Wo bleibt die Zeit?

Kalenderhannes

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‘Die Zeit vergeht’ ist eine oft gebrauchte Metapher, so häufig benutzt, dass wir uns ihres gleichnishaften Charakters kaum noch bewusst werden. So fragt sich mancher in Momenten des Erinnerns, wenn er gedanklich Rückschau hält auf den vergangenen Tag, auf ein abgelaufenes Jahr oder ein vollendetes Leben, wo denn die Zeit geblieben sei. Im Gespräch ist eine solche Frage in der Regel lediglich rhetorisch. Manchmal indessen ist sie völlig ernst gemeint, polemisch aufgeworfen, einen Meinungsstreit zu provozieren. In diesem Sinne mag sie hier verstanden werden.

Definieren wir Zeit zunächst als rein gedankliches Konstrukt, vom Menschen erdacht, um ein Ordnungsgefüge für Tätigkeiten und Ereignisse zu liefern. Dieses strukturelle Gebilde können wir uns wie ein endloses netzartiges Band vorstellen, längs dessen alle Prozesse, jegliches Geschehen ablaufen. Wir denken uns dieses Maschenwerk unveränderlich feststehend. Was sich an ihm entlang bewegt, ist die Natur, sind wir. Jegliches Tun, selbst unsere bloße biologische Existenz bringt uns auf der Zeitachse voran. Alle realen Prozesse können nur in ein und derselben Richtung entlang dieses Bandes ablaufen. Nichts und niemand kann sich rückwärts darauf bewegen: Alte werden nicht jünger und ein zerbrochener Gegenstand setzt sich nicht von selbst wieder zusammen. Deshalb bleibt ein ständig wachsender Teil der Zeit zurück, während wir im Leben voranschreiten. Wir nennen ihn Vergangenheit.

Vergangene Zeit manifestiert sich in Ereignissen, in den Veränderungen, die während ihres Ablaufs in Natur und Gesellschaft erfolgen. Diese Ereignisse sind in der Erinnerung bewahrt. So erinnert sich der Einzelne an Episoden seines Lebens, an einschneidende Veränderungen seiner Gedanken- und Gefühlswelt, seiner materiellen Lebensumstände. Die Menschheit als Ganzes erinnert sich der Geschehnisse in ihrer Geschichte. Lebewesen ‘erinnern’ sich der Evolution, ihrer stammesgeschichtlichen Entwicklung, indem sie diese im Lauf der individuellen Entwicklung wiederholen. Die Erde ‘erinnert’ sich ihrer Vergangenheit in der Struktur der Erdkruste, in den Schichten der Gesteine. Das Weltall bewahrt im Rauschen seiner Hintergrundstrahlung die Erinnerung an den Urknall, den Anfang alles Seins und aller Zeit. Jede dieser so unterschiedlichen Kategorien bedarf zu ihrer Beschreibung einer eigenen, spezifischen Form von Zeitlichkeit. Und doch – ob in diesem Augenblick ein Kind geboren wird, ein Blatt vom Baum fällt oder vor Jahrmillionen ein Himmelskörper zerbarst, es ist immer dieselbe Zeit. So scheint es, als bestünde unser gedachtes Netzwerk aus mehreren miteinander verknüpften Ebenen unterschiedlicher Zeit.

Alles bisher Gesagte basiert auf der Vorstellung linear ablaufender Zeit. Sie wurzelt in einer Handlungslogik, einem strukturellen Konzept des Denkens, das die primitiven Kulturen auszeichnet. Demgegenüber bevorzugten Menschen anderer Epochen, anderer Kulturen ein Bild von zyklisch wiederkehrender Zeit. Es basiert auf der Beobachtung der Vorgänge in der Natur, die durch zyklisches Geschehen bestimmt sind. Neben dem steten Wechsel von Tag und Nacht mögen es die Wiederkehr der Mondphasen und der Jahreszyklus der Pflanzenwelt gewesen sein, die als erstes ins Bewusstsein des Menschen drangen. In allen solchen Zyklen scheint die Zeit nicht zu vergehen, sie wechselt nur in einen neuen Zyklus.

Heute begreifen wir Zeit als linear und durch Zyklen gegliedert. Man mag sich diese Zyklen als Maschen in unserem lang gestreckten Netz vorstellen. Alles, was ist, entwickelt sich, und dabei spielen zyklische und rhythmische Prozesse eine entscheidende Rolle. Sie erfassen die kleinsten wie die größten existierenden Gebilde. Die Evolution begann mit dem Urknall und umfasst auch das anscheinend Unbelebte. Ein geheimnisvolles Etwas war plötzlich da, auf vielfältige Weise rhythmisch schwingend, und formierte sich zu Strings. Daraus entwickelten sich Elementarteilchen und vereinten sich zu Atomen. Wie die Strings bilden auch sie charakteristische konstante Schwingungsmuster. So entstanden zusammen mit der Materie ihre Zyklen, Messgrößen der Zeit. Der ganze Kosmos scheint demnach nichts als Bewegung. Raum und Zeit entstehen immer neu aus ihr. Heute sind sie bündig definiert als nicht voneinander zu trennende Eigenschaften des Universums. Jegliche Materie, in welcher Gestalt auch immer, kann nur in Raum und Zeit existieren.

Diese Feststellung impliziert die objektive Existenz der Zeit. Das aber macht einen scheinbaren Widerspruch sichtbar: objektiv existierende Zeit versus ihre Definition als bloße Konstruktion des menschlichen Geistes. Und genau das ist der Punkt, an dem sich von alters her bei jedweder Erörterung des Themas ‘Zeit’ die Geister schieden. Alle diesbezüglichen Überlegungen gipfelten in der Frage ‘Was ist Zeit?’. Generationen von Gelehrten seit der Antike fanden immer wieder neue, meist einander widersprechende Antworten darauf.

Erst die moderne interdisziplinäre Zeitforschung nähert sich einer Lösung des Problems.
Sie postuliert die Existenz einer Hierarchie verschiedener, spezifisch ausgeprägter Zeitlichkeiten, im Prinzip durchaus ähnlich unserem simplen Bild vom mehrschichtigen netzartigen Band. In derartigen Modellen erscheint Zeit in mehreren einander ergänzenden Formen, die sich nacheinander herausbildeten. Kurz nach dem Urknall entstand aus dem azeitlichen Zustand eine Protozeitlichkeit. Mit der Bildung fester Materie erhielt sie einen Zusammenhang, formte sich zu Eozeitlichkeit. Daraus ging mit der Entwicklung von Leben die Biozeitlichkeit hervor. Alle diese Zeitlichkeiten existieren weiter in den verschiedenen Bereichen der Realität, jede ist gültig in ihrer spezifischen Welt.

Schließlich entwickelte sich zusammen mit dem Menschen Noozeitlichkeit. Das ist die zeitliche Realität des menschlichen Geistes, innerhalb derer die individuelle Zeitwahrnehmung erfolgt, alles Geschehen erlebt wird. Auch sie hat eine materielle Grundlage, basiert auf biologisch-chemischen Vorgängen im Gehirn, im lebenden Organismus. Mit solchem Denkmodell schliesst die eine Erklärung die andere nicht mehr aus: Objektive Zeitlichkeiten wie jene der Physik finden ihre Ergänzung, ihre spezifische Ausprägung im komplizierten, subjektiven Zeitgefühl des Menschen.

Der Begriff Zeit umfasst alles Existierende. Dennoch existiert Zeit selbst nur im Bewusstsein des Einzelnen als Produkt des menschlichen Geistes. Nachdem der Mensch in frühen Phasen seiner Entwicklung zum Bewusstsein seiner selbst gefunden hatte, verband sich damit ein Bewusstsein von der Zeit. Sein Gehirn erlangte die Fähigkeit, aufeinander folgende Augenblicke miteinander zu verschmelzen. Dadurch erweiterte sich die an das hier und jetzt gebundene Erkenntnis des ‘Ich bin’ zur Vorstellung von einer dynamischen Existenz in der Zeit. In diesen Vorgängen, die noch heute jedes Kind im Laufe seiner ersten Lebensjahre wiederholt, gründet das individuelle Zeitgefühl. Weil der einzelne Mensch vom Ich ausgeht, sich selbst im Mittelpunkt empfindet, gewinnt er den Eindruck, die Zeit ströme an ihm vorbei, erlebt er subjektiv den Ablauf der Zeit.

Diesen Ablauf teilen wir in Vergangenheit und Zukunft. Zwischen diesen beiden Zuständen erlebt der Mensch das ‘Jetzt’, die ‘Gegenwart’, den ‘Augenblick’. Die erlebte Zeit verschwindet für ihn in der Vergangenheit. Aber weil die Zeit selbst nicht materiell existiert, nur einen strukturellen ‘Rahmen’ alles Existierenden bildet, kann sie nicht wirklich fließen. Wir besitzen kein Organ, mit dem wir ihren Ablauf direkt wahrnehmen könnten. Die Zeit ‘vergeht’ in unserem Bewusstsein, während und weil etwas geschieht. Wenn sich nichts verändert, gibt es keine Differenz zwischen zwei Zuständen. Dann wird Zeit nicht wahrgenommen.

Nur Ereignisse geben der an und für sich gleichförmigen Zeit Struktur. Wird in Abschnitten relativer Ruhe wenig erlebt, scheint sie langsamer zu vergehen, so als würden sich die Maschen in unserer Ebene des Zeit-Bandes dehnen. Je mehr in der aktuellen, subjektiven Zeit geschieht, desto schneller eilt sie dahin. Dieses Gefühl entsteht primär in jedem Einzelnen. Aber auch Gruppen entwickeln ein vergleichbares, kollektives Gefühl für solche ‘nichtlineare’ Zeit.

Beide Formen, individuelle wie soziale Zeit, haben jedoch keine Auswirkung auf die tieferen Schichten des Maschenwerkes, denn Zeit existiert – in Gestalt z.B. physikalischer und biologischer Zeitlichkeit – unabhängig vom Bewusstsein. In diesen Schichten ist sie für die gewöhnliche Anschauung ein kontinuierlicher, immer und überall gleicher Fluss. Indessen mussten auch die Physiker seit Einsteins Spezieller Relativitätstheorie ihre alte Vorstellung von einer absoluten Zeit aufgeben. Auch die Zeit der Physik ist relativ, je nach dem im Bezugsbereich herrschenden Kraftfeld gelten unterschiedliche Maßstäbe von Dauer.

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Auf Wunsch kann ich Teil 2 des Aufsatzes hier einstellen.
 
Solange die Mods mitspielen, tue ich das auch.

Die Evolution begann mit dem Urknall

Das ist nur eine Theorie, dazu noch die eines Jesuiten.

Heute begreifen wir Zeit als linear und durch Zyklen gegliedert.

Das lineare Zeitkonzept ist ein Produkt der jüdischen Religion als Gegenentwurf zum zyklischen Denken des polytheistischen Umfeldes. Das Konzept war im Judentum notwendig, um die Entwicklung von einem negativen Jetzt-Zustand (Israel im Würgegriff von Supermächten) zu einem positiven Endzustand (Freiheit unter der Gottesherrschaft) plausibel zu machen. Ein zyklischer Weltbegriff erlaubt diese Konstruktion nicht.

Dennoch existiert Zeit selbst nur im Bewusstsein des Einzelnen als Produkt des menschlichen Geistes.

Das hat in der westlichen Kultur als erster Immanuel Kant so gesehen, in der asiatischen Kultur war dieser Gedanke viel älter (Buddhismus, Vedanta). Man sollte es aber mit dem Mahayana-Denker Nagarjuna halten, dass abstrakte Konzepte wie z.B. Zeit nicht pauschal als existent oder nicht-existent angesehen werden können, da laut Nagarjuna - und auch Kant - die binäre Struktur unseres Denkens unfähig ist, Realität an sich zu erfassen. Wäre Zeit absolut gesehen nicht-existent, dann gäbe es keine Veränderung (worauf auch du hinweist) und somit keinen Unterschied zwischen Erleuchtung und Nicht-Erleuchtung. Genau dieser Unterschied aber steht im Fokus buddhistischer Bemühungen. Ein ähnliches logisches Problem zeigt sich bei Kants Idee, dass Kausalität ein reines Denkprodukt ist (dazu angeregt durch David Humes Erkenntnistheorie). Im Widerspruch dazu behauptet Kant nämlich, dass die Dinge-an-sich (laut Kant unerkennbar) "unsere Sinne affizieren", also kausal beeinflussen - womit Kausalität auch außerhalb des Denkens stattfindet.

Erst die moderne interdisziplinäre Zeitforschung nähert sich einer Lösung des Problems.
Sie postuliert die Existenz einer Hierarchie verschiedener, spezifisch ausgeprägter Zeitlichkeiten, im Prinzip durchaus ähnlich unserem simplen Bild vom mehrschichtigen netzartigen Band.

Bei Bezugnahmen auf "die Forschung" wären Angaben über Personen und Werke für eine Diskussion ganz hilfreich.
 
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Erst die moderne interdisziplinäre Zeitforschung nähert sich einer Lösung des Problems.
Sie postuliert die Existenz einer Hierarchie verschiedener, spezifisch ausgeprägter Zeitlichkeiten, im Prinzip durchaus ähnlich unserem simplen Bild vom mehrschichtigen netzartigen Band.
Bei Bezugnahmen auf "die Forschung" wären Angaben über Personen und Werke für eine Diskussion ganz hilfreich.

Julius Thomas Fraser - Wikipedia
 
Diese Ereignisse sind in der Erinnerung bewahrt.
...Dennoch existiert Zeit selbst nur im Bewusstsein des Einzelnen als Produkt des menschlichen Geistes....Nachdem der Mensch in frühen Phasen seiner Entwicklung zum Bewusstsein seiner selbst gefunden hatte, verband sich damit ein Bewusstsein von der Zeit.

Da stellt sich unvermeidlich die Frage nach der Fruchtfliege :):D
Denn die hat auch ein Gedächtnis, mindestens 4 Sekunden auf der nach oben offenen Gedächtnisskala.
scinexx | Fruchtfliegen merken sich ihr Ziel: Studie: Tiere besitzen ein Orientierungsgedächtnis
Und man kann sich auch fragen, ob es für die Fruchtfliege, oder gar der Eintagsfliege, einen Sinn machen kann, sich etwas über Jahre merken zu können.
 
Teil 2

Betrachten wir nun die Vorgänge beim Erleben subjektiver Zeit etwas genauer, dann zeigt sich Seltsames. In der erlebten Gegenwart vergeht uns die Zeit dann schnell, wenn viel geschieht. Das liegt an der Arbeitsweise unseres Gehirns, das die Signale unserer Sinnesorgane zunächst blockweise in kleinen Abschnitten, den Zeitfenstern, sammelt. Erst danach erscheinen sie im Bewusstsein und dort wird die Zeit als ‘fließend’ wahrgenommen. Stürmen viele Informationen auf uns ein, sind die Zeitfenster schnell ‘gefüllt’ und werden kürzer, die Zeit scheint rasch zu vergehen. In der Erinnerung dagegen wird später die individuelle Dauer der vergangenen Zeit an der Menge des Erlebten gemessen. Wenn viel geschieht und geistig viel verarbeitet wird, speichert das Gedächtnis Informationen aus vielen Fenstern. Dann erscheint die Zeit im Rückblick als lang, während sie im Verlauf des realen Geschehens sehr schnell zu vergehen schien.

Im entgegengesetzten Fall empfinden wir die aktuelle Zeit als gedehnt. Monotonie, Wartenmüssen, Langeweile verlangsamen den Ablauf individueller Zeit, aber hinterlassen kaum Erinnerung. Solche Zeitintervalle, in denen wenig verarbeitet wurde, erscheinen im Rückblick geschrumpft. So kommt es, dass kurze intensive Erlebnisse, wichtige Begegnungen oder interessante Reisen deutliche Spuren im Gedächtnis hinterlassen, während der gleichförmige Ablauf des Alltags fast gänzlich daraus verschwindet. Wir wissen dann tatsächlich nicht, wo diese Zeit geblieben ist.

Das Zeitbewusstsein des Einzelnen hängt von persönlichen Voraussetzungen ab und verändert sich mit dem Alter. In der Regel können sich erst Schulkinder unter dem Begriff eines Jahres überhaupt etwas vorstellen. Für einen Zwanzigjährigen repräsentiert ein Jahr ein Zwanzigstel seines erfahrenen Lebens, einem Sechzigjährigen erscheint es nur ein Drittel so lang. Deshalb enteilt älteren Menschen die Zeit schnell, jungen scheint sie oft sehr lang. Das ist freilich grob vereinfacht; eine bedeutende Rolle hierbei spielt die Menge des je Zeiteinheit neu Erlebten.

Auch die aktuelle äußere Situation beeinflusst das Zeitempfinden, und zwar um so stärker, je kürzer der betrachtete Zeitraum ist. Eine wesentliche Rolle dabei spielen Erwartungshaltung, Aktivität und insbesondere die Aufmerksamkeit. Je nachdem, ob sie sich vorwiegend auf das Geschehen oder auf den Ablauf der Zeit richtet, werden Kurzweil oder Langeweile empfunden.

Subjektiv erscheint uns also Zeit höchst vielfältig. Nicht anders ist es beim gesellschaftlichen Zeitbegriff. Durch Gedankenaustausch über individuelle Zeiterfahrungen bildeten sich kollektive Zeitvorstellungen heraus. Dabei brachte jeder Kulturkreis seine eigenen Auffassungen von Zeit hervor, geht auf spezifische Weise mit Zeit um. Das hat Rückwirkungen auf den Einzelnen, sein Zeitgefühl ist auch gesellschaftlich determiniert. Die Gesellschaft wirkt mit ökonomischen und kulturellen Mitteln prägend auf das Individuum ein.

Eine bedeutende Rolle dabei haben die Religionen gespielt. Manche betrachten den Gang der Zeit als prinzipiell vorherbestimmt. So versteht jüdisch-christliche Tradition Zeit als einmalige Entwicklung, die zwischen Schöpfung und Weltende abläuft. Der Hinduismus gliedert Zeit in mehrere vorherbestimmte Weltalter. Buddhisten ordnen das Weltgeschehen in große Zyklen des Werdens und Vergehens ein. Auch in der Vorstellung des Taoismus unterliegt die gesamte Natur zyklischen Wechseln. In den Kulturen Mesoamerikas hat sich die zyklische Zeitauffassung extrem ausgeprägt. Entsprechend begann die ganze Geschichte der Maya immer wieder neu wie der Lauf der Sonne.

Die großen ‘westlichen’ Religionen wurzeln in einem als geschichtlich aufgefassten Zeitbegriff. Im Gegensatz dazu beziehen sich die Religionen der Indianer Nordamerikas auf Orte. Darauf basieren Gleichsetzungen von Raum und Zeit. Der Rand ihres Lebenskreises, der Raum dahinter wird mit Vergangenheit und Alter assoziiert. In ihrer Vorstellungswelt existiert vergangene Zeit weiter in der räumlichen Ferne. Die Aborigines Australiens haben heilige Plätze, an denen Zeit sich materialisiert. Für sie ist diese ‘Traumzeit’ der dauerhaft existierende Ursprung des Lebens, Zeit und Raum der ungeborenen Kinder wie der Ahnen.

Indes ist Zeit nicht unendlich, unser vorgestelltes Band nicht endlos lang. Zeit entstand, als irgend etwas erstmals eine Wirkung ausübte. Zeit wird enden, falls jemals absolut nichts mehr geschieht, alles Sein in Gleichförmigkeit erstarrt. Fragen nach einem ‘davor’ oder ‘danach’ sind gegenstandslos, Vorgänge außerhalb der Zeit nicht denkbar. Dennoch haben Menschen immer wieder über jenes Unerklärbare nachgedacht, das über Zeit noch hinausgeht, und sie schufen dafür den Begriff der Ewigkeit. Eine moderne Deutung erklärt Ewigkeit als Negation der Zeit, und zwar ganz konkret als Negation ihrer hauptsächlichen, kulturell bedingten Merkmale. Die alten Ägypter begriffen Zeit als zugemessene Spanne und einmalige Gelegenheit. Ihnen erschien Ewigkeit als unendliche Wiederholbarkeit. Das führte sie zur Idee des ‘sich erneuernden Jahres’, mit dem in ihren Vorstellungen jeweils eine gänzlich neue Zeit begann. In Indien, wo man sich Zeit als Zyklus dauernder Wiederkehr vorstellt, bedeutet Ewigkeit eine Zeitlosigkeit, in der es kein Vergehen gibt. Der Übergang dorthin wird als Erlösung vom Gebundensein an das ‘Rad der Zeit’ erhofft. In unserem Kulturkreis schließlich, der Zeit als gerichtetes Fließen erklärt, kann Ewigkeit als in sich ruhende Bewegungslosigkeit gedacht werden.

Wir betrachten Zeit als begleitenden Umstand konkreter Vorgänge. So ist sie nicht zuletzt Ergebnis unseres Tuns – in ihrer Ausprägung als vom Menschen geschaffene soziale Zeit. Das ist die jüngste der im wissenschaftlichen Denkmodell definierten Zeitlichkeiten. Sie umfasst die gesellschaftlichen Aspekte der Zeit. Durch zeitliche Integration verschmelzen einzelne Personen und Gruppen zur mehr oder weniger einheitlichen Gesellschaft.

Die Vorstellungen einer Gesellschaft von Zeit basieren auf der unmittelbaren Zeiterfahrung ihrer Mitglieder. Diese Erfahrung betrifft immer die jeweilige Gegenwart. Der Zeitbegriff wurde stets nur in dem Umfang ausgebildet, den das erreichte Niveau des Lebens erforderte. Deshalb leben ungleich entwickelte Gesellschaften in unterschiedlichen Zeiten, hat jede Kultur ihre eigene, ganz einzigartige Zeit. So kennen primitive Gesellschaften keinen abstrakten Zeitbegriff, dort existiert nur die konkrete Zeit der Handlung, des augenblicklichen Geschehens. Die Frage nach dem ‘Wohin der Zeit’ kann auf diesem Niveau noch nicht gedacht werden. Erst heute ist Zeit fast überall abstrakte Welt-Zeit und den meisten Menschen gemeinsam. Beide Formen besitzen nur wenig Gemeinsames, prallen aber im Zuge der kulturellen Globalisierung aufeinander.

Ein anderer ins Auge springender Widerspruch sozialer Zeit ist folgender: In den materiell armen Gesellschaften scheint es Zeit im Überfluss zu geben, während in den Zentren der Entwicklung materieller Reichtum und Zeitmangel herrschen. Daneben ist die widersprüchliche soziale Wirklichkeit unseres Planeten maßgeblich durch eine dritte Erscheinung geprägt. Seit Menschen Zeit bewusst ausnutzen, um durch höhere Produktivität ihre Lebensbedingungen zu verbessern, entwickeln sie immer schneller neue und bessere Produktionsmittel. An den positiven Ergebnissen dieser Entwicklung partizipiert indessen nur ein Teil der Menschheit, dem ein ständig wachsendes Heer von Arbeitslosen gegenübersteht. Im Gefolge dieser Scheidung wird die Gesellschaft ökonomisch und sozial destabilisiert.

Die industriellen Revolutionen haben Zeit und Raum gleichsam verdichtet. In gleichen Zeitabschnitten geschieht immer mehr, werden immer größere Räume erreichbar. Versetzen wir uns in Gedanken einige Jahre zurück, dann blicken wir in eine weitgehend veraltete Welt, deren Strukturen uns fremd geworden sind. Ständig verkürzt sich die Zeitspanne, nach der dieser Effekt bemerkbar wird. Entsprechend verringert sich der Teil der Zukunft, auf den wir unsere in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen noch übertragen dürfen, für den wir mit vergleichbaren Lebensumständen rechnen können. Dadurch scheint die Zukunft näher an die Gegenwart heranzurücken. Einige Soziologen sprechen deshalb von einem ‘verkürzten Aufenthalt in der Gegenwart’.

Andere stellen sich im Gegensatz dazu ihre Ausdehnung auf Kosten der Zukunft vor. Es war wohl in der Zeit der Aufklärung, als zum ersten Mal ein Gefühl des ‘Bedarfs an Zeit’ spürbar wurde. Der damals aufkommende Glaube an einen allgemeinen Fortschritt erzeugte viel mehr an Wünschen und Hoffnungen, als in der Gegenwart verwirklicht werden konnte. Die Zukunft schien genügend weit, dies alles aufnehmen zu können. Inzwischen ist sie nah herangerückt und der Zeitbedarf muss in einer ‘erweiterten Gegenwart’ gedeckt werden.

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Schluss folgt
 
Teil 3 (Schluss)

In jedem als gegenwärtig empfundenen Zeitabschnitt geschieht mehr und mehr. Eine allgemeine Beschleunigung bestimmt schon seit Jahrtausenden die Entwicklung der Menschheit. Immer rascher löst Neues das Alte, Vertraute ab. Auch die soziale Zeit selbst entwickelt sich beschleunigt weiter. Heute scheint es, als habe eine ‘andere’ Zeit die Welt des täglichen Lebens erobert. Den Weg haben ihr die elektronischen Medien, die modernen Kommunikationsmittel bereitet. Sie sorgen für eine kontinuierliche Präsenz allen Geschehens, verlagern es aus räumlicher und zeitlicher Ferne ins Wahrnehmungsfenster des Hier und Jetzt. Das verdichtet unsere soziale Gegenwart. Gleichzeitig aber weitet diese sich aus, wirkt in immer größer werdende Zeiträume hinein.

Die neuartigen Zeitmuster binden nicht nur Menschen an Apparate, sie verändern auch die Beziehungen der Menschen zueinander. Früher strukturierte Arbeit die soziale Zeit. Heute wertet ihr Wandel den Augenblick, die Gegenwart, das Kurzfristige auf. Das zerreißt das soziale Band zwischen den Generationen, entwertet Zukunftspläne, macht jegliche langfristige Unternehmung fragwürdig.

Indes verschwindet auch die schnell und vielleicht unbedacht gelebte Zeit nicht einfach im Dunkel der Vergangenheit. Durch unser Tun – und ebenso durch unser Unterlassen – gestalten wir die Zukunft. In gleicher Weise haben andere Menschen in vergangenen Tagen durch ihr Handeln unsere Gegenwart geprägt. Das Vergangene ist nicht mehr zu ändern, zukünftiges Geschehen dagegen hängt auch von uns ab.

Das Stichwort Zukunft führt uns zu einem anderen Aspekt des Themas. Ein vorgestellter ‘Zeitpfeil’ zeigt die Richtung an, in der alles Geschehen abläuft. Durch diesen Ablauf entsteht der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft, und dadurch erhält die Zeit selbst eine Richtung. Dieses gedankliche Bild erlaubt es, den Zusammenhang zwischen den Zeitbegriffen der Physik und dem individuellem Zeitempfinden darzustellen.

Der Pfeil weist in die Zukunft. Das hat den einen oder anderen zu der Annahme verleitet, dort hin eile die Zeit, immer weiter voraus. Tatsächlich aber kommt von dort her ‘neue Zeit’ auf uns zu, als Ergebnis gegenwärtigen Geschehens und als potenzielle Möglichkeit zu neuem Tun. Dabei ist es prinzipiell gleichgültig, ob einer aktiv im Leben voranschreitet oder müßig den Fluss der vorüberziehenden Zeit betrachtet. Alle Prozesse verlaufen, ob mit ihm oder ohne ihn, in der Richtung zur Zukunft hin. Auch die Zeit als solche spielt bei diesen Vorgängen gar keine Rolle, ist lediglich eine Hilfsgröße zum Beschreiben des Geschehens.

Was künftig geschehen wird, bleibt uns verschlossen, so lange, bis es Gegenwart sein wird. Nichts davon ist absolut vorherbestimmt, vieles vom Zufall abhängig, doch ist der Eintritt mancher zukünftigen Ereignisse innerhalb gewisser Grenzen mehr oder weniger wahrscheinlich. Es ist, als läge vor uns ein unendlicher Vorrat verschiedener möglicher Zukünfte. Durch unser Handeln wählen wir, bewusst oder unbewusst, in jedem Augenblick eine davon aus, stellen wir Weichen für unser eigenes Leben und für das nachfolgender Generationen. Geben wir also unserer vergehenden Zeit einen bleibenden Sinn, gestalten wir ein Stückchen Zukunft. Gestalten wir es menschlich, mit Vernunft und Gefühl.

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Falls Sie, geneigte Leserin/Leser, sich ausführlich mit dem Thema 'Zeit' in seinen vielfältigen Aspekten beschäftigen möchten, lesen Sie bitte auch meinen Beitrag ”Geschichte der Zeit - Materialsammlung“ hier im Forum. Vielleicht kann ich Ihnen damit einige Zeit und Mühe ersparen.
 
Also, ich hatte jetzt nicht vor das Absondern eines vorgefertigten Textes zu triggern.:oops:
(kann auch gerne gelöscht werden, weil OT)
 
Kalenderhannes@Indessen mussten auch die Physiker seit Einsteins Spezieller Relativitätstheorie ihre alte Vorstellung von einer absoluten Zeit aufgeben. Auch die Zeit der Physik ist relativ, je nach dem im Bezugsbereich herrschenden Kraftfeld gelten unterschiedliche Maßstäbe von Dauer.

Einstein hatte ein Herz für uns Normalsterbliche. Er erklärt's einfach so: »Eine Stunde mit einem hübschen Mädchen vergeht wie eine Minute, aber eine Minute auf einem heißen Ofen scheint eine Stunde zu dauern. Das ist Relativität.«
 

Danke für den Link, ich werde ihn bei Gelegenheit genauer durchsehen.

Indes ist Zeit nicht unendlich, unser vorgestelltes Band nicht endlos lang. Zeit entstand, als irgend etwas erstmals eine Wirkung ausübte. Zeit wird enden, falls jemals absolut nichts mehr geschieht, alles Sein in Gleichförmigkeit erstarrt.

Das ist, wie so vieles in deinen Ausführungen, sehr verworren. Wo ist der Beweis, dass Zeit nicht unendlich ist, und von welchem Zeitbegriff ist überhaupt die Rede? Was hat "erstmals eine Wirkung ausgeübt"? Du schreibst: "Irgend etwas". Sehr wissenschaftlich... Mit Wohlwollen betrachtet erinnert das in unausgegorener Weise an den "Ersten unbewegten Beweger" von Aristoteles.

Ich bin so frei, zu diesem Thema ein paar genauere Überlegungen beizusteuern:

Der Versuch, die griechische Philosophie mit theologisch-christlichen Dogmen zusammenzudenken, begann im frühen Mittelalter und fand bei Albertus Magnus und später Thomas von Aquin seine theologisch wirksamste Ausprägung. Bis dahin war Platon der wichtigste Bezugspunkt theologischer Philosophieversuche gewesen, mit den beiden Scholastikern wurde es dann Aristoteles, vor allem mit seinem Lehrsatz vom Ersten Unbewegten Beweger (EUB), den er in Met. XII 7, 1072b23 mit "Gott" gleichsetzt. Dieser Gott hat an der Oberfläche zwar nichts zu tun mit den traditionell verehrten Göttern der antiken Polytheismus, ist als Grundgedanke aber natürlich aus solchen Konzepten hervorgegangen. Das Überzeugtsein von der Realität eines solchen Gottes war für A. kein religiöser, sondern ein logisch-intellektueller, also philosophischer Akt. "Außerdem besteht das daneben (= neben den bewegten Dingen, Anm. Chan), was als Erstes alles bewegt.« (Met. XII, 24 5, 4e).

Platon hatte den Weltschöpfer als ungeschaffenen Demiurgen gedacht, der die Welt nicht ex nihilo, sondern durch Formung einer präexistenten Chaosmaterie hervorbringt. Bei Aristoteles wird diese Instanz abstrakter und absoluter, der EUB steht aber ebenfalls wie bei Platon nicht an einem zeitlichen Anfang der Welt, sondern ist ein überzeitlicher unveränderbarer Verursacher einer zeitlich unlimitierten Welt der Veränderung. Um die Existenz dieses EUB zu beweisen, geht Aristoteles von folgenden Überlegungen aus:

(1) Gott ist das absolut und vollkommen Wirkliche (später bei Thomas: "Deus est actus purus, non habens aliquid de potentialitate" = Gott ist reine Wirklichkeit, er hat nichts an Möglichkeit)

(2) Es gibt zwei Seinsprinzipien, den Akt und die Potenz (das Wirkliche und das Mögliche). Die Frage ist: Was ist wessen Ursache? Da das Mögliche nicht das Wirkliche voraussetzt, sondern das Wirkliche das Mögliche, scheint das Mögliche die Ursache des Wirklichen zu sein. Aufgrund seiner Prämisse (1) muss A. das widerlegen, sonst wäre Gott verursacht durch das Mögliche. Das Mögliche kann dem Wirklichen nicht vorausgehen, weil, so A., es kein hinreichender Grund für das Wirkliche sein kann. Nur ein Wirkliches kann die Ursache für Veränderungen sein, die aus dem Möglichen ein neues Wirkliches hervorbringen. Nun ist dieses verursachende Wirkliche aber wieder nur ein verwirklichtes Mögliches. Wir stehen hier, salopp gesagt, also vor dem Ei-oder-Henne-Dilemma. A. löst es so, indem er behauptet, dass, je weiter man in der Ursachenkette zurückgeht, umso geringer der Anteil an Möglichem sei und umso höher der Anteil an Wirklichkeit. Konsequent zu Ende gedacht könne man daraus auf einen ersten Zustand schließen, der keine Möglichkeit und alle Wirklichkeit in sich fasst - der Erste Unbewegter Beweger, die absolute Wirklichkeit.

Der Kausalitätsbegriff ist hier aber nicht im Sinne von Wirkursache, sondern von Zweckursache zu verstehen, also teleologisch. Als höchste Wirklichkeit wirkt dieser Gott ("wie ein Geliebtes", Met. 1072b3) kausal auf die Dinge durch seine Vollkommenheit, die anzustreben das Motiv aller akzidentellen Veränderung ist. Er ist ein unbewegter Idealzustand, dem sich das bewegte Akzidentelle annähert.

Dieser abstrakte Gottesbegriff ist die Basis des scholastischen Dogmas von der Kompatibilität von Vernunft und Glaube, denn er wirkt logisch und vernünftig konzipiert und zugleich, natürlich mit entsprechenden Modifikationen, mit dem christlichen Gottesbegriff vereinbar.

Um dieses Konstrukt zu entkräften, muss die Grundprämisse der Aristotelischen Argumentation angezweifelt werden: Die Behauptung, dass Kausalketten eine erste Ursache haben müssen (gleich ob zeitlich oder überzeitlich). Argumentationslogisch handelt es sich hier um das, was man im Englischen ein "special pleading" nennt, das Behaupten der Existenz einer speziellen Ausnahme von der Regel, oder anders: die Berufung auf einen Sonderfall, ohne dass ausreichend begründet wird, warum diese Ausnahme erforderlich ist. In besagten Fall ist die Ursachenlosigkeit des Ersten Bewegers die Ausnahme von der allgemeinen Kausalitätsregel. A. versucht sie vermittels der Akt-Potenz-Begrifflichkeit logisch zu deduzieren, was aber nur überzeugen kann, wenn man die Existenz eines Gottes schon voraussetzt und lediglich nach Argumenten sucht, um diese Annahme zu stützen.

Noch konstruierter erscheint dieses Argument in der christlichen Variante, die in Übereinstimmung mit dem jüdischen Schöpfungsdogma eine Verursachung der Welt auf einer linearen Zeitachse postuliert, während die Aristotelische Weltschöpfung überzeitlich geschieht und unter diesem Aspekt mit christlicher Theologie unvereinbar ist.

Kalenderhannes@Indessen mussten auch die Physiker seit Einsteins Spezieller Relativitätstheorie ihre alte Vorstellung von einer absoluten Zeit aufgeben. Auch die Zeit der Physik ist relativ, je nach dem im Bezugsbereich herrschenden Kraftfeld gelten unterschiedliche Maßstäbe von Dauer.

Einstein hatte ein Herz für uns Normalsterbliche. Er erklärt's einfach so: »Eine Stunde mit einem hübschen Mädchen vergeht wie eine Minute, aber eine Minute auf einem heißen Ofen scheint eine Stunde zu dauern. Das ist Relativität.«

Das ist natürlich nur ein Scherz, keine Analogie. Relativität der Zeit bedeutet bei Einstein die Abhängigkeit des Zeitablaufs von der physikalischen Geschwindigkeit des Systems, in dem Zeit erfahren wird.
 
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Zeit ist etwas Abstraktes, Unsichtbares. Trotzdem sind wir heute in der Lage, jeden Zeitpunkt präzise zu bestimmen. In jeder Zeitung findet sich auf der Titelseite das Datum. Eigentlich basieren fast alle Chronologiesysteme auf dem Lauf der Gestirne Sonne und Mond, die aber unterschiedlich lang sind. Dem Mondjahr mit 355 Tagen, dem 12 maligen Auf- und niedergehen des Mondes stand das Sonnenjahr gegenüber mit 365 1/4 Tagen, also der Zeitraum, den die Erde braucht, die Sonne um 360° zu umrunden. Um Sonnen- und Mondjahr zur Deckung zu bringen, mussten sie angepasst werden. Die Wiedereinführung der Sommerzeit oder das bemerken unterschiedlicher Zeitzonen auf weiten Reisen, machten deutlich, dass eine Zeiteinteilung nicht absolut ist. Der Wechsel von Feier- und Arbeitstagen hat Einfluss auf den Lebensrythmus des Menschen. Die 7 Tage Woche ist keine Selbstverständlichkeit.
Chronologiesysteme basierten darauf, dass der abstrakte Begriff Zeit in Relation gesetzt wurde zum Verlauf der Gestirne. Ein Tag entspricht der Zeit, den die Erde braucht, um sich um 360° zu drehen, ein Monat der Dauer von Neumond-Neumond und ein Jahr der Zeitdauer den die Erde braucht, die Sonne um 360° zu umkreisen. Eine Sonnenuhr zeigt die wahre Ortszeit (WOZ) an. Mittag ist, wenn die Sonne im Zenit steht. Das ist um 12.00 (WOZ). Der wahre Mittag entspricht dieser Zeit aber nur auf 15° E. In Kassel ist wahrer Mittag etwa um 12.22, weiter östlich oder westlich eben einige Minuten oder Sekunden später.

Vor einigen Tagen war die Herbst Tag und Nachtgleiche. Die Sonne geht dann um 6.00 morgens auf und um 18.00 (WOZ) unter. Durch die Sommerzeit und den jeweiligen geographischen Standort fand dieses Ereignis aber zwischen 7.00 und 19.00 mitteleuropäischer Zeit (MEZ) statt. Auf meiner geographischen Länge um 7.23 8 sec und 19.23 8 sec. MEZ.

Bevor Caesar den Kalender reformieren ließ, begann das Jahr für die Römer Anfang März. In Athen begann das Amtsjahr der Archonten im Juli, und in Rom (bis 153 v. Chr.) traten die Consuln am 15. März ihre Amtszeit an. Der Julianische Kalender entsprach aber nicht ganz genau dem Sonnenjahr. Er war etwa 11 Minuten länger, als das astronomische Sonnenjahr. Der endgültige Ausgleich fand 1582 statt durch die Kalenderreform Papst Gregors XIII. Der Gregorianische Kalender entspricht bis auf eine Kleinigkeit dem Julianischen. In beiden Kalendern dauert das Sonnenjahr 365 1/4 Tage, und alle 4 Jahre wird mit dem 29. Februar ein Schalttag eingeführt. Damit das Jahr auch tatsächlich dem astronomischen Jahr entsprach, musste auf 400 Jahre dreimal das Schaltjahr entfallen. Sind Jahrhundertanfänge nicht durch 400 teilbar, so entfällt das Schaltjahr. 1600 war ein Schaltjahr, 1700, 1800 und 1900 aber nicht.
Die Zeitrechnung Anno Domini entstand aus dem Bedürfnis heraus, dass Christen wissen wollten, wann sie Ostern feiern sollten. Der Streit wurde auf dem Konzil von Nikäa 325 beigelegt. Um zu wissen, wann das bewegliche Fest stattfinden sollte, wurden Ostertafeln erstellt. In diesen Ostertafeln wurden die Jahre nach der diokletianischen Ära, also dem Regierungsbeginn des Kaisers Diocletian gezählt (284 n. Chr.) Als die von Kyrillos errechneten Ostertafeln sich dem Ende neigte, wurde der Mönch Dionysius Exiguus vom kaiserlichen Hof beauftragt, eine neue Tafel zu berechnen (525 n Chr.) Dionysius wollte aber nicht die Jahre nach dem "ruchlosen Christenverfolger Diocletian" zählen und wählte eine Zeitrechnung ab der "Fleischwerdung des Herrn" ab incarnatione Domini. Mit der englischen Kirchengeschichte des Beda Venerabilis (Historia ecclesiastica gentis Anglorum) setzte sich diese Zählweise endgültig durch (731 n. Chr.).
 
Zeit ist etwas Abstraktes, Unsichtbares. Trotzdem sind wir heute in der Lage, jeden Zeitpunkt präzise zu bestimmen.

Abstraktionen sind Generalisierungen auf der Grundlage konkreter Beobachungen (Empirie). Im Falle der ´Zeit´ beruht die Abstraktion auf der Beobachtung, dass Dinge und Zustände sich verändern, und dem daraus gezogenen hypothetischen Schluss, dass es ein ´Prinzip´ gibt, dass all diesen Veränderungen als ursächlich zugrunde liegt, d.h. ein unsichtbares Prinzip ´Zeit´ wird als Ursache der Veränderung postuliert (= unbeweisbar behauptet). Wissenschaftslogisch ist dieses Prinzip ein reines Gedankenkonstrukt, denn wahrnehmbar und messbar ist nur Veränderung, nicht aber ´Zeit´.

´Zeitpunkte´ sind dementsprechend gleichfalls Abstraktionen. Aufgrund der Irreversibilität von Veränderungen wird das Abstraktum ´Zeit´ auf eine lineare Achse projiziert, die in regelmäßige Intervalle unterteilt wird. Diese ´Zeitachse´ ist eine geometrische Metapher für die Abfolge von Veränderungen. Was auf dieser Achse gemessen wird, ist also nicht ´Zeit´, sondern Veränderung. In vor-jüdischer Zeit wurde die lineare Zeitachse zyklisch gedacht, d.h. in sich geschlossen, wohingegen die jüdische Religion, wie von mir in #2 schon angedeutet, aufgrund ihrer theologischen Konstruktionen die Zyklizität aufbrechen und den ´Zeitstrahl´ auf ein teleologisches Endziel hin ausrichten musste.

´Zeit´ kann daher nicht von dem Phänomen ´Veränderung´ abgetrennt und als eigenständige Entität behauptet werden. Eine andere Frage ist, was es mit dieser ´Veränderung´ auf sich hat: Ist sie ein reales Faktum außerhalb des Bewusstseins oder ein irreales Konstrukt des Bewusstseins? Wie ich ebenfalls schon in #2 andeutete, hat Kant sich unter dem Einfluss von David Hume klar zugunsten des letzteren entschieden, genauer: ´Zeit´ ist Kant zufolge eine geistige ´Anschauungsform´ (wie auch der ´Raum´), in deren Rahmen die Denk- und sinnlichen Wahrnehmungsprozesse vor-geordnet werden. Dementsprechend gehört ´Zeit´ zur Sphäre des Bewusstseins und nicht zur Sphäre der Realität, die laut Kant unerkennbar ist (das ´Ding-an-sich´).

Siehe dazu (zur ´Zeit´ in der unteren Hälfte):

Raum und Zeit in Kants Kritik der reinen Vernunft
 
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Abstraktionen sind Generalisierungen auf der Grundlage konkreter Beobachungen (Empirie). Im Falle der ´Zeit´ beruht die Abstraktion auf der Beobachtung, dass Dinge und Zustände sich verändern, und dem daraus gezogenen hypothetischen Schluss, dass es ein ´Prinzip´ gibt, dass all diesen Veränderungen als ursächlich zugrunde liegt, d.h. ein unsichtbares Prinzip ´Zeit´ wird als Ursache der Veränderung postuliert (= unbeweisbar behauptet). Wissenschaftslogisch ist dieses Prinzip ein reines Gedankenkonstrukt, denn wahrnehmbar und messbar ist nur Veränderung, nicht aber ´Zeit´.


´Zeit´ kann daher nicht von dem Phänomen ´Veränderung´ abgetrennt und als eigenständige Entität behauptet werden. Eine andere Frage ist, was es mit dieser ´Veränderung´ auf sich hat: Ist sie ein reales Faktum außerhalb des Bewusstseins oder ein irreales Konstrukt des Bewusstseins?

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich den Beitrag richtig verstanden habe.
Eigentlich basieren alle bekannten historischen oder noch aktuellen Chronologiesysteme auf Beobachtung oder Berechnung der Gestirne. Es gab Lunarkalender wie den babylonischen, Lunisolarkalender wie den jüdischen Kalender, der auch heute noch in Israel in Gebrauch ist oder Solarkalender wie der Julianische und Gregorianische Kalender.

Wenn in irgendeiner Quelle steht, XY habe im Monat Nisan im Jahr Soundso seit Erschaffung der Welt irgendetwas getan, so lässt sich dieses Datum ziemlich exakt rekonstruieren. Das Gleiche gilt für Angaben "Im Jahr des Konsulats von X und Y; seit Gründung der Stadt", Im Jahr, als Y Archont war, im soundsovielten Jahr nach der ersten Olympiade". Zeit mag keine absolute Größe sein, noch vor einigen hundert Jahren variierte die Zeitdauer einer Stunde je nach der Jahreszeit. Aber zumindest existiert ein Maßstab für Zeit, der sich verifizieren lässt, der rekonstruierbar ist.
 
Eigentlich basieren alle bekannten historischen oder noch aktuellen Chronologiesysteme auf Beobachtung oder Berechnung der Gestirne.

Der von dir hier zugrunde gelegte Zeitbegriff ist die „relative Zeit“ von Isaac Newton, der in seinem bahnbrechenden Werk „Philosophia naturalis principia mathematica“ von 1687 die „absolute Zeit“ als einen „Fluss“ beschreibt, der sich unabhängig von materiellen Objekten „gleichmäßig“ bewegt:

Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig, und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand. Sie wird auch mit dem Namen Dauer belegt.

Die ´Naturgesetze´ versteht der anti-trinitarische Auch-Theologe Newton als von ´Gott´ geschaffen, ebenso ´Zeit´ und ´Raum´ in ihrer Funktion als, so Newton, ´sensoria Gottes´.

Davon unterscheidet er die „relative Zeit“, die nichts mit Einsteins Theorie zu tun hat, sondern die physikalische gemessene Zeit meint, die aufgrund von minimalen Bewegungsschwankungen (z.B. bei Planetenumläufen oder Pendelschwingungen) ungleichmäßig ist, durch Behebung von Messfehlern der „absoluten Zeit“ aber angenähert werden kann, ohne die wahre Präzision je erreichen zu können:

Es ist möglich, dass keine gleichförmige Bewegung existiert, durch welche die Zeit genau gemessen werden kann, alle Bewegungen können beschleunigt oder verzögert werden, allein der Verlauf der absoluten Zeit kann nicht geändert werden.

Newton würde das von dir referierte Zeitkonzept somit als „relativ“ bezeichnen, nämlich als relativ zu periodischen Abläufen materieller Prozesse, gleich ob natürlichen (Planeten) oder künstlichen (Uhren, Pendel) Ursprungs.

Mit beiden Zeitkategorien steht er in der Tradition von Zeitkonzepten, welche Zeit als einen Faktor in einer objektiv realen Welt verstehen ohne Berücksichtigung der Subjekt- bzw. Bewusstseinskategorie, die von Descartes im 17. Jahrhundert im Zuge seiner philosophischen Hinwendung zum Subjekt (Bewusstsein) erstmals in den Fokus des philosophischen Denkens gerückt wurde. Dieser epochale Schritt war von Newton nicht mitvollzogen worden, dafür aber – vermittelt über Rousseau - umso mehr von Immanuel Kant mit seiner ´Kritik der reinen Vernunft´ (1781), die den Höhepunkt der aufklärerischen Philosophie markiert.

Wie in meinem vorherigen Beitrag schon angedeutet, verlegt Kant die Ordnungsprinzipien der Welt in das Bewusstsein. Nicht das Subjekt habe sich im Erkenntnisprozess nach der Welt zu richten, sondern umgekehrt:

(aus dem Vorwort der KdrV)

Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuchte es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten.

Aus dieser Sicht wird die Welt im menschlichen Bewusstsein nicht realistisch repräsentiert (also nicht 1-zu-1 wiedergespiegelt), vielmehr erfährt das Subjekt sie in einem ersten Schritt als eine chaotische Menge von Sinnesdaten, die in einem zweiten Schritt durch diverse mentale Strukturen (Anschauungsformen Raum und Zeit sowie ein Bündel an Denkkategorien) in eine artifizielle Form gebracht werden, welche mit der Weltrealität (dem ´Ding-an-sich´) nichts zu tun hat, d.h. die erscheinende, die ´phänomenale´ Welt wird innermental konstruiert – was dem modernen Kantianismus, wie er im sogenannten Konstruktivismus auftritt, seinen Namen gegeben hat:

https://de.wikipedia.org/wiki/Konstruktivismus_(Philosophie)

Kants Argumentationen können im Detail zwar kritisiert werden, bilden in ihrer Gesamtheit aber nach wie vor eine klassische Grundlage für modernes philosophisches Denken. Im 20. Jahrhundert ist man dazu übergegangen, die Intersubjektivität an die Stelle der Subjektivität in den Fokus zu rücken, d.h. die Rolle der sozialen Vermitteltheit jener realitätskonstruierenden Denkstrukturen zu betonen, die Kant noch als angeboren ansah.

Die moderne Kognitionsbiologie liefert starke Argumente zugunsten von Kants Theorie. Ein Beispiel: Das elektromagnetische Wellenspektrum reicht von 10hochminus15 m Wellenlänge bis 10hoch7 m Wellenlänge. Das für Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich von 400-700 x 10hochminus9 m Wellenlänge, umfasst also einen verschwindend kleinen Bereich des gesamten Spektrums. Diese Wellen treffen auf die Netzhaut und werden dort von über 100 Millionen Stäbchen und Zäpfchen in elektrische Impulse umgewandelt und an eine Million Ganglienzellen (den Sehnervenkopf) weitergeleitet (also strukturell stark komprimiert), über welche die ´Information´ an den Sehnerv gelangt, der zum Sehzentrum des Gehirns führt. Es findet also eine erhebliche Vorverarbeitung statt, ehe das eigentliche Verarbeitungsorgan am Hinterkopf in Kraft tritt.

Schon von daher ist klar, dass eine visuelle 1-zu-1-Rekonstruktion einer wie auch immer gearteten physikalischen Außenwelt auf einem internen ´Bewusstseinsbildschirm´ nicht wirklich denkbar ist – dafür ist der rezipierte Wellenbereich viel zu klein und, noch wichtiger, die diversen Umwandlungs- und Berechnungsprozesse viel zu komplex. Analoges gilt für die physiologische Verarbeitung akustischer Reize.

Gravierender noch ist das sogenannte Qualia-Problem: Wie ist es möglich, dass quantitative Prozesse (Schwingungen, Elektroimpulse) in qualitatives Erleben (Farben, Klänge) transformiert werden? Anders gefragt: Wie kommt es, dass Schwingungen mit einer bestimmten Wellenlänge im Bewusstsein mit bestimmten Farb- oder Klangqualitäten repräsentiert werden? Ein gradueller Übergang zwischen beiden Modalitäten ist nämlich nicht denkbar, sie sind an sich unüberbrückbar verschieden.

Das auch von mir vertretene Qualia-Argument besagt, dass – was Farben betrifft – keine Rede davon sein kann, dass ein im Bewusstsein als rot erscheinendes Objekt auch in der ´Realität´ rot ist. ´Rot´ ist keine physikalische Qualität, sondern eine mentale.

Ich verlinke zu dieser in der heutigen Philosophie vieldiskutierten Frage den informativen Wiki-Artikel ´Qualia´:

https://de.wikipedia.org/wiki/Qualia

Die Verbindung zum Zeitthema ist unschwer zu erkennen: Auf dem Weg von der Rezeption bis zur Endverarbeitung im Bewusstsein durchlaufen die Sinnesdaten viele gravierende Transformationen, die auch die Art und Weise der Erscheinung von ´Raum´ und ´Zeit´ im Bewusstsein determinieren.

Auf den Punkt gebracht: Die Annahme einer objektiv realen Außenwelt in Raum und Zeit ist seit Kant philosophisch problematisch geworden.
 
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