Welche Staatsform hatte das Reich?

Ich habe mich in den letzten Wochen ausführlicher mit dem Heiligen Römischen Reich bzw. dem Ostfränkischen Reich beschäftigt und frage mich, seit wann es eine Wahlmonarchie war.

Ich habe jetzt mehrmals gelesen, dass der erste "gewählte" König Konrad I. 911 gewesen ist. So weit, so gut. Was mich nun irritiert hat, war, dass ich mehrmals gelesen habe, dass bereits Arnulf von Kärnten von den Großen "gewählt" worden ist.
Habe ich mich da verlesen bzw. ist das anders gemeint? :confused:
 
Ich glaube von einer institutionalisierten Wahl kann man nicht sprechen. Es war vielmehr so, dass der nicht zum König und Kaiser designierte Arnulf der einzige verbliebene Karolinger war, der zu diesem krisenhaften Zeitpunkt noch das Heft in der Hand hatte. Karl war krank, Ludwig, als designierter Nachfolger war noch ein Kind. Ich würde das mit der Imperatorenausrufung wie bei den Soldatenkaisern in der römischen Reichskrise vergleichen wollen, nur dass Arnulf aufgrund seiner wenn auch außerehelichen Herkunft zusätzlich zu seiner Führungsstärke eine dynastische Legitimation hatte (was bei den römischen Soldatenkaisern ja eben nicht der Fall war).
 
Wirklich schriftlich fixiert wurden die Regeln der Wahl erst mit der Goldenen Bulle 1356. Vorher war es mWn eher Gewohnheitsrecht respektive Tradition.
 
"Verfassungsrechtlich" liegt ihr da sicher richtig, ich sehe das aber etwas lockerer und würde meinen, dass wir das damit ansetzen können, seitdem die Großen des Reiches trotz dynastischer Erbfolge das Recht für sich in Anspruch nahmen, die Person des künftigen Königs mitzubestimmen.
 
"Verfassungsrechtlich" liegt ihr da sicher richtig, ich sehe das aber etwas lockerer und würde meinen, dass wir das damit ansetzen können, seitdem die Großen des Reiches trotz dynastischer Erbfolge das Recht für sich in Anspruch nahmen, die Person des künftigen Königs mitzubestimmen.

Das haben sie doch mit der Wahl Arnulfs von Kärnten doch schon getan.

Nochmal die Frage: Ab wann würdest Du von einer institutionalisierten Wahl sprechen?
 
Da gibt es noch ein paar Aspekte zu bedenken.

1- Ende des 9.Jahrhundert war es noch so, dass bei Adelssippen nicht unbedingt, der Sohn, sondern der geeignetste in den Ämtern nachfolgte. Entsprechend nahm man mit Arnulf ebenfalls den geeignetsten. Man agierte also im Zweifelsfall in der üblichen Art und Weise, die auf das Reich übertragen wurde. Zunächst einmal als Improvisation.
2- Die Goldene Bulle schrieb (jedenfalls in dieser Frage) Verhältnisse fest, setzte sie nicht. Daher muss man schon vorher von einer Institution der Königswahl sprechen.
3- Wenn die Liudolfinger ihre Söhne gleichsam vorwählen ließen, wenn sie sie designieren wollen, wenn Widukind von Corvey die Wahl als integralen Bestandteil einer idealen Königserhebung beschreibt und mangelnde Zustimmung regelmäßig zu kriegerischen Auseinandersetzungen führt, dann kann man das nicht nur als Einhaltung der angemessenen Form interpretieren. Dass hieße die Form als Mittel der Konsenserhaltung überzustrapazieren. Da muss man schon von Einrichtung sprechen.

Was heißt nun 'Institution' in vorwiegend oralen Gesellschaften? Muss da wirklich einer Institution erst Brief und Siegel gegeben werden? Muss da nicht vielmehr das Übliche und das als 'gut und richtig' geltende, also das Gewohnheitsrecht als Institution akzeptiert werden? Der Satz, dass es kein Verfassungsgewohnheitsrecht gibt, ist jedenfalls ein Anachronismus.

Da die Wahl immer Bestandteil der Königserhebung blieb, und Verhandlungen sicher schon anfangs dem symbolischen Akt vorausgingen, können wir auch nicht nach einer Trennung fragen.

Wer eine feste und genau festgelegte Form für eine Institution verlangt, kann nur da eine finden, wo Recht gesetzt wird. Doch wäre das eine auf moderne Zeiten zentrierte Sichtweise, die nicht zur Beschreibung des Mittelalters taugt. Wie will man in dem Zusammenhang fassen, ob etwas institutionalisiert ist? Man betrachte, wie vorgegangen wird, was als Gewohnheit gelten kann, ja was als 'gerecht' im Sinne von 'gut und richtig' betrachtet wird.

Ich habe im Forum auch schon mal den Unterschied von Kur und Wahl angesprochen. Dies spielt hier auch mit hinein. Wahl ist dafür eben auch ein moderner Begriff.

Schließlich und endlich steht hier im Raum, dass die Großen lange nur den anerkannten, den sie selbst gekürt hatten. In Zeiten, in denen das so war, war die Kur Voraussetzung für das Königtum und kann schlecht anders als als Institution betrachtet werden.

Wie gesagt, müssen wir uns da von modernen Vorstellungen wie Wahl und den abstrakten Institutionen moderner Staaten lösen.

In meinen Augen ist das also einfach eine Definitionsfrage. Allerdings stehen wir hier dann auch vor dem Problem, ob es hier angemessen ist, z.B. Einrichtung als zusätichen Begriff zu prägen. Schließlich gibt es z.B. in Großbritannien noch eine gewohnheitsrechtliche Verfassung. Da kann es einfacher sein, 'Institution' je nach Gebrauchsweise durch ein Adjektiv oder eine Kategorisierung mit entsprechender Definition zu aktualisieren.

Wie wir auch vorgehen, letztlich pressen wir verschiedene Vorstellungen in unsere Begrifflichkeiten und müssen das dann entsprechend erklären.
 
Karl war krank, Ludwig, als designierter Nachfolger war noch ein Kind.


Ende des 9.Jahrhundert war es noch so, dass bei Adelssippen nicht unbedingt, der Sohn, sondern der geeignetste in den Ämtern nachfolgte. Entsprechend nahm man mit Arnulf ebenfalls den geeignetsten. Man agierte also im Zweifelsfall in der üblichen Art und Weise, die auf das Reich übertragen wurde. Zunächst einmal als Improvisation.

Nach Arnulfs Ableben hatte "man" keine Probleme, seinen sechsjährigen Sohn Ludwig "das Kind" zum König zu erheben.

Offensichtlich nahmen sich die Großen heraus, selber über die Eignung zu befinden.
 
Wer sind denn eigentlich die Großen? Im Laufe der Zeit sind das die Kurfürsten geworden. Aber wie war das zu Beginn (10. Jhdt.)? Vermutlich die Herzöge der Stammherzogtümer des Ostfrankenreiches, aber auch Bischöfe und hoch gestellte Adelsfamilien?
 
Wer sind denn eigentlich die Großen? Im Laufe der Zeit sind das die Kurfürsten geworden. Aber wie war das zu Beginn (10. Jhdt.)? Vermutlich die Herzöge der Stammherzogtümer des Ostfrankenreiches, aber auch Bischöfe und hoch gestellte Adelsfamilien?

Bei den Bischöfen insbesondere die Metropolitanbischöfe: Trier, Mainz, Köln, Salzburg.
Die drei fränkischen (rheinischen) Metropolitanbischöfe konkurrierten laut Widukind in ottonischer Zeit um das Recht, den König zu wählen. Hier zeichnen sich bereits die späteren geistlichen Kurfürstentümer ab.
 
Nochmal die Frage: Ab wann würdest Du von einer institutionalisierten Wahl sprechen?
Ab dem Zeitpunkt, wo sie sich nicht nur das Recht herausnehmen, weil sie es können, sondern überzeugt sind, dass sie es (aufgrund von Tradition und Herkommen) tatsächlich haben. Ab dem Zeitpunkt, wo der Akt der Königserhebung nicht mehr spontan erfolgt, sondern an ein Ablaufprocedere gebunden ist. Ab dem Zeitpunkt, wo es eine Unerhörtheit darstellt, wenn die Nachfolge allein durch den amtierenden König und nur aufgrund des dynastischen Prinzips geregelt wird. Also als die Kaiser begannen, ihre designierten Nachfolger noch zu ihren Lebzeiten zu Königen wählen zu lassen.
 
Ab dem Zeitpunkt, wo sie sich nicht nur das Recht herausnehmen, weil sie es können, sondern überzeugt sind, dass sie es (aufgrund von Tradition und Herkommen) tatsächlich haben. Ab dem Zeitpunkt, wo der Akt der Königserhebung nicht mehr spontan erfolgt, sondern an ein Ablaufprocedere gebunden ist. Ab dem Zeitpunkt, wo es eine Unerhörtheit darstellt, wenn die Nachfolge allein durch den amtierenden König und nur aufgrund des dynastischen Prinzips geregelt wird. Also als die Kaiser begannen, ihre designierten Nachfolger noch zu ihren Lebzeiten zu Königen wählen zu lassen.

Ab dem Moment, wo die Großen sich das Recht herausnehmen können, muss der König, wenn er seine Nachfolge regeln will, sich auch der Zustimmung der Großen versichern. Je verbindlicher und feierlicher, desto besser.
Den Zeitpunkt würde ich dann spätestens bei Heinrich I. ansetzen:

Nachdem Heinrich I. sein Königtum im ganzen ostfränkischen Reich und in Lothringen durchgesetzt hatte und seine Führung, wie viele Indizien erkennen lassen, breite Zustimmung fand, leitete er im Einverständnis mit den Großen eine Nachfolgeregelung ein, welche die Weitergabe des Königtums in seiner Familie sicherte. Die Klärungen in der Königsfamilie könnten begonnen haben, kaum daß der älteste Königssohn Otto das 15. Lebensjahr erreicht hatte; sowohl im Königshaus wie unter den führenden Kräften im Reich dürften die Pläne schon fester gewesen sein, als man über die Eheschließung mit der Königstochter aus Wessex verhandelte; und die Entscheidung stand zweifellos fest, als Heinrich I. im September 929 unter Mitwirkung der Großen ,mit Gottes Hilfe sein Haus ordnete' und als der zum Thronfolger bestimmte Otto die Ehe mit Edgith einging. Heinrich hatte die Zustimmung der Großen zur Nachfolge seines Sohnes erlangt, und wenn Otto, wie nicht unwahrscheinlich ist, 930 in Mainz „geweiht" wurde, so dürfte auch seine Anerkennung als künftiger Nachfolger damals - vermutlich um Ostern am Mittelrhein - öffentlich demonstriert worden sein. An Pfingsten 930 hat dann in Aachen wohl ein entsprechender Akt der Zustimmung von Seiten der Lothringer stattgefunden.
Wie die „Benediktion" in Mainz, die man m. E. am ehesten als Salbung verstehen muß, insgesamt in die Geschichte der Herrscherweihe einzuordnen ist, mag hier offenbleiben. Sie entspräche von Sinn und Zielsetzung her aber nicht nur dem, was die Karolinger nach dem Aufstieg zum Königtum taten, sondern auch dem, was Otto L, Otto II. und Konrad II. an ihren Söhnen schon im Kindesalter vollziehen ließen. „Ordination" und Herrschaftsantritt als König mußten, wie das Beispiel Heinrichs deutlich zeigt, nicht zusammenfallen.


Hagen Keller, Widukinds Bericht über die Aachener Wahl und Krönung Ottos I.
https://www.degruyter.com/view/j/fmst.1995.29.issue-1/9783110242270.390/9783110242270.390.xml
 
Also kann man es so zusammenfassen, dass man von einer tatsächlichen Königswahl von dem Zeitpunkt ausgehen kann, ab dem die Zustimmung der "Großen" nicht mehr pro forma war und de facto der Herrscher bestimmen konnte, sondern er von diesen tatsächlich abhängig war.

Ich würde daher auch auch von Königen ab Heinrich I. ausgehen. Arnulf war wohl mehr ein Ausnahmefall, der den zukünftigen Weg bereits abzeichnete.
 
Ich würde daher auch auch von Königen ab Heinrich I. ausgehen. Arnulf war wohl mehr ein Ausnahmefall, der den zukünftigen Weg bereits abzeichnete.

Schon Konrad I. wusste, wie man sich selber als Nachfolger in Stellung bringt.

Er wird sich darüber im klaren gewesen sein, dass er zwecks wirksamer Nachfolgeregelung die Großen rechtzeitig mit ins Boot holen musste.
 
Da möchte ich zurückfragen, was in Deiner Sicht bei der Wahl Arnulfs der "Ausnahmefall" war.

Der Ausnahmefall war aus meiner Sicht, dass die Großen auf den amtierenden König und seinen designierten Thronfolger pfiffen.

Das war bei Konrad I., Heinrich I. usw. ja eben nicht der Fall.

Wenn ich schreibe "spätestens bei Heinrich I.", dann beziehe ich mich auf den von El Quijote aufgebrachte Formulierung "institutionalisierte Wahl". Heinrich I. führte ja nichts Neues ein, sondern übernahm und vervollkommnete ein schon eingespieltes Procedere (an dem die Nachfolger wahrscheinlich noch weiter gefeilt haben).

Die Erhebung Ludwigs als Nachfolger Arnulfs dürfte, wie ich weiter oben schon geschrieben habe, ebenfalls von der Zustimmung der "Großen" abhängig gewesen sein.
 
Nun, dass es zum einen eben bis dahin nicht üblich war - Qujiote hat es ja gut beschrieben, als er es mit den Soldatenerhebungen verglichen hat.

Und bei Heinrich I. war es üblich und ich glaube nicht, dass er Nachfolger ohne die Zustimmung hätte werden können. Wenn ich das richtig sehe, hat es zwischen Konrad und Heinrich eine längere Vakanz gegeben.
 
Die Königeerhebung von Arnulf bis Heinrich I. waren Ausnahmefälle, die gleichsam einen Beschluss der Mächtigen bedingten. Nach 4 Königen wird man danach von Institution sprechen können. Aber um Heinrich würde ich mich jetzt auch nicht streiten.

Zum Personenkreis der Großen: Abgesehen von den Verzögern und Erzbischöfen ist der Personenkreis nicht anzugeben. Bei Bischöfen, Äbten und Grafen kam es auf Macht, Vernetzung, etc. an. Es waren eben diejenigen, denen man zubilligte etwas mitzusprechen zu haben. Später setzten sich Macht und Geld durch. Zusammen mit Besonderheiten der zeitigen Besitzverhältnisse ergab das die Zusammenstellung der Goldenen Bulle.
 
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