Religionsmündigkeit von Jugendlichen - eine sehr deutsche Idee

jschmidt

Aktives Mitglied
In meinem Luxemburg-Thema kam zur Sprache, dass die Nazis die fürs Reich geltende Altersgrenze auf das besetzte Land übertrugen, was Lemkin in den Kontext genozidaler Handlungen einordnete. Dazu wurde unter anderem geschrieben:
[a] Die deutschen Nation hat die Besonderheit, dass die konfessionelle Zugehörigkeit (inzwischen) keinen Einfluss mehr auf die Gruppenidentität hat. Katholiken sind genauso deutsche wie Lutheraner oder Calvinisten. In den meisten anderen Staaten Europas (nicht nur am Balkan!) ist hingegen die Konfession ein entscheidendes Attribut für die ethnische oder nationale Identität.
Ein ähnliches Problem gibt es bei der Religionsmündigkeit von Jugendlichen. Diese ganze Idee ist sehr deutsch und wird außerhalb Deutschland kaum als selbständlich angesehen werden.

Absatz [a] lasse ich beiseite [1], würde aber gern Absatz und die damit in Zusammenhang stehende historische Entwicklung aufgreifen. Denn es wird ja nichts Geringeres behauptet, als dass auch hier ein »deutscher Sonderweg« vorliege.

Um aber nicht Missverständnissen aufzusitzen, wäre es praktisch, wenn Maglor selbst seinen Hinweis zunächst etwas historisch unterfüttern würde.


[1] Ich bin in Anbetracht der aktuellen Islamismus-Debatte hierzulande nicht sicher, dass die Darstellung zutrifft, gehe aber den Regeln gemäß darauf nicht weiter ein.
 
Aufgrund der Konsequenzen ist die Frage wohl nur in Deutschland relevant. Jemand wegen einer Zugehörigkeit zu einer Religion, an die er nicht glaubt, Steuern zahlen zu lassen, dürfte wohl kein Gericht der Welt akzeptieren. Wobei damals natürlich die Mehrheit mit 14 Jahren die Schule beendete.

Aber die Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht. Daher kann es kein Verbrechen sein, jemandem zu erlauben, seine Religion zu bestimmen. Es müsste ja sonst jede Besatzungsmacht jeglichen Religionswechsel verbieten.

Und wenn wir nach England, Frankreich, Spanien, Portugal, Italien schauen, ist auch dort keinesfalls die Religion mit der nationalen Identität verbunden. Frankreich ist ein laizistischer Staat, in England sind die Katholiken längst emanzipiert und in den erwähnten Mittelmeeranrainerstaaten ist die katholische Religion so selbstverständlich gewesen, dass sie nicht als nationales Merkmal herhalten kann. Nun ist die Verdrängung einer Religion auch abgesehen von der Verbindung mit einem Nationalbewusstsein als Völkermord eingestuft. Aufgrund der Trennung von Staat und Kirche schafft dies einen nicht rational begründbaren Tatbestand, wenn man hier nicht von der Verbindung zweier Erscheinungen in einer Vorschrift ausgeht und eine Neutralität in Bezug auf die Religion annimmt.
Damit ergibt sich aber ebenfalls, dass das Freistellen des persönlichen Bekenntnisses nicht als Verbrechen gesehen werden darf, ja, seine Einschränkung verboten ist. In dem Sinne fordert Lemkin in meinen Augen gerade das Verbotene.

Dann ist da noch die UN-Kinderrechtskonvention, die Religionsmündigkeit fordert. Es ist heute also -abgesehen von den USA und Polen, nachdem u.a. Deutschland Einwände aufgab- anerkannt, dass dies Recht schon Jugendlichen zukommt. (Die Konvention beschäftigt sich auch mit dem Alter, was hier, wo es um Jugendliche geht wohl nicht erheblich ist, weshalb ich da nicht nachforschen.) Allein damit ist klar, dass man sich gegen die Menschenrechte stellt, wenn man die Religionsmündigkeit für Jugendliche fordert.

Die Katholische Kirche ist da übrigens schon lange weiter. Schon bei der Erstkommunion muss das Glaubensbekenntnis vom Kind selbst kommen.

(Ja, mir ist klar, dass einige Länder die Konvention zwar anerkannt, aber nicht umgesetzt haben. Im Iran ist m.W. z.B. eine Volksabstimmung gescheitert. Dennoch wurde aber das Prinzip anerkannt.)
 
Die Religionsmündigkeit in Deutschland ergibt sich aus sich aus dem Reichsgesetz über religiöse Erziehung. von 1921/1922. Ich weiß leider nicht, ob und welche Vorgänger dieses Gesetz hatte.

Ich vermute, dass sich die Religionsmündigkeit im Alter von 14 Jahren aus der Konfirmation ergibt. Konfirmation ist eine sehr deutsche Idee und genau hier beginnt vermutlich ein deutscher Sonderweg. Die Konfirmation wurde 1539 in Hessen als eine Art Kompromiss zwischen Gläubigen- und Kindstaufe eingeführt (Ziegenhainer Kirchenzuchtordnung). Die Täufer wollten eigentlich die Kindstaufe abschaffen, andere Protestanten wollten an der Kindstaufe festhalten. Das persönliche Bekenntnis der 14-jährigen Konfirmanden sollte die Gläubigentaufe ersetzen ohne die Kindstaufe abzuschaffen. Martin Bucer muss davon ausgegangen sein, dass bereits 14-jährige zur Abgabe des Bekenntnisses in der Lage sind.

Dann ist da noch die UN-Kinderrechtskonvention, die Religionsmündigkeit fordert.
Die Kinderrechtskonvention ist aber von 1989, also reichlich anachronistisch.

Religionsmündigkeit an sich ist nicht nur als Menschen- oder Kinderrecht zu verstehen. Es geht viel mehr auch um die schlichte Fähigkeit des Kindes sich zu einer Religion zu bekennen oder eben nicht. Es ist die Frage nach dem freien Willen und nicht die nach den Freiheitsrechten. Beim Thema Religion sieht man in Deutschland einen Sonderfall der Mündigkeit, als wären Kinder bei in religiösen Fragen besonders frühreif.
 
Zuletzt bearbeitet:
Äh, es ging aber um die Beurteilung. Und da ist die Konvention durchaus von Belang. Wenn man von der heutigen Warte spricht, kann man ja nicht einfach nehmen, was einem passt und den Rest weglassen. Und eine UN-Konvention ist kein deutscher Sonderweg, auch wenn wenn man streiten kann, ob die notwendige Fähigkeit zur Generalisierung mit 14 oder mit 15 von genügend Jugendlichen erreicht ist, um die komplexeren Aspekte der Religion zu verstehen.

Glauben aber kann schon ein Grundschulkind. Es könnte hier die Frage nach dem Schutzbedürfnis gesehen werden, da ein Grundschulkind ja recht beeinflussbar ist. Aber da müssen wir eben von der Konvention ausgehen, solange wir die nicht angreifen wollen. Und, wie schon gesagt, wird darin auch auf die Frage des Alters eingegangen. Es bleibt die Tatsache, dass nur das Individuum selbst seinen Glauben bestimmen kann. Alles andere ist Fiktion.

Man kann auch nicht das persönliche Fassungsvermögen als Maßstab nehmen, sonder muss beurteilen, wann die Mehrheit dieses Besitzt. Ich habe mit 15 die ersten Texte von Ratzinger gelesen. Für andere bleibt das Verständnis dabei auch mit 40 unerreicht. (Gut, um Ratzinger wirklich zu verstehen, muss man noch viele andere Autoren gelesen haben, aber ich denke, es ist klar, was das Beispiel zeigen soll.)

Die Firmung ist älter als die Konfirmation. Und nicht auf Deutschland beschränkt.

Zudem ist Thema, ob das Völkermord sein kann. Und auch dabei spielt keine Rolle, ob es ein deutscher Sonderweg ist. Ich wiederhole: Wenn es nicht zum allgemeinen Gesetz gemacht werden kann, dass keiner seine Religion bestimmen darf, kann es nicht zu rügen sein, solange man von kündigen Personen ausgeht. Und genau dies beweist das genannte Reichsgesetz.

(Ich würde mich nicht wundern, wenn man vor 1920 bei dem Thema keinen Regulierungsbedarf gesehen hätte. )

Noch eine Anmerkung: Bei ethischen Beurteilungen aus unserer Warte fühle ich mich meist unwohl. Aber wenn man eine solche vornimmt, sollte man konsistent sein. Wenn es also Völkermord ist das Deutsche Religionsmündigkeitsalter anderen Kulturen aufzudrücken, begeht die Bundesrepublik Völkermord an den zugewanderten Moslems. Ich denke, dass zeigt die Absurdität des Gedankens.
 
In meinem Luxemburg-Thema kam zur Sprache, dass die Nazis die fürs Reich geltende Altersgrenze auf das besetzte Land übertrugen, was Lemkin in den Kontext genozidaler Handlungen einordnete. Dazu wurde unter anderem geschrieben:

Das ist so m.E. inhaltlich nicht ganz korrekt und ich würde gerne ein paar Anmerkungen machen.

1. Nicht die Altersgrenze war relevant. Sondern das Verhalten der Besatzungsmacht zielte auf das katholische Milieu ab, das die spezifische Identität der nachwachsenden luxemburgischen Generation stark prägte. Dieses katholische Milieu sollte aufgebrochen werden und die sozialisierende Funktion dieses Milieus gebrochen werden.

Eine Sichtweise die Hitler ebenfalls in Bezug auf die Kirchen in Deutschland hatte und sie nach einem - gewonnenen Krieg - ebenfalls als sinnstiftendes Machtzentrum in Deutschland auslöschen wollte. In diesem Sinne wäre Deutschland als ein fiktives zukünftiges Beispiel für einen kulturellen Genozid gegen das eigene Volk aus der Sicht von 1940 zu nennen.

2. Die Besatzungsmacht wollte somit die kulturelle Identität der Bevölkerung langfristig einschneidend in ihrem Sinne verändern.

3. Diese Überlegung, ob es neben dem direkten Ausrotten durch Töten eines Volkes = Völkermord oder Genozid, noch etwas anderes gibt, das subtiler funktioniert, führt zum Konstrukt des "kulturellen Genozids". Und diese Kategorie wollte Lemkin - im analytischen Sinne - als emprisches Beispiel auf Luxemburg anwenden. Ob das nun ein sinnvolles Beispiel war, sei dahingestellt, aber er mußte das nehmen, was sich als historisches Beispiel angeboten hat. Die Politik Chinas in Tibet zielt - soweit ich es erkennen kann - auf einen Zustand ab, den man im Sinne Lemkins auch als "kulturellen Genozid" bezeichnen kann, um ein weiteres Beispiel zu liefern.

In diesem Sinne kann - so Lemkin - das Auslöschen und Ersetzen von kulturellen Identitäten - und somit auch eine katholische Glaubensüberzeugung - diese Gesellschaft nachhaltig und dramatisch verändern. Ohne dass sie durch einen einzigen direkten Toten in diesem Prozess bedroht sein muss.

Im Prinzip spricht Lemkin damit abstrakt auch das Recht auf eine Selbstbestimmung des Individuums und die Selbstbestimmung von Gesellschaften als schützenswertes Gut eines in dieser Phase neu formulierten Völkerrechts an.

Die totale oder sehr weitgehende Verweigerung oder die totale oder umfangreiche Manipulation dieser selbstbestimmten kollektiven Identität kann man im Sinne von Lemkin als "kulturelle Genozid" bezeichnen. Und man gewinnt ein analytisches Konstrukt jenseits der emotionalen Aufladung des Begriffs des "Genozids".

OT und weiterführend: Es ergeben sich interessante Parallelen zum Konzept der kulturellen Hegemomie von Gramsci, da die Phase bis zum "kulturellen Genozid" durch eine Vielzahl Vorphasen laufen muss, die auf die Unterdrückung der kollektiven kulturellen Identität auch von Teilen einer Gesellschaft abzielen.
 
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... ein paar Anmerkungen ...
Dafür bin ich insoweit dankbar, als sich einige fürs Thema bedeutsame Fragen anschließen lassen, und zwar bezogen auf die Entwicklung in den letzten 1000 Jahren. Insofern handelt es sich hier um einen Seitenstrang der Diskussion über die Geschichte der Religionsfreiheit. [1]

a) Zum Recht auf individuelle Selbstbestimmung:
Für wen galt dieses Recht? Nur für Erwachsene bzw. voll Geschäftsfähige? Auch für Jüngere? Oder jenseits des Alters gebunden an den Fähigkeit, den Willen frei zu äußern, oder an ein sonstiges Kriterium?

b) Zur Regelungskompetenz:
Wer hatte überhaupt – wenn nicht das Kind – das Recht, über die Religionsmündigkeit zu entscheiden? Die Eltern als Personensorgeberechtigte? Der Staat/Landesherr als Souverän? Die »Gesellschaft« (die zu definieren wäre)? Die Religionsgemeinschaft, zu welcher das Kind zunächst gehörte? Irgendeine beliebige Instanz, in deren Gewahrsam sich das Kind gegebenenfalls ungefragt bzw. gegen seinen Willen befand?

c) Zum Verhältnis von Altersgrenze und Glauben:
Welche »katholische [oder sonstige] Glaubensüberzeugung« war in Bezug auf die Religionsmündigkeit gemeint? Was genau war ihr Inhalt, wie ist sie entstanden, und wie wurde sie begründet?

d) Zur Bedeutung einer Verlegung der Altersgrenze:
Traf es zu, dass dadurch ein bestimmtes religiöses Milieu »aufgebrochen« bzw. dessen sozialisierende Funktion »gebrochen« wurde? Welche historischen Beispiele gibt es dafür? Ist womöglich das deutsche Gesetz von 1921 in diesem Sinne zu interpretieren?

e) Daneben wäre natürlich diese bisher unbelegte Hypothese zu prüfen:
Beim Thema Religion sieht man in Deutschland einen Sonderfall der Mündigkeit, als wären Kinder bei in religiösen Fragen besonders frühreif.
Hiermit wird impliziert, dass die Sache in anderen Ländern anders geregelt war/ist. In welchen denn?


[1] Siehe zuletzt http://www.geschichtsforum.de/f287/religionsfreiheit-europa-im-15-jh-52420/ oder auch http://www.geschichtsforum.de/f288/innere-und-u-ere-freiheit-37830/.
 
Ich vermute, dass sich die Religionsmündigkeit im Alter von 14 Jahren aus der Konfirmation ergibt. Konfirmation ist eine sehr deutsche Idee und genau hier beginnt vermutlich ein deutscher Sonderweg.

Wieso deutsche Idee resp. Sonderweg ? In der Schweiz werden die Protestanten im Alter von 16 konfirmiert. Ab dann gelten sie als religiös mündig (und können auch aus der Kirche austreten, ohne die Eltern zu fragen).
 
Recherchiert man zum Thema Religionsmündigkeit in anderen Ländern, stößt man schnell an seine Grenzen.
Bei Wikipedia gibt es nur einen deutschsprachigen Artikel. Es gibt unter dem Reiter Diskussion den Vermerk, dass der Versuch zum Thema Religionsmündigkeit in den USA zu recherchieren, gescheitert sei, weil es nicht einmal eine englische Übersetzung des Wortes gebe.
Eine spezielle Religionsmündigkeit im Alter von 14 Jahren gibt es scheinbar nur in Deutschland, einigen deutschsprachigen Staaten sowie in den lutherisch gepärgten Staaten Skandinaviens. Warum ausgerechnet in der Schweiz ein Alter von 16 Jahren erforderlich ist, verstehe ich nicht.

Ein Blick in den Brockhaus von 1911 offenbart den engen Zusammenhang zwischen Konfirmation und Mündigkeit:
Lemma Konfirmation 1911 schrieb:
Konfirmation (lat.), Bestätigung; in der prot. Kirche (an Stelle der kath. Firmung) die feierliche Bestätigung des Taufbundes seitens der Katechumenen oder Konfirmanden und kirchliche Mündigerklärung derselben durch Einsegung und die Zulassung zum Abendmahl ...


Im folgenden werden die schwerwiegenden Folgen der Konfirmation beschrieben. In dem seltsam pathetischen Lexikonartikel bedeutet Konfirmation ein Versprechen der Treue bis zum Tod.
Damen Conversations Lexikon 1834
Der junge Weltbürger wird aufgenommen in die Gesellschaft der Erwachsenen. Er selbst gelobt nun feierlich am Altare des Allheiligen, das Gelübde zu erfüllen, welches einst liebende Taufzeugen am Morgen seines Lebens für ihn ablegten. Er selbst verspricht: Gott und Christo, seiner Kirche und der Tugend treu zu bleiben bis in den Tod.

Gesellschaftlicher Hintergrund des Reichsgesetzes über religiöse Kindererziehung sind Streitigkeiten und Unklarheiten in interkonfessionellen Ehen.
Die sogenannte Mischehenfrage beschäftigte Preußen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Die alte Regel des Westfälischen Friedens cuius regio eius religio galt nicht mehr. Preußen erlangte die Herrschaft über das katholische Rheinland. Die Bildung von Ballungsräumen im 19. Jahrhundert und die Freizügikeit sorgten für die Vermischung der ursprünglich getrennten Bevölkerung.
 
Die Diskussion ruht, vielleicht wegen meines inadäquaten didaktischen Ansatzes. :rotwerd: Zu einigen Argumentationsfäden:

Dann ist da noch die UN-Kinderrechtskonvention, die Religionsmündigkeit fordert.
Danke für den Hinweis. Die These, die Konvention sei »reichlich anachronistisch« (Maglor), will ich nicht diskutieren und stattdessen in der Rechtsgeschichte weiter zurückgehen.

Es ist die Frage nach dem freien Willen und nicht die nach den Freiheitsrechten.
Ich vermute, dass mit "freiem Willen" die Fähigkeit gemeint ist, einen Sachverhalt zu verstehen und aufgrund des gewonnenen Verständnisses ("Einsicht", "Reife") ein Urteil zu bilden und entsprechend begründete Entscheidungen zu treffen.
Es käme also bei der Zuerkennung von Entscheidungskompetenz z.B. in religiösen Fragen "nur" darauf an, ob eine Person urteilsfähig ist. Theoretisch beträfe dieses Kriterium dann alle Personen, vom Säugling bis zum Greis, vom Wunderkind bis zum vollständig Dementen. Es gibt/gab hierzu auch historische Parallelen:
a) Auf dem Nürnberger Reichskonvent 1651 schlugen die protestantischen Reichsstände vor, in jedem Fall die individuelle Reife entscheiden zu lassen.
b) Analog zur Gewissensprüfung bei der Kriegsdienstverweigerung könnte man fordern, dass eine Person, welche ihre bisherige Religionsgemeinschaft verlassen möchte [1], eine Prüfung abzulegen hätte.

Auch wegen vieler offener Fragen – Wer prüft? Nach welchen Kriterien? usw. – sind solche Lösungen nirgendwo gewählt worden, vielmehr greift eine typisierende und pauschalierende Regelung in Gestalt einer Altersfestsetzung (gesetzliche Fiktion). [2]

Ich weiß leider nicht, ob und welche Vorgänger dieses Gesetz [von 1921/22] hatte.
Unter #8 d) hatte ich gefragt, ob dieses Gesetz möglicherweise in der Absicht erlassen wurde, religiöse Milieus »aufzubrechen« bzw. deren sozialisierende Funktion zu »brechen«. [3]

Zu den Vorgängern komme ich noch.

Gesellschaftlicher Hintergrund des Reichsgesetzes über religiöse Kindererziehung sind Streitigkeiten und Unklarheiten in interkonfessionellen Ehen.
Wobei die Unklarheiten eben auch bedingt waren durch die vorhandene Rechtszersplitterung: Allein in Frankfurt/Main sollen zu der Zeit fünf verschiedene Regelungen gegolten haben! [4]

Eine eingehende Sichtung der Streitgegenstände und wichtigsten Urteile hat Gericke vorgenommen. [5] Um die weitere Diskussion zu vereinfachen, schlage ich vor, dem Mischehenproblem nicht weiter nachzugehen; das gleiche sollte für den häufigen Fall der Meinungsverschiedenheiten zwischen den Erziehungsberechtigten gelten.


[1] Vorausgesetzt, dass das Verlassen überhaupt möglich ist; in vielen Staaten mit muslimischer Staatsreligion ist das bei Todesstrafe verboten.
[2] Früher auch als annus discretionis, d.h. Jahr der Verstandesreife, des selbständigen Urteils, bezeichnet.
[3] Hinweis: Das Gesetz wurde in der 130. Sitzung des Reichstags am 4.7.1921 einstimmig bei Enthaltung der Abgeordneten der Bayerischen Volkspartei angenommen (Protokoll S. 4394).
[4] So der Berichterstatter im Reichstag (Protokoll S. 4380).
[5] Cornelia Gericke, Elterliches Erziehungsrecht und die Religion des Kindes. Diss. Mainz 2001.
 
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