Morton Frieds Thesen zur Kultur- und Gesellschaftsevolution

thanepower

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Bei Stamm steht, wenn keine Abweichung gemacht wird immer das 'primitiv' im Raum. Zudem ist ein Stamm die Unterabteilung eines Volkes, keine eigene Ethnie. Von wem sind jetzt die Sachsen eine Unterabteilung? Ethnie ist da wieder neutral. Ich verweise da auf Morton Herbert Fried, der darstellte, dass der Begriff unbrauchbar ist.

Ich kenne Fried nur am Rande, deswegen eine Reihe von Nachfragen zu seinen Aussagen.

Was ist denn die Position von Fried? Wann hat er sie denn formuliert" Und wie begründet er sie" Welche anderen Ethnologen sehen das denn so ähnlich? Und wie wird diese Position in der aktuellen Anthropologie eingeschätzt?
 
Da zu Fried und seinen Hypothesen über die Brauchbarkeit von Kategorien von Riothamus nichts mehr kommt, wenigstens ein kurzer Abriss aus der Encyclopedia of Anthropology, der seine Arbeiten charakterisiert:

"By focusing on the interplay of resources, wealth, power, and political authority in the context of redistribution and reciprocity, Fried argued that states emerge from an ordered succession of less complex social forms, including egalitarian, ranked, and stratified societies. Egalitarian societies are those in which status differentiation and political leadership are situational and based on personal achievement (within the limits of age and sex) under conditions of generally equal access to economic resources. Out of these groups emerge societies that employ ranking as a structural principle for integrating multiple communities along kinship lines. Ranking of individuals and lineages is based on primogeniture, in which rank is hierarchically related to descent from an apical ancestor...

According to Fried, stratified societies emerge from ranked groups that develop differential access to basic productive resources, such as land and water...

While many scholars have characterized Fried’s framework as a unilineal evolutionary typology, Fried recognized an important distinction between “pristine” (or “primary”) and “secondary” developments. Pristine evolutionary developments refer to new levels of sociopolitical integration that emerge autochthonously in the absence of external influences from more complex societies. Secondary developments involve evolutionary changes that emerge as a result of intercultural interaction with more complex societies. Thus, Fried’s model is dendritic and accounts for cases that fall outside of unilineal models of progressive cultural evolution (band → tribe → chiefdom → state), such as those of Elman Service and Marshall Sahlins.

Despite the elegance and explanatory power of Fried’s model, a tremendous amount of variation in intermediate social formations has been documented with ethnological and archaeological evidence since Fried’s initial publications in the 1950s and 1960s. This growing body of information suggests that an emphasis on nomothetic processes and general unilineal evolution is inadequate for explaining variability in specific sequences of change in complex social systems."

Etwas simpler und weniger "politely": Fried ist von der Forschung überholt.
s.o., Band III, S. 1008/1009.
 
"Despite the elegance and explanatory power of Fried’s model, a tremendous amount of variation in intermediate social formations has been documented with ethnological and archaeological evidence since Fried’s initial publications in the 1950s and 1960s. This growing body of information suggests that an emphasis on nomothetic processes and general unilineal evolution is inadequate for explaining variability in specific sequences of change in complex social systems."

Etwas simpler und weniger "politely": Fried ist von der Forschung überholt.
s.o., Band III, S. 1008/1009.

Es gibt nicht "die Forschung", sondern einzelne Forschungsströmungen und -schulen. Zwischen ihnen besteht mehr oder weniger großer Dissens über Methodik, Dateninterpretation und Makro-Prinzipien. Was diese Prinzipien betrifft: Im Fall Morton Fried kollidiert der von ihm vertretene Kultur-Evolutionismus mit dem seit den 1970ern aufgekommenen anti-evolutionistischen Kultur-Relativismus, über den ich mich kürzlich kritisch geäußert habe. Kulturrelativismus ist ein Merkmal der postmodernen Mentalität, die seit Jahrzehnten die öffentliche Meinungsbildung zu dominieren bemüht ist. Ungeachtet seiner Verdienste um die Schaffung eines pluralistischen Bewusstseins stößt der Kulturrelativismus vor allem in ethischen Fragen schnell an seine Grenzen. Für den Kulturevolutionismus ist dessen Bestreben, im globalen Maßstab universale anthropologische Muster zu entdecken, charakteristisch. Typische frühe Vertreter waren Edward Tylor und James Frazer, die heute noch keineswegs so outdated sind, wie Theoretiker aus der postmodernen Ecke es uns weismachen wollen. Tylors Animismustheorie wird nach wie vor von wichtigen Anthropologen verwendet, darunter Michael Winkelman (Gründungspräsident der Religionsanthropologischen Abteilung der American Anthropological Association).

Dr. Wells´ kritische Bestandsaufnahme im oben zitierten Absatz in den Sinne, dass Frieds Ansatz heute keine "adäquate" Erklärungskraft mehr hat, wird sicher nicht von allen Fachleuten geteilt. Zu fragen wäre, was der Ausdruck "adäquat" hier überhaupt bedeuten soll: "gar nicht" oder "nicht vollständig" oder "unzureichend wenig" oder was? Hängt diese Einschätzung nur von der Interpretation des hinzugekommenen Datenmaterials ab, die, wenn anders vorgenommen, mit Frieds Theorie harmonieren würde?

All das ist, neben dem grundsätzlichen Konflikt Evolutionismus vs. Relativismus, zu bedenken, bevor man Frieds Werk als "überholt" abtut. In deinem Fall kommt als Motiv für diese Bewertung sicher deine Abneigung gegen Frieds marxistischen Hintergrund noch hinzu.

Auf die New Archeology hatte sein Werk, neben dem von Elman R. Service, großen Einfluss; ihr bedeutendster Vertreter Colin Renfrew hat sich auf beide Autoren gestützt.
 
Mir ist der Thread erst durch silesias Post aufgefallen. Es werden ja nicht mehr alle Posts angezeigt. Ich komme hoffentlich am Wochenende dazu etwas zu schreiben.

Jetzt nur soviel: Fried kam mir dazu einfach beim Schreiben in den Sinn; es ist lange her, dass ich ihn las. Dabei ging es mir natürlich nicht um seinen gesamten Standpunkt, sondern um die Kritik am Begriff, die auch in späteren Schulen nicht gelöst ist.
 
Jetzt nur soviel: Fried kam mir dazu einfach beim Schreiben in den Sinn; es ist lange her, dass ich ihn las. Dabei ging es mir natürlich nicht um seinen gesamten Standpunkt, sondern um die Kritik am Begriff, die auch in späteren Schulen nicht gelöst ist.

Der Ausgangspunkt war folgende Aussage, die Bezüge herstellt zwischen Stamm und Ethnie, die für Fried nicht zentral ist. Seine Kritik am Konstrukt "Stamm" orientiert sich an Verteilungsproblemen, die im Rahmen der Politischen Ökonomie thematisiert wurden.

Bei Stamm steht, wenn keine Abweichung gemacht wird immer das 'primitiv' im Raum. Zudem ist ein Stamm die Unterabteilung eines Volkes, keine eigene Ethnie. Von wem sind jetzt die Sachsen eine Unterabteilung? Ethnie ist da wieder neutral. Ich verweise da auf Morton Herbert Fried, der darstellte, dass der Begriff unbrauchbar ist.
 
Fried stellt der traditionellen Auffassung, dass die Organisationseinheit ´Stamm´ der Organisationseinheit ´Staat´ historisch vorausgegangen ist, seine Deutung des Stammes als sekundärem Produkt der Staatenbildung entgegen. Vor dieser Bildung gab es Fried zufolge keine Stämme, vielmehr setzte sich die Population aus "bands" (dt.: das unschöne Wort ´Horde´, Gruppen bis ca. 100 Leute) zusammen, die aus miteinander blutsverwandten Menschen sowie - möglicherweise, je nach Zeitpunkt der Einführung dieser Sitte - eingeheirateten Mitgliedern anderer Bands bestanden. Diese Gruppen hatten Fried zufolge eine flache Hierarchie, d.h. keine autoritären Führer wie später die Stämme und Staaten. Wie sich Fried den Organisationsmodus dieser Bands in vorstaatlichen Städten wie Catal Hüyük vorstellte, ist mir (noch) nicht bekannt. Mit der Staatenbildung und dem damit verbundenen politisch-militärischen Übergriff auf eine in Bands organisierte Population waren diese aus zwei Gründen gezwungen, jene komplexere Organisationsform anzunehmen, die wir gewohnheitsmäßig als ´Stamm´ verstehen.

Erstens bestand im Fall der Konfrontation mit und Übernahme durch eine Staatsmacht Bedarf nach einer Führerfigur, welche (1) die Interessen einer Vielzahl von Bands gegenüber der Staatsmacht vertrat und (2) - gezwungenermaßen - die Interessen der Staatsmacht gegenüber den Bands durchzusetzen hatte, z.B. die Gewährleistung von Steuerzahlungen.

Zweitens bestand im Fall einer noch nicht gegebenen, aber drohenden Übernahme durch einen Staat Bedarf nach einer Organisationsform, welche das limitierte ökonomische und ´militärische´ Potential der lose liierten Bands bündelte, um ökonomischen Überschuss und, dadurch begünstigt, eine erhöhte ´militärische´ Schlagkraft zu generieren. Das Mittel dazu war der Zusammenschluss einer Vielzahl von Bands zu einem zentralistisch geführten Stamm.

Die Organisationsform ´Stamm´ verschafft also im Fall eines schon gegebenen staatlichen Übergriffs diesem Staat den Vorteil, die unterworfene Population rationeller und effektiver regieren zu können. Im Fall einer noch gegebenen Unabhängigkeit verleiht diese Form den darin zusammengefassten Bands mehr ökonomische und ´militärische´ Sicherheit im Fall eines versuchten staatlichen Übergriffs.

Laut Morton Fried ist die traditionelle Idee von einem vorstaatlichen Stamm eine Fiktion, die hauptsächlich auf der alttestamentlichen Darstellung von Stämmen (hebr. shevet) beruht, die als auf Stammväter zurückgehende blutsverwandte Gruppen beschrieben sind. Fried zufolge erfüllen viele historischen Stämme diese Voraussetzung nicht. Besser sind sie als ethnische Gruppen zu bezeichnen, die nicht durch genetische Abstammung, sondern andere Gemeinsamkeiten sprachlicher oder kultureller Art charakterisiert sind.
 
Nachzureichen ist Morton Frieds Theorie der Entstehung von Staatsgebilden. Er unterscheidet vier Gesellschaftstypen: egalitäre Gesellschaft, Ranggesellschaft, stratifizierte Gesellschaft und Staat.

Auf der egalitären Ebene besteht keine ausgeprägte Hierarchie. Die Ökonomie basiert auf egalitärer Verteilung von Gütern durch Austausch (reciprocity), ohne dass ein Individuum die Möglichkeit der Anhäufung über seinen persönlichen Bedarf hinaus hat.

Die Ranggesellschaft erweitert das reziprokale System um die Redistribution: Ein Güterüberschuss wird - statt ausschließlich reziprokal zu zirkulieren - für spätere gemeinschaftliche Zwecke angehäuft. Die für die Wiederverteilung autorisierten sozialen Positionen sind nicht für alle dafür geeigneten Personen zugänglich. Auf diese Weise entsteht ein besonderer sozialer Rang, der aber noch keine materiellen Privilegien, d.h. persönliche Akkumulation von Reichtum, impliziert. Das Redistributionssystem hat Fried zufolge evolutionäre Vorteile: eine erhöhte Produktivität, bessere Planbarkeit der Versorgung, abwechslungsreichere Ernährung.

Die individuelle Güterakkumulation führt zur nächsten Stufe, der stratifizierten (geschichteten) Gesellschaft, in der bestimmte Gruppen (bands) sich exklusiven Zugang zu wichtigen Ressourcen verschaffen und Güterakkumulation und Einfluss, d.h. Macht, in einem bisher unbekannten Ausmaß generieren. Es entstehen zwei soziale Schichten, eine kleine sehr begüterte und eine große weniger begüterte.

Der Schritt von der stratifizierten Gesellschaft zum Staat vollzieht sich durch die Außerkraftsetzung der Verwandtschaft als sozial organisierendem Prinzip und durch der Etablierung davon unabhängiger (supra-kin) gesellschaftlicher Netzwerke. Fried hält K.A. Wittvogels Theorie für vertretbar, dass das staatliche Königtum als pragmatische Lösung der Herausforderung entstanden sei, komplexe Bewässerungssysteme zu organisieren. Es könnte, meine ich, aber auch umgekehrt gewesen sein, nämlich dass erst auf der Basis eines etablierten Königtums die Möglichkeit einer Planung und Realisierung solcher Projekte gegeben war.

Wie sich Fried den Organisationsmodus dieser Bands in vorstaatlichen Städten wie Catal Hüyük vorstellte, ist mir (noch) nicht bekannt.
Vermutlich hätte er in Catal Hüyük eine Mischung aus reziprokaler und redistributiver Ökonomie, also Merkmale der egalitären und der Ranggesellschaft, am Werk gesehen.
 
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Es ist einfach, jemand zu kritisieren, der das Konstrukt "Stamm" auf die Wikinger des Mittelalters angewendet hatte. Dieses Konstrukt des "Stammes" als Beschreibung der sozialen und politischen Strukturen ist m.E. mehr als angemessen. Und wird von der Mehrzahl der Historiker, die sich mit den Wikingern beschäftigen zur Beschreibung der Gesellschaftsformation auch so gebraucht.

Das Konstrukt "Ethnie" zur Beschreibung einer sozialen Formation wie einem "Stamm" wird nicht verwendet, um einen politischen, handelnden Akteur im historischen Kontext zu kennzeichnen.

Dieses legen zumindest alle unten aufgeführten Autoren nahe, die weiterhin in Anlehnung an Service von einer evolutionären Typologie im Rahmen der politischen Anthropologie von der "Gruppe, Familie, Sippe", zum "Stamm", zum "Königreich" und zum "Staat" ausgehen. Trotz aller theoretischen und empirischen Einschränkungen, die dieses Konstrukt mit sich bringt.

Das Wochenende ist vorbei und es steht nach wie vor folgende Aussage von Riothamus im Raum: "Jetzt nur soviel: Fried kam mir dazu einfach beim Schreiben in den Sinn; es ist lange her, dass ich ihn las. Dabei ging es mir natürlich nicht um seinen gesamten Standpunkt, sondern um die Kritik am Begriff, die auch in späteren Schulen nicht gelöst ist."

Die Kritik von Fried am Stammesbegriff hat Sepiola erneut aufgegriffen und nach der verbleibenden Substanz der Kritik gefragt.

Frieds Modell mag überholt sein, aber ist deswegen seine Kritik am Stammesbegriff vom Tisch?

Haben die Ausführungen von Chan zu Fried das Thema erledigt bzw. beantwortet?

Balandier, Georges (1976): Politische Anthropologie. München: dtv
Fukuyama, Francis (2012): The origins of political order. From prehuman times to the French Revolution. 1. paperback ed. New York: Farrar Straus and Giroux.
Kurtz, Donald V. (2001): Political Anthropology. Power and Paradigms: Westview Press Incorporated.
Lewellen, Ted C. (2003): Political anthropology. An introduction. 3rd ed. Westport, Conn.: Praeger.
 
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Haben die Ausführungen von Chan zu Fried das Thema erledigt bzw. beantwortet?

Da das nur jahrzehntealte Wiederholungen und Zusammenfassungen von Frieds Positionen und Hypothesen sind, beantworten sie nichts.

"Erledigt" bzw. überhaupt bearbeitet wird das Thema auch nicht in Forenbeiträgen, sondern in entsprechenden Literaturbeiträgen. Die zusammenfassende aktuell herrschende Wertung ist oben der zitierten Fachenzyklopädie zu entnehmen.
 
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