFmLCwAAQBAJ&pg=PT28&lpg=PT28&dq=Political+Violence+in+Italy+and+Germany+after+the+First+World+War&source=bl&ots=szz7vIiWW8&sig=Lca1oEkFQO08Qf8yy012ZJGy4z0&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwjNg_yHiOvOAhVsCpoKHWvYCJ0Q6AEIRDAG#v=onepage&q=Political%20Violence%20in%20Italy%20and%20Germany%20after%20the%20First%20World%20War&f=false

Hofmeister
https://repository.library.georgetown.edu/bitstream/handle/10822/558070/Hofmeister_georgetown_0076D_11532.pdf?sequence=1

Jung
http://ediss.uni-goettingen.de/bitstream/handle/11858/00-1735-0000-0006-B4BD-2/jung.pdf?sequence=1
 
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In dem Zusammenhang denke ich über den emanzipatorischen und fortschrittlichen Teil der NS-Propaganda nach, den Gedanken der Befreiung von den Machthabern im Staat, des Abschneidens alter Zöpfe in Justiz und Verwaltung etc.
Da war wohl manches überfällig und die Nazis nutzten das, um sich als Modernisierer darzustellen. Ich hebe das hervor, weil es ein brandgefährliches Thema ist und man heute dazu neigt, NS-Ideologie auf ihre krude-konservativen oder rassistischen Aussagen zu reduzieren.
 
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"Modernisierung" ist, wie gesagt, ein "anderes Thema". Sofern Du daran interessiert bist, dann mach einen Thread auf und stelle die Thesen von Prinz, Zitelmann und anderen vor (vgl. z.B. zum aktuellen Forschungsstand: Bavaj: Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus)

Zu Deinen Punkten, die vielleicht mßverständlich formuliert wurden, ein deutlicher Widerspruch.
In dem Zusammenhang denke ich über den emanzipatorischen und fortschrittlichen Teil der NS-Propaganda nach

Es gab keine "emanzipatorische" Teile in der NS-Ideologie. Weil Emanzipation die Eigenständigkeit des Individuums "von Etwas" bedeutet und die NS-Ideologie auf die bedingungslose Unterordnung unter die NS-Volksgemeinschaft abzielte. Nicht umsonst wurde das 3. Reich als ein "totalitäres System" in der Literatur beschrieben.

Ob das NS-System nun "fortschrittlich" war, kann im Sinne eines linearen Zeitverständnisses vielfältig interpretiert werden. In diesem Sinne kann man die Nutzung von Atomenergie als "fortschrittlich" definieren und auch Ideen wie "Lebensborn" etc. Fortschritt bedeutet nicht besser und schon gar nicht ethisch unproblematischer.

den Gedanken der Befreiung von den Machthabern im Staat, des Abschneidens alter Zöpfe in Justiz und Verwaltung etc.

Das liest sich schon "leicht schräge", angesichts der realen Entwicklung und dem Ende / der Ermordung von Politikern der Weimarer Republik in Konzentrations-Lagern. Da wurde eine "Befreiung von den Machthabern im Staate" entgegen rechtsstaatlicher Prinzipien praktiziert.

Und die Abschaffung einer "Rechtsstaatlichkeit" nach der Machtergreifung und die Gleichschaltung der Justiz und Polizei steht auch in einem gewissen "Spannungsverhältnis" zu obiger Aussage des Abschneidens - vermeintlicher - "alter Zöpfe in Justiz und Verwaltung".

Aber an einem Punkt stimmt die Aussage sicherlich. Das NS-System hat im Gegensatz zur Weimarer Republik viel konsequenter Mitarbeiter aus ihren Reihen entfernt, die noch eine konservative monarchistische Orientierung aufwiesen. Und somit den konservativen Widerstand in der staatlichen Administration relativ schnell gebrochen.

Da war wohl manches überfällig und die Nazis nutzten das, um sich als Modernisierer darzustellen.

Ich wüßte nicht, was da "überfällig" gewesen sein sollte, zumal die Verfassung von Weimar - basierend auf den Überlegungen der Paulskirche - eine der fortschrittlichsten in Europa war. Zudem war das Sozialsystem eines der modernsten und sicherte die Bürger der Weimarer Republik in einem bis dahin nicht gekannten Maß sozial ab.

Ansonsten bleibt der "Autobahnbau", die "Beseitigung der Arbeitslosigkeit" und "Kraft durch Freude".

Über den Rest an NS-Retro-Ideologie auch im Bereich der wirtschaftlichen Konzepte in Richtung eines "Stände-Staates", ist schon einiges im Forum geschrieben worden.

Aber wie gesagt, ist ein anderes Thema und ein anderer Thread, das es sicherlich wert wäre differenzierter betrachtet zu werden.
 
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Es gab keine "emanzipatorische" Teile in der NS-Ideologie. Weil Emanzipation die Eigenständigkeit des Individuums "von Etwas" bedeutet und die NS-Ideologie auf die bedingungslose Unterordnung unter die NS-Volksgemeinschaft abzielte. Nicht umsonst wurde das 3. Reich als ein "totalitäres System" in der Literatur beschrieben.

Wenn man Emanzipation auf den Begriff des Individuums bezieht hast du natürlich recht. Die Nazis bezogen das aber auf Rassen und Bevölkerungsschichten. Die Befreiung des "ehrlichen Arbeiters" von der Unterdrückung durch den (natürlich jüdischen) Kapitalisten etc.
Das wurde nun mal als Revolution und Gerechtigkeit verkauft und so wahrgenommen.

Ob das NS-System nun "fortschrittlich" war, kann im Sinne eines linearen Zeitverständnisses vielfältig interpretiert werden. In diesem Sinne kann man die Nutzung von Atomenergie als "fortschrittlich" definieren und auch Ideen wie "Lebensborn" etc. Fortschritt bedeutet nicht besser und schon gar nicht ethisch unproblematischer.
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Und die Abschaffung einer "Rechtsstaatlichkeit" nach der Machtergreifung und die Gleichschaltung der Justiz und Polizei steht auch in einem gewissen "Spannungsverhältnis" zu obiger Aussage des Abschneidens - vermeintlicher - "alter Zöpfe in Justiz und Verwaltung".
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Es lag einiges im Argen in der Weimarer Republik, nicht wegen der demokratischen Elemente sondern weil sich Besitz und Privilegien bei den alten Eliten verfestigt hatten.
Du machst den Fehler zu übersehen, dass ich mich explizit auf die Propaganda der Nazis bezog und nicht auf ihre Herrschaftspraxis. Ich habe auch an keiner Stelle die unmenschliche Seite der Propaganda oder Ideologie relativiert, geschweige denn das NS-Regime.

Propaganda bedient nun mal reale Bedürfnisse des Empfängers. Sie mobilisiert auch Regungen und Impulse, die sonst zu durchaus ehrenwerten Handlungen hätten führen können. Nicht umsonst haben die Nazis propagandistisch bei der Konkurrenz hemmungslos abgekupfert.
Wer so etwas ausblendet, wird beim nächsten mal kalt erwischt.
Aber ich schweife ab, da hat Du recht.
 
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Die Verfassung der Weimarer Republik war eine der fortschrittlichsten Europas

- Viele der Männer, die sich dem NS öffneten, waren durch das Das Kriegserlebnis geprägt, für sie war der Krieg niemals zu Ende. Der Krieg hatte eine bis dahin nie gekannte Radikalisierung auch und gerade im zivilen Leben zur Folge. Die Verachtung des Lebens, die Bereitschaft, politische Gegner mit Gewalt zu bekämpfen, wurde noch enorm radikalisiert, durch die Verwerfungen, die die Kriegsfinanzierungsmethoden mit sich brachten. Viele Menschen hatten nicht nur Angehörige verloren, sondern auch ihr Vermögen und ihre Ersparnisse. Während des Krieges hatte man immer wieder die Menschen bei der Stange gehalten, indem man ihnen versprach, dass diese Offensive, jene Kriegsanleihe jetzt wirklich die letzte sei und danach der Siegfrieden komme. Statt des Sieges kam der Zusammenbruch und die Niederlage. Alle Opfer, alle Leiden, alle Entbehrungen waren letztlich sinnlos gewesen. Ein idealer Nährboden für Verschwörungstheorien und Sündenbockkonzepte. Irgendjemand musste schuld sein, und die alten Eliten, die den Karren in den Dreck gesetzt hatten, überließen es anderen, dafür die Verantwortung zu übernehmen.

Kulturell regte sich einiges, Berlin entwickelte sich in den 20er zur schillernden Metropolis, Künstler entwickelten neue Ausdrucksformen wie Expressionismus, Dadaismus, Jazz etc. Was aber die radikalen Rechten in der Weimarer Republik einte, das war die

-Ablehnung der sozialen und humanitären Errungenschaften seit der Französischen (und Russischen) Revolution, sowie die der avantgardistischen kulturellen Strömungen, der "Goldenen Zwanziger". Jazz, Expressionismus, Dadaismus wurde durch den Kampfbegriff "Kulturbolschewismus" diskreditiert.

-Radikaler Antikommunismus und Antisemitismus war sozusagen ein Bindeglied, das die radikalen Rechten in Europa einte.
 
Dennoch propagierten die Nazis keine Rückkehr zum Kaiserreich, oder eine Abwicklung des Deutschen Reichs. Sie verkauften ihr Konzept als etwas neues, wenn auch mit Anleihen an ein erfundenes frühes Germanien und werweißworan noch. Mancher dachte sicher, die würden endlich die Heilsversprechen der Moderne einlösen.
Darüber, dass wir hier über Massenmörder und Blender reden müssen wir nicht streiten.
 
...in Anlehnung an Scorpio; Gerade die Goldenen Zwanziger, nach der schweren Krise 1923, nahmen aber dann mit der Weltwirtschaftskrise ein jähes Ende. Wir haben als drei eminente Krisen/Brüche, der verlorene Krieg und die Revolution, die Hyperinflation und die Weltwirtschftskrise. Wer Grund und Boden hatte kam relativ gut durch, aber gerade die Mittelschicht wurde hart getroffen. Wie Scorpio erwähnt, ein idealer Nährboden für Seelenfänger.
 
Irgendwo zögere ich ein bisschen Jugendbewegungen wie die Wandervögel, die Pfadfinder, die Bündische Jugend u. a. in einem Atemzug mit Freikorps oder Thule-Bewegung zu nennen, schließlich rekrutierten sich spätere Gegner des NS wie die Weiße Rose und die Edelweißpiraten aus diesen Kreisen.
Dennoch gab es bereits innerhalb von Jugendbünden wie den Artamanen Prinzipien, die solche des NS vorwegnahmen:

- Führerprinzip
-Kriegsverherrlichung
- Ostkolonisation
-Blut und Boden-Ideologie
-Wehrbauernideen
-Germanenkult, Neopaganismus

Heinrich Himmler, Baldur von Schirach, Rudolf Höß, Richard Darré u. a. waren von den Artamanen beeinflusst.
 
Das geht mir ähnlich, wobei meine Bedenken schon bei dem Begriff der "(extremen) Rechten" ansetzen, der für mich definitionsbedürftig ist.

Gemeint sind doch in erster Linie, wenn ich es recht verstehe, Personen/Gruppen, die explizit empfehlen/fordern, andere Personen/Gruppen aufgrund eines bestimmten Merkmals – z.B. "fremdrassig" oder "böse" oder "feindlich" – außerhalb der Gesellschaft zu stellen und Gewalt gegen sie anzuwenden bis hin zur Eliminierung bzw. zum Ausschließen aus der Gattung Mensch.

Die Organisationsform wäre relativ unwichtig: Partei, Verband, Geheimbund usw. Interessant wäre vielleicht eine Abschichtung nach Motiven, wobei das Spektrum vom Sadisten über den gewöhnlichen Verbrecher bis zum ("anständig gebliebenen") Überzeugungstäter reicht; Esoteriker z.B. können dazugehören, müssen aber nicht.

Der Punkt ist, dass es eben "die" Antwort, warum ein Mensch zum Kriegsverbrecher und Massenmörder wird, nicht gibt. Sicher gab es im Mikrokosmos von Auschwitz Fälle von pathologischer Grausamkeit, und es liegt der Vorwurf nahe, von Anormalität zu sprechen, die Erfahrungen aus Prozessen nach dem Krieg zeigen aber, dass das in den meisten Fällen nicht zutrifft, dass die Mehrheit der Täter im medizinischen Sinne "normale" Menschen waren.
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Thane,
Danke für den interessanten Thread.

Ich hab mich schon gefragt wie das so ging,
etwa:
inwiefern die Radikalisierung in zeitlich erkennbaren Schüben ablief,
aus welchen Wurzeln sie sich speiste, wie deren Tiefe in verschiedenen Ebenen war,
in welcher Weise sich das darauf wachsende Geflecht entwickelte und in der zeitlichen Abfolge
darstellte.

Scorpio,
http://www.geschichtsforum.de/772356-post2.html
darauf bin ich auch gestoßen. Die wirkmächtige Elite des frühen NS-Staats war vergleichsweise jung*.

In dem Zusammenhang denke ich über den emanzipatorischen und fortschrittlichen Teil der NS-Propaganda nach, den Gedanken der Befreiung von den Machthabern im Staat, des Abschneidens alter Zöpfe in Justiz und Verwaltung etc.
..
Goebbels, wenig Wunder,.. er wurde ja Propaganda-Minister.., sah den Kern des Fortschritts in einer Entwicklung der Propaganda selbst.
Deren Motor müsse der ungezähmte Fanatismus sein, den er seinen Tagebüchern über alles preist.
Fortschrittlich ist das gewiss, wenn man fort schreiten will.



*Götz Aly https://books.google.de/books?id=Xg...IJDAB#v=onepage&q=götz aly volksstaat&f=false spricht gar von einer „Jugenddiktatur“, und meint wohl eher den ungewöhnlich hohen Anteil der jungen Erwachsenen im Besitz einer Entscheidungsmacht.
 
...
*Götz Aly spricht gar von einer „Jugenddiktatur“, und meint wohl eher den ungewöhnlich hohen Anteil der jungen Erwachsenen im Besitz einer Entscheidungsmacht.

Nun ja, kollektive Aufbruchsstimmung macht auch mir potentiell mehr Sorgen als Rückwärtsgewandtheit. Die Zukunft bietet einfach mehr Projektionsfläche und ist weniger mit Fakten kontaminiert.
 
Irgendwo zögere ich ein bisschen Jugendbewegungen wie die Wandervögel, die Pfadfinder, die Bündische Jugend u. a. in einem Atemzug mit Freikorps oder Thule-Bewegung zu nennen, schließlich rekrutierten sich spätere Gegner des NS wie die Weiße Rose und die Edelweißpiraten aus diesen Kreisen.

Es ist durchaus angemessen, sie zusammen zu nennen. Im Bereich der Sozialisationsforschung ist ein Konzept vorhanden, das man sich bildlich wie ein Baum oder wie ein Schienennetz vorstellen kann. Es gibt immer wieder Knoten/Weichen, bei denen Entscheidungen über die Kontinuität oder die Diskontinuität der Sozialisation getroffen wird (vgl. beispielsweise Kohli)

In diesem Sinne verläuft der Prozeß der politischen Sozialisation so, dass durch sukzessive Entscheidungen eine kontinuierliche Radikalisierung erfolgt. Diese Radikalisierung des politischen Weltbilds erfolgt in der Regel nur graduell, da frühere Werte und Überzeugungen kongruent gemacht werden müssen. Wie es beispielsweise Zelle im Rahmen des sozialpsychologischen Konstrukts der „Reduzierung von kognitiver Dissonanz“ (in Anlehnung an Festinger) für Himmler es diskutiert (S. 175ff).

Es sind dabei aber auch schnellere Formen der Radikalisierung denkbar wie es beispielsweise Benedict in Anlehnung an die militärische Stammessolidarität der Massai beschreibt. In diesem Fall übernimmt die Gruppe durch den sozialen Druck und auch durch die kollektive Akzeptanz der radikalen Werte eine Form der individuellen Entlastung, sofern die neuen Werte in Konflikt zu älteren Wertvorstellungen stehen.

So schreibt sie: „Der für unsere Überlegungen wichtige Punkt ist jedoch die Tatsache, daß dadurch der Einzelne bei der Übebrnahme eines neuen Bündels von Pflichten und Werten nicht nur von einer geschlossenen Phalanx von Altersgenossen unterstützt wird, sondern auch von dem traditionellen Prestige der organisierten Geheimbünde, in die er nun aufgestiegen ist. Individuen in solchen Kulturen bewegen sich …oft zwischen bemerkenswert gegensätzlichen Verhaltensextremen ohne sichtbare physische Belastunge.“ (Benedict, S. 203)

Diese Vorstellung der kollektiven Sozialisation wird ähnlich aufgegriffen in „Soldaten“ oder „Kameraden“ und soll erklären helfen, wie Personen sich in Gruppen radikalisieren.

Betrachtet man beispielsweise die sozialen Hintergründe der Himmlers oder der Heydrichs, dann kommen die Familien aus der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft und sind bis 1914 deutsch, patriotisch, monarchistisch und zeigen einen leichten konfessionell begründeten Antisemitismus (vgl. Gerwarth, S. 33-52, Longerich, S. 15-52 und Mues-Baron, S. 13-142).

Die Radikalisierung verlief bei Himmler und Heydrich zunächst völlig unterschiedlich. Bei Himmler kann man bruchlos eine kontinuierliche Radikalisierung nach 1918 bis hin zum Putsch von Ludendorff und Hitler im November 1923 erkennen. Demgegenüber konstatiert Lina von Osten über Heydrich, „Politisch war er ahnungslos…“ und das galt bis Anfang der dreißiger Jahre. (Gerwarth, S. 56).

Für Himmlers Radikalisierung, die auch teilweise für seinen konservativen Vater galt, war dabei die Niederlage und der Versailler Vertrag ein wichtiger Punkt, die eine Motivation bildete, sich dem rechtsextremen Netzwerk in München und Umgebung anzuschließen. Dieses beschreibt Bromhead und Eichengreen in komparativer Perspektive sehr schlüssig.

Das führte dazu, dass zunächst Röhm zur Himmlers politischem Idol wurde und nicht Hitler. Wie man auch konstatieren kann, daß die Radikalisierung in den sozialen Netzwerken durch Gespräche stattfand und auch über eine umfangreiche Literatur, die zunehmend radikaler antisemitisch wurde. Dennoch erfolgte diese politische Radikalisierung des Weltbilds relativ unabhängig von Hitler und seinen ideologischen Positionen (Longerich, S. 86-87).

Ich hab mich schon gefragt wie das so ging, etwa: Inwiefern die Radikalisierung in zeitlich erkennbaren Schüben ablief, aus welchen Wurzeln sie sich speiste, wie deren Tiefe in verschiedenen Ebenen war, in welcher Weise sich das darauf wachsende Geflecht entwickelte und in der zeitlichen Abfolge darstellte.

Bei Browder findet sich in der Einleitung eine interessante Diskussion, bei der er die „intentionalistische“ Variante der „funktionalen“ kontrastiert. Aus seiner Sicht hält er beide Erklärungen für sinnvolle und schlägt eine Kombination beider vor.

Er geht dabei von der organisationellen Entwicklung der SS und der Poilizei aus und vertritt die These, dass erst die zunehmende Konzentration von exekutiver Gewalt in den Händen von Himmler einen Vernichtungs-Apparat geschaffen hat, der die Vernichtung der Juden erst ermöglicht hatte.

In diesem Sinne waren durchaus militante Formen des Anti-Semitismus bereits 1933 bei Hitler oder Himmler vorhanden, aber es war noch nicht die „organisationlle Fantasie“ vorhanden, sich die Umsetzung im Rahmen der SS und des RSHA vorzustellen.

Die Konzentration der exekutiven Macht in den Händen von Himmler war dabei nicht unbedingt in 1933 zu erwarten, da das NS-Regime zu Redundanzen bei den Funktionen und der gegenseitigen Kontrolle von Herrschaftsinstrumenten neigte.

Es ergibt sich somit nach 1933 ein Interaktionseffekt zwischen radikalen ideologischen Positionen und immer umfassenderen exekutiven Möglichkeiten durch die SS, diese in praktische Pläne umzusetzen und mündet via "Wannseekonferenz" in eine umfassende Vorstellung der "Endlösung" ein.

Abschließend ist erneut anzumerken, dass keiner der genannten Autoren zur Frage Stellung bezieht, woher ein Heydrich seine Vorstellungen bzw. Blaupausen über die Durchführung des Genozids bezogen hatte. Die vorliegenden ausgewählten Quellen (Tagebücher ec.) scheinen nichts herzugeben.

Nachzutragen wäre noch, dass besonders die Kontakte zu Frauen wichtig für die Radikalisierung von Himmler und Heydrich waren. Bei Himmler ist es Maria Rauschmayer, die ihn in "tief empfundener Sympathie und Bewunderung" als politischen Gesinnungsgenossen anspricht und bestärkt. (Longerich, S. 83) Ähnliches gilt für Lina von Osten, die maßgeblich die Radikalisierung von Heydrich beeinflußt (Gerwarth, S. 59ff)

Benedict, Ruth (1978): Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Sozialisationsprozeß. In: Martin Kohli (Hg.): Soziologie des Lebenslaufs. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand (Soziologische Texte, n.F., Bd. 109), S. 195–205.
Bromhead, Alan de; Eichengreen, Barry; O'Rourke, Kevin H. (2013): Political extremism in the 1920s and 1930s: Do German lessons generalize? In: The Journal of Economic History 73 (02), S. 371–406.
Browder, George C. (1996): Hitler's enforcers. The Gestapo and the SS security service in the Nazi revolution. New York: Oxford University Press.
Gerwarth, Robert (2013): Reinhard Heydrich. Biographie. Unter Mitarbeit von Udo Rennert. München: Pantheon.
Longerich, Peter (2010): Heinrich Himmler. Biographie. München: Pantheon.
Mües-Baron, Klaus (2011): Heinrich Himmler. Aufstieg des Reichsführers SS (1900-1933). Göttingen: V&R unipress.
Zelle, Karl-Günter (2010): Hitlers zweifelnde Elite. Goebbels - Göring - Himmler - Speer. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh. Heinrich Himmler: S. 175-248
 
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Mit Himmler und Heydrich wurden zwei NS-Biographien vorgestellt, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufwiesen. Dt werden. ie Vielfalt der Biographien und speziell die Frage der unterschiedlichen Radikalisierung soll an drei weiteren Beispielen kurz illustriert

Bei Babara Tuchman findet sich die Darstellung einer „morbiden“ Stimmung im Vorfeld von 1914 wider, die durch die Verkrustung der feudalen Gesellschaft in Deutschland und Österreich-Ungarn maßgeblich geprägt wird. Es sind die zunehmend als unerträglich wahrgenommenen Widersprüche zwischen den feudalen Normen und den Werten der „alten Gesellschaft“ und einer dem sozialen Wandel unterworfenen „modernen“ Gesellschaft, wie es beispielsweise Mayer beschreibt, die nach einem "reinigenden Gewitter" verlangen.

Diese Widersprüche werden individuell teilweise als Verfalls- oder Degenerationsprozesse wahrgenommen und von Kulturkritikern wie Spengler als universelle Bedrohung der abendländischen Kultur beschrieben. Seine Sicht steht dabei eher stellvertretend für den Wunsch nach einer durchgreifenden Veränderung und nach einer besseren Gesellschaft. Der Konflikt über die Neuausrichtung der Gesellschaft berührte dabei auch die bestehenden Herrschafts- und Machtinteressen, aber er war in seinen wesentlichen Teilen ein Konflikt um die Hegemonie der einen, richtigen Weltsicht.

Vor diesem Hintergrund traten der Faschismus und der Bolschewismus als rivalisierende Ideologien an, um den mitteleuropäischen Gesellschaften eine neue Orientierung und ein neues Gesellschaftssystem zu bringen. In der Frühphase der Weimarer Republik traten somit die drei wichtigsten Modernisierungskonzepte direkt und unmoderiert aufeinander. Zum einen die Idee der klassischen kapitalistischen Demokratie, die Idee des National-Sozialismus bzw- National-Bolschewismus (Faschismus) und der Bolschewismus lenin`scher Prägung.

Für die Phase nach dem Zusammenbruch im November 1918 ist an manchen Punkten nicht verwunderlich, dass die Beschreibung der Mißstände in Deutschland in den nicht-monarchistischen Lagern ähnlich erfolgte. Und es wurde auch der Druck nach gesellschaftlicher Anpassung ähnlich intensiv wahrgenommen, allerdings unterschieden sich die Strategien der politischen Akteure deutlich.

Um die Bandbreite der Politisierung in der Weimarer Republik zu verdeutlichen, die nach dem Zusammenbruch einsetzte, soll auch die Phase der politischen Radikalisierung bei drei anderen Akteuren, Jünger, Kessler und Toller, kurz betrachtet werden. Ihr Weg führte nicht in die NS-Bewegung. Und es wird - hoffentlich - ansatzweise deutlich, wie zufällig die Rekrutierung verlief und die Personen entweder zu Funktionären des NS-Systems wurden oder in einen konservativen oder links-liberalen Widerstand gingen.

Die Politisierung von Jünger setzte relativ kurzfristig nach dem Beendigen seiner militärischen Laufbahn ein (Schwilk, S. 260ff). Zunächst tritt Jünger in das Freikorps Roßbach ein und übernimmt auch die „Landesführung Sachsen“. Er ist relativ schnell desillusioniert durch den krassen Unterschied zwischen dem hohen nationalistischen Pathos der Freikorps und der kriminellen Realität. „“Der Mythos der Befreiungskriege gegen Napoleon lässt sich kaum auf die Landsknechtnaturen übertragen, die sich in den Anfangsjahren der Weimarer Republik zu Verteidigern des Reichs berufen fühlten“. (Schwilk, S. 261).

Vor dem Hintergrund der Überzeugung von Jünger, dass „Seine Generation sei durch eine liberale Erziehung verpfuscht“, tritt er ca. seit März 1923 an, den „Relativismus“ seiner Generation endgültig zu überwinden. Bereits drei Wochen nach seinem Ausscheiden aus dem militärischen Dienst, formuliert er am 23. September 1923 einen extrem radikalen und polarisierenden Beitrag im Parteiblatt der NSDAP, dem „Völkischen Beobachter“. Sein Beitrag liest sich wie eine propagandistisch-polemisch zugespitzte Variation der Thesen von Spengler zum – angeblichen – Untergang des Abendlandes. „Demnach sei die sogenannte Revolution von 1918…kein Schauspiel der Wiedergeburt, sondern das eines Schwarmes von Schmeißfliegen gewesen, der sich auf einen Leichnam stürzte, um von ihm zu zehren. Man habe noch einmal die längst verfaulten Schlagworte des Marxismus aufgewärmt, um am Ende den Kapitalismus mächtiger denn je zu machen. Mit der Weimarer Republik seien die Vertreter des Materialismus in seiner ganzen Gemeinheit, Schieber, Börsianer und Wucherer, an die Macht gekommen Alles Reden und Handeln dreht sich um Ware, Geld und Profit. Wenige Wochen vor dem Hitler-Putsch ruft Jünger unzweideutig zur Revolution auf und sagt in suggestiver Diktion die Diktatur des nationalen Sozialismus voraus“ (Schwilk, S, 263).

Mit seiner radikalen Sicht positioniert er sich gegen pazifische und liberale Strömungen und polemisiert u.a. gegen Löns, ist aber auch gegen Tucholsky, Feuchtwanger oder Ossietzky inhaltlich positioniert und wird damit zu einem der propagandistischen Aushängeschilder einer nationalistischen und völkischen Ideologie, die Goebbels wenig später explizit in der NS-Propaganda fortführen und ausbauen sollte. (Schwilk, S. 269)

Mit dieser Sicht gehört Jünger zu dem Personenkreis, die der „Konservativen Revolution“ zu gerechnet wird und ihn später in das Umfeld des ultra-konservativen militärischen Widerstands im Westen bringen sollte.

https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_J%C3%BCnger

https://de.wikipedia.org/wiki/Konservative_Revolution

Bei Kessler verläuft die Politisierung in den Wirren der „November-Revolution“ anders ab. Er gehört in den Novembertagen 1918 bereits zum administrativen Umfeld der politischen Eliten in Berlin, wie beispielsweise von Haase (SPD/USPD).

Kessler bezeichnet den Sturz der Hohenzollern (9.11.) als einen der „furchtbarsten Tage der deutschen Geschichte“ und macht noch seine Verbundenheit mit dem Kaiserreich deutlich. Gleichzeitig beschreibt er für den 10. November aber auch eine kritische Stimmung: „ Die Person des Kaisers, der das alte Preußentum verschandelt und dadurch zugrunde gerichtet hat, wurde mit Verachtung besprochen.“

Insgesamt beurteilt er resümierend noch am 15. November 1918, das untergegangene Kaiserreich sehr kritisch und sagt:“ Der monarchische Gedanke war durch das völlige Versagen des Kaisers, namentlich im Kriege, aber auch schon durch seine glitzernde und beunruhigende Unfähigkeit vorher langsam abgetötet worden."

Und fährt am 10. November fort, über die Revolution zu philosophieren und schriebt ihr bemerkenswerte Eigenschaften der „Neuerfindung“ Deutschlands zu. „Der Chef der roten Garden, der das Excelsior Hotel bewacht, …..entwickelt mir sein Programm, das Gehorsam gegen die neue Regierung, Wahrung von Ordnung und Ruhe, Feindschaft gegen die Gewalt…umfaßt – ein junger Mensch von etwas 23 Jahren…der die Gesinnung der großen Mehrheit unserer Revolutionäre ausspricht. Alles in allem war… die Haltung des Volkes in den beiden bisherigen Revolutionstagen ausgezeichnet, dizipliniert, kaltblütig, ordnungsliebend, eingestellt auf Gerechtigkeit, fast durchweg gewissenhaft.“ Und vergleicht diese Haltung mit der „Opferfreudigkeit“ des deutschen Volkes im August 1914.

Durch seine unmittelbare Zugehörigkeit zur politischen Elite, Botschafter in Warschau und Parteimitglied in der DDP und auch als kosmopolitischer „Intellektueller bewahrt er sich seine Unabhängigkeit gegenüber extremistischen Strömungen. In diesem Sinne ist es kein Zufall, dass er in die DDP eintritt, die zunächst eine demokratische und links-liberale Programmatik vertritt. Nicht zuletzt durch Preuß, der als "Vater der Verfassung von Weimar" gilt, ist die DDP neben der SPD die wichtigste Partei, die die Verfassung am uneingeschränktesten unterstützt.

Vor allem in seiner Rolle als „Intellektueller“ werden seine Netzwerke europaweit wichtig für den interkulturellen Dialog zwischen der Elite der Weimarer Republik und den Eliten der Alliierten. Si schreibt beispielsweise Gusejnova diesem inter- intellektuellen europäischen Netzwerk retrospektiv eine wichtige Rolle zu, das Vordringen des Bolschewismus nach Mittel- und West-Europa verhindert zu haben. So scheiterte Lenin vor Warschau und Pilsudski, ein Bekannter Kesslers, war sein Bezwinger.

Ähnlich wie Jünger und Kessler war auch Toller Kriegsteilnehmer und aus der Mannschaft kommend hochdekoriert. Nach dem Krieg politisiert er sich durch das Lesen der Denkschriften Lichnowsky`s, Mühlons, Beerfeldes und anderer. Und stellt fest: „Der Krieg ließ mich zum Kriegsgegner werden …Wir sind betrogen, unser Einsatz war umsonst, bei dieser Erkenntnis stürzt mir eine Welt zusammen. Ich war gläubig wie alle Menschen in Deutschland, gläubig wie die namenlose Massen des Volkes.“ (vgl. Kap. 7)

Bis zu diesem Zeitpunkt war ihm die Arbeiterbewegung fremd und er war durch Schule indoktriniert, sie als Gegner des Staates anzusehen. Durch den direkten Kontakt über Max Weber hatte er bereits beispielsweise Mühsam im Rahmen einer Tagung kennengelernt. Freunde stellten den Kontakt zu Eisner in Berlin her. Toller erkennt, dass seine Kritik am Krieg und an den gesellschaftlichen Kreisen, die von ihm profitiert haben, am deutlichsten von Männern wie Eisner vertreten wird. Aus dieser intellektuellen Einsicht resultierte dann das Engagement von Toller für die Müncher Räterepublik.

Und resümiert im Militärgefängnis (Kapitel 8) „Eher durch Zufall denn aus Notwenigkeit war ich in die Reihen der streikenden Arbeiter geraten, was mich anzog, war ihr Kampf gegen den Krieg, jetzt erst werde ich Sozialist…“

Es ist bei Toller ein fast typischer interaktiver Effekt der Radikalisierung, der auf der einen Seite zunehmend die Ungerechtigkeiten und die Opfer sieht und auf der anderen Seite die Repression erkennt, die sich gegen die richtet, die diese Mißstände verändern wollen.

In seiner zunehmend radikalen Ablehnung der feudalen kapitalistischen Gesellschaft können strukturelle Ähnlichkeiten zu Jünger und zu Kessler gesehen werden und dennoch verfolgt jeder der drei eine andere Lebensplanung.

https://de.wikipedia.org/wiki/Harry_Graf_Kessler

https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Toller

Gusejnova, Dina (2016): European elites and ideas of empire, 1917-1957. Cambridge, United Kingdom, New York, New York: Cambridge University Press
Online verfügbar unter:
OAPEN Library - European Elites and Ideas of Empire, 1917-1957
Kessler, Harry; Easton, Laird McLeod (2011): Journey to the abyss. The diaries of Count Harry Kessler, 1880-1918. New York: Vintage Books.
Kessler, Harry; Pfeiffer-Belli, Wolfgang (1996): Tagebücher, 1918-1937. Frankfurt am Main: Insel
Mayer, Arno J. (2010): The persistence of the old regime. Europe to the Great War. London, Brooklyn: Verso.
Schwilk, Heimo (2010): Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. München, Zürich: Piper
Toller, Ernst (1962): Eine Jugend in Deutschland. Hamberg: Rowohlt
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich möchte zwei Arten der Radikalisierung unterscheiden.
Die eine Form der Radikalisierung bezieht sich auf die Ideologie. Sie ist bei den Teilen der Jugendbewegung sehr früh und sehr weit in Richtung völkischer Nationalismus fortgeschritten.
Die andere Seite der Radikalisierung ist die Gewaltbereitschaft, sei es Straßenkampf, Terrorismus oder Putschversuch.
Auffällig ist jedoch, dass die Radikalisierung oftmals nicht gleichmäßig in beide Richtungen verläuft. Gerade die gewaltbereite Rechte der Weimarer Zeit hat ein Ideologiedefizit. Andere extreme Ideologen bleiben friedlch, obwohl sie viel pseudowissenschaftlicher und esoterischer als die meisten Nazi-Größen denken.

Dennoch gab es bereits innerhalb von Jugendbünden wie den Artamanen Prinzipien, die solche des NS vorwegnahmen:

- Führerprinzip
-Kriegsverherrlichung
- Ostkolonisation
-Blut und Boden-Ideologie
-Wehrbauernideen
-Germanenkult, Neopaganismus
In der Liste fehlt noch Antisemitismus. Bereits 1912 brach innerhalb der Jugendbewegung die Debatte über Juden und Arier aus. Zahlreiche Gruppierungen schlossen jüdische Mitglieder aus. Einen Vorreiter bildete der Östereichische Wandervogel, der gleichzeitig auch noch dezidiert antislawisch ausgerichtet war.
Führerprinzip und Nationalismus waren in der Jugendbewegung auch eigentlich eher Mainstream.
Was den Wandervogel jedoch maßgeblich vom NS unterscheidet, ist die fehlende Gewaltbereitschaft.
 
..
Bei Babara Tuchman findet sich die Darstellung einer „morbiden“ Stimmung im Vorfeld von 1914 wider, die durch die Verkrustung der feudalen Gesellschaft in Deutschland und Österreich-Ungarn maßgeblich geprägt wird. Es sind die zunehmend als unerträglich wahrgenommenen Widersprüche zwischen den feudalen Normen und den Werten der „alten Gesellschaft“ und einer dem sozialen Wandel unterworfenen „modernen“ Gesellschaft, wie es beispielsweise Mayer beschreibt, die nach einem "reinigenden Gewitter" verlangen.
............

Thane, ich will mal bei dem Punkt einsetzen:
Diese morbide Verkrustungen findet sich in noch zugespitzter Weise in Russland, im Osmanischen Reich.
Aber auch Frankreich und UK weisen solche auf.

Nun kommt es zur Katastrophe, nach dessen (vorläufigem) Ende alte Ordnungen entweder hinweggefegt werden, oder mit Mühe behauptet.
Fast ganz Europa ist in Aufruhr, bewaffnete Konflikte üblich.

Das legt sich ab 1923.
Im Gürtel der neuen Staaten (Griechenland bis Polen) sind (bilaterale) militärische Konflikte abgeebbt.
Allgemein sind auch fächendeckend innerstaatliche Kämpfe vorläufig entschieden.
… und die Weimarer Republik hat sich als erstaunlich belastbar erwiesen.

Man müsste also annehmen, dass nach 1923 die Radikalisierung abnahm, eine De-Radikalisierung eintrat, und das war wohl so.
Der zweiten große Belastung, nach 1929, hielt die WR nicht mehr stand. Warum?

Ich versuch mal das darunter liegende Substrat der Bereitschaft zur Radikalisierung zu betrachten.
Es könnte ja sein, dass die darüber liegende, und leicht beobachtbare, Schicht radikaler Handlungen durchaus nicht immer das darunter liegende Substrat zeitlich abbildet.
Will man bei dem Bild bleiben, dann kann die Bereitschaft zur Radikalisierung anderen Wachstumsgesetzen folgen, als die darüber liegende und stärker fluktuierende Ebene.
Ein weiterer Aspekt wäre dann auch die Ausbildung unterschiedlicher Strukturen im Substrat selbst.
Etwa durch eine mit Zeitversatz eintretende Verdichtung radikaler Turbulenzen;
zu stabilen Gravitationszentren, unterhalb der unmittelbar beobachtbaren Geschehnisse.
 
Da beide Antworten einen ähnlichen Themenkreis ansprechen, der Versuch einer gemeinsamen Beantwortung. Da das Thema komplex ist, kann die Antwort auch nur oberflächlich erfolgen.

Die extreme Rechte in Weimar:
Auffällig ist jedoch, dass die Radikalisierung oftmals nicht gleichmäßig in beide Richtungen verläuft. Gerade die gewaltbereite Rechte der Weimarer Zeit hat ein Ideologiedefizit.

Sich der extremen Rechten zugeordnet zu fühlen, so Jones in seiner Einführung, basierte nicht notwendigerweise auf der Mitgliedschaft in einer entsprechenden Organisation, sondern eher auf „a disposition that expressed itself in a sense of contempt [Verachtung] towards the symbols and institutions of Germany`s new republic.“ Es war die totale Ablehnung für alles, was die Weimarer Republik auszeichnete und seiner demokratischen Werte. Diese Sicht konnte man sehr deutlich in der Familie von Himmler erkennen und sie stehen stellvertretend für das „durchschnittliche“ konservative Empfinden in der Mittelschicht.

Einerseits wird diese politische Polarisierung am Beispiel des – sinnfreien - „Flaggenstreit“ deutlich, aber es wenden sich auch ehemalige preußische monarchische Konservative, wie Streseman, der Republik zu und werden zu „Republikanern aus Vernunft“. Es gab somit nicht nur Radikalisierung als Reaktion auf die Weimarer Republik, sondern auch „republikanische“ Meinungsänderungen.

In diesem Kontext versucht McGowan die extreme Recht durch eine Reihe von ideologischen Theorieelementen bzw. Konstrukten zu definieren. Im Kern zählen dazu, Nationalismus, Ethnozentrismus, Fremdendfeindlichkeit, anti-Kommunismus und anti-Semitismus sowie anti-Parlamentarismus und anti-Pluralismus. (ebd. Pos. 331)

Die Bewertung der ideologischen Homogenität bzw. der Heterogenität der extremen Rechten in der Weimarer Republik unterlag einer gewissen revisionistischen Bewertung durch Historiker in den letzten Jahren . Ging man bis vor einigen Jahren noch in Anlehnung an Fischers „Bündnis der Eliten“ und ähnlichen Darstellungen, wie beispielsweise bei Wehler, noch von einer gewissen Kongruenz der Interessen aus und unterstellte die Fähigkeit zur koordinierten politischen Aktion, so betont beispielsweise Jones die hohe Fragmentierung der Rechten und die in der Weimarer Republik abnehmenden Fähigkeit zur politischen Mobilisierung und Integration. (Jones, Pos. 101)

Damit greift Jones das „new master narrative“ auf, dass die Zersplitterung auf der Rechten als ähnlich wichtig betrachtet für den Aufstieg von Hitler, wie die Fragmentierung auf der Linken.

Vor diesem Hintergrund sind es situative Elemente, warum individuelle Akteure aus dem Umfeld der extremen Rechten in die Szene der gewaltbereiten extremen Rechte „abwandern“. Dieser Entwicklung liegt ein individueller und auch kollektiver Radikalisierungsprozess zugrunde, der sich gegenseitig verstärkt hatte. Darauf komme ich noch zu sprechen komme.

Jones, Larry Eugene (2016): The German right in the Weimar Republic. Studies in the history of German conservatism, nationalism, and antisemitism. First paperback edition. New York: Berghahn Books.
McGowan, Lee (2002): The radical right in Germany. 1870 to the present. London:

Nun kommt es zur Katastrophe, nach dessen (vorläufigem) Ende alte Ordnungen entweder hinweggefegt werden, oder mit Mühe behauptet. Das legt sich ab 1923. Allgemein sind auch flächendeckend innerstaatliche Kämpfe vorläufig entschieden. … und die Weimarer Republik hat sich als erstaunlich belastbar erwiesen.

Man müsste also annehmen, dass nach 1923 die Radikalisierung abnahm, eine De-Radikalisierung eintrat, und das war wohl so. Der zweiten große Belastung, nach 1929, hielt die WR nicht mehr stand.

Die allgemeine Beschreibung ist völlig korrekt und findet sich ähnlich in den beiden neuesten Büchern zu dem Thema bei Kershaw und Steiner wieder.

Die wirtschafltiche Gesundung, Währungsreform, der Dawes-Plan, die durchgreifende Modernisierung der Volkswirtschaft, die umfangreiche Kredite aus den USA etc., relativierten nach 1924 das fundamentale „No“ der extremen Rechten und die Weimarer Republik zeigte sich im Rahmen der „Goldenen Zwanziger Jahre“ von ihrer besten Seite, mit einer sehr guten „Sozialbilanz“ (Wohnungsbau etc. 300.000 Häuser pro Jahr etc.)

Die einsetzenden Radikalisierung breiter Wählerschichten am Ende der zwanziger Jahre war dann ein stufenweiser Prozess, in dessen Verlauf die Wählerströme sich in Richtung auf die NSDAP zubewegten (vgl. einschlägige Arbeiten von Falter etc.). Die Erinnerung an die Hyperinflation von 1923 kann man somit als einen vorausgegangenen aber auch kumulativen Effekt bei der Wahrnehmung der Deflation und Wirtschaftskrise um 1930 interpretieren und beide Ereignisse zusammen haben ein kollektives Trauma in der deutschen Gesellschaft erzeugt, das man kollektiv mit allen Mitteln bekämpfen wollte. Und ein Demagoge wie Hitler bot die radikalsten und "überzeugendsten" - weil autoritärsten - Mittel zur Lösung an.

Folgt man in diesem Sinne Autoren wie Gurr, dann sind „Deprivation“ bzw „relative Deprivation“, die diese kollektive Angst in der Weimarer Republik analytisch aufgreifen, zwei mächtige Motivstränge, die die Radikalisierung eines Volkes in Richtung auf politische Gewaltbereitschaft verstärken können (vgl. z.B. Schaubild in Gurr, S. 357)

Kershaw, Ian (2016): To hell and back. Europe, 1914-1949. London: Penguin Books
Steiner, Zara (2007): The lights that failed. European international history, 1919-1933. Oxford: Oxford University Press (Oxford history of modern Europe).

Die Frage der Radikalisierung:
Ich möchte zwei Arten der Radikalisierung unterscheiden.
Die eine Form der Radikalisierung bezieht sich auf die Ideologie. Sie ist bei den Teilen der Jugendbewegung sehr früh und sehr weit in Richtung völkischer Nationalismus fortgeschritten.
Die andere Seite der Radikalisierung ist die Gewaltbereitschaft, sei es Straßenkampf, Terrorismus oder Putschversuch.

Man müsste also annehmen, dass nach 1923 die Radikalisierung abnahm, eine De-Radikalisierung eintrat, und das war wohl so.
Der zweiten große Belastung, nach 1929, hielt die WR nicht mehr stand. Warum? …..

Es ist nicht ausreichend, lediglich zwei Formen der Radikalisierung zu unterscheiden, auch wenn ich das historische Beispiel in seiner Bedeutung durchaus verstehe.

Eine Erklärung muss komplexer sein und ist dennoch schwierig. Die analytische Frage, wodurch politische Gewaltbereitschaft ausgelöst wird, unterliegt relativ stark dem jeweiligen theoretischen Standpunkt und somit einer konstanten Reinterpretation. Es gibt somit viele Erklärungen.

Die „Klassiker“ der Konflikt-Soziologie, Coser, Dahrendorf etc. sind bei Krysmanski kompetent dargestellt. Dabei können weitere zentrale Vertreter wie Parsons, Gurr, Etzioni, Luhman, Bourdieu, Tilly oder Habermas als Konflikt-Theoretiker verstanden werden.

Die wohl wichtigste Überblicksdarstellung, die die unterschiedlichen Erklärungsansätze für politischen Protest im Rahmen von sozialen Bewegungen darstellt, kommt von Opp. In seiner sozialpsychologischen Sicht greift er u.a. auf Überlegungen von Mancur Olson (Die Logik des kollektiven Handelns) zurück und ergänzt sie durch „Ressourcen mobilisierende Möglichkeiten“ und durch das von Snow (zusammen mit Rochford, Burke und Benford) entwickelte Konzept des „Framing“ (vgl. Opp, Pos. 6486). Sie beziehen sich dabei auf die „Frame-Analysis“ von Goffman.

Die Radikalisierung erfolgt – vereinfacht dargestellt - somit in Abhängigkeit von dem zu erwartenden „Gewinn“, beeinflußt durch die Aktionen und Reaktion eines repressiven Staates, im Umfeld von einer „Protestinfrastruktur“ (Menschenmassen, Massenmedien, Organisationsfähigkeit etc.), die militante Aktionen erst ermöglicht. Die Frage der Radikalisierung der jeweiligen Politik erfolgt aus der Interaktion individueller Akteure (Mikro-Sicht) und den jeweiligen Organisationen (Makro-Sicht). Die Rekrutierung von bisher nicht mobilisierten Akteuren erfolgt auf der Basis des „Framing“ und drückt die relative inhaltliche Übereinstimmung zwischen Organisation und Individuum aus.

Der Frage der expliziten Gewaltbereitschaft geht beispielsweise Collins nach, ohne das darauf noch eingegangen werden soll.

Insgesamt ein sehr spannendes Thema im Umfeld von sozialen Bewegungen und der Frage, wie sozialer Wandel initiiert wird durch kollektive Akteure. Aber auch ein sehr theoretisches Thema, das separat diskutiert werden sollte.

Collins, Randall (2009?): Violence. A micro-sociological theory. Princeton, N.J., Oxford: Princeton University Press.
Collins, Randall; Sanderson, Stephen K. (2009): Conflict sociology. A sociological classic updated. Abridged and updated. Boulder: Paradigm Publishers
Conway, Martin; Gerwarth, Robert (2011): Revolution and counter-revolution. In: Donald Bloxham (Hg.): Political violence in twentieth-century Europe. Cambridge: Cambridge University Press, S. 140–175.
Coser, Lewis A. (2009): Theorie sozialer Konflikte. 1. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Gurr, Ted Robert (1972): Rebellion. Eine Motivationsanalyse von Aufruhr, Konspiration u. innerem Krieg. 1. Aufl. Düsseldorf, Wien: Econ
Krysmansky, Hans Jürgen (1971): Soziologie des Konflikts. Materialen und Modelle. Reinbek: Rowohlt
Opp, Karl-Dieter (2009): Theories of political protest and social movements. A multidisciplinary introduction, critique, and synthesis. London, New York: Routledge.
Tilly, Charles (2003): The politics of collective violence. Cambridge, New York: Cambridge University Press
 
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Ich möchte den Blick beispielhaft auf Werner Best lenken.

Best, Jahrgang 1903, gehörte zu der im Dritten Reich, vor allem im RSHA, einflussreichen Kriegsjugendgeneration, die sich, vielleicht auch aus einer gefühlten Bringschuld heraus, zwischen den Kriegen radikalisierte. Die Kriegsjugendgeneration war zu jung für den Weltkrieg und kannte auch die lange Friedenszeit vorher nicht. Ihr Weltbild war geprägt von den Wirrungen der Weimarer Republik und einem glorifiziertem Außenseiterblick auf den Krieg. Aus dem akademischen rechten Teil dieser Geneartion wird dann der relativ hohe Anteil an verhältnismäßig jungen Akademikern in der NSDAP und deren Organisationen, über die sich Scorpio weiter oben wundert.

Von der NS-Bewegung fühlte Best sich nicht sonderlich angezogen, er hatte vor dem Eintritt in die NSDAP Kontakt mit elitären Rechten wie Jünger („Krieg und Krieger“), Edgar Jung, Wilhelm Stapel, von Salomon und anderen, Stichwort Konservative Revolution. An der NSDSAP schätzte er Hitler als Volkstribun und die Wirkung der Bewegung auf die Massen. Wie viele elitäre Rechte hatte er ein aber eher funktionales Verhältnis zu den Massen. Folgerichtig landete er dann bei der elitären SS.

Best entwickelte ein theoretisches Konzept des Nationalismus auf Basis der Völker, nicht der Staaten. Die Völker sind das Element der Geschichte, um das sich, ob so gesehen oder nicht, alles dreht. Kämpfe zwischen Völkern, bis hin zur Vernichtung,sollten bitte rational, nicht emotional geführt werden. Andere Völker, auch die Juden, sind nur anders, nicht schlechter.

Das klingt erstmal verquast. Es ist aber die Grundlage, auf der die Technokraten des Holocaust später operierten: „Kampf im Inneren wie nach außen,wenn nötig bis zur Vernichtung, ohne Leidenschaft … abgeleitet aus den Interessen des eigenen Volkes“.

Best verdiente sich seine Sporen im „Abwehrkampf“ im Rheinland gegen die französischen Besatzer. Als Student war er führend im Deutschen Hochschulring (DHR). Er promovierte als Jurist. 1930 trat er in die Partei, 1931 in die SS ein. Er war als Verwaltungsfachmann in beiden Organisationen erfolgreich, ,wenn auch nicht überall beliebt.

An Best ist vor allem interessant, weil er seine Ideen auch in die Praxis umsetzen konnte. Er war federführend beteiligt am Aufbau des SD und der Gestapo. Im RSHA organisierte er die Einsatzgruppen. Im besetzten Frankreich und in Dänemark versuchte er, seine Ideen einer völkischen Außenpolitik in die Praxis umzusetzen.

Ulrich Herbert beschreibt die Karriere dieses Top-Juristen in seinem Buch „Best – Biografische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft (Dietz, 1996)“ nicht rein biografisch, Herbert verwendet viel Zeit in die Beschreibung des Umfelds, in dem Best operierte.

Das macht das Buch spannend. Best hat eine stringente Weltanschauung, an der er immer festhielt. Als Jurist war er bestrebt, auch den NS-Terror gesetzlich zu verankern. Damit stand er im ständigen Konflikt mit den hemdsärmligeren Teilen der NSDAP bis hin zu Hitler. Aber auch mit konkurrierenden Machtfaktoren wie der Wehrmacht. Nicht zu vergessen alltägliche Büro,Büro-Konflikte und Reibereien etwa mit Heydrich. Und auch mit den Realitäten.
 
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