Bei Deiner individuellen Erfahrung bin ich eher vorsichtig, Dir zu widersprechen. Spontan dachte ich ähnlich wie Muck, dass hier eine lokale gesellschaftliche Erwartung eher im Vordergrund gestanden haben wird (in den 60er-Jahren war die Bundesrepublik zweifellos nicht mehr nur von Christen bewohnt, erst recht nicht von praktizierenden Christen), aber natürlich repräsentierte der Pfarrer vor Ort schon auch so etwas wie die "Macht der Kirche". Falls er den gesellschaftlichen Druck verstärkte oder für seine Zwecke nutzte (das kann ich nicht beurteilen), wäre das vermutlich schon ein Beispiel für den von Dir empfundenen religiösen Zwang "von oben".
Dem wiederrum würde ich etwas widersprechen wollen.
Zu tatsächlicher Macht, gehört in meinen Augen ein Bewusstsein dafür diese auch inne zu haben und sie tatsächlich auch erfolgreich zu nutzen, um bestimmte Verhaltensmuster oder Handlungen bei anderen auch durchhzusetzen.
Das manifestiert sich nicht in einem immer gleich bleibenden Ritual, wie eben dem Kirchgang.
Macht und ihr tatsächliches Vorhandensein manifestiert sich erst dann, wenn jemand (erfolgreich) dazu aufgefordert wird, entgegen seiner Gewohnheiten oder Neigungen zu handeln.
Ein Beispiel:
Ähnlich wie @hatl kann auch ich mit einer durchaus religiösen Großmutter aufwarten, die mich als Kind, wenn ich mal über's Wochenende bei meinen Großeltern zu Besuch war, Sonntags morgens mit in die Kirche genommen hat.
Ich muss jetzt dazu sagen, meine Großmutter ist gebürtig aus dem damaligen "polnischen Korridor", von Haus aus Protestantin und seit sie mit meinem Großvater verheiratet ist "gekaufte" Katholikin ("Mischehen-Problematik" usw).
Dem Konfessionswechsel hat sie der Form nach in so weit Rechnung getragen, als dass sie jeden Sonntag weiterhin brav zur Kirche gegangen ist (ob sie das heute noch tut, weiß ich nicht, aber in meiner Kindheit war es so) und zwar, wie sich das gehört in die Katholische. Im Übrigen nicht auf Betreiben meines katholischen Großvaters, oder sonstigen familiären Anhangs, sondern sie ist da teilweise auch alleine und von sich aus hin.
Sie ist aber weder der Form, noch ihrer Glaubensinhalte nach jemals tatsächlich katholisch geworden, so weit ich das beurteilen kann.
Heißt sie geht jeden Sonntag (oder ging zumindest früher) zu einer Veranstaltung, zu der sie nur deswegen geht (oder ging), weil man das eben so macht und weil sie wegen meines Großvaters irgendwann mal unterschrieben hatte, dass sie jetzt diesem Verein angehört, ohne sich aus dessen Inhalten oder Formen irgendwas zu machen.
In die Kirche, in die sie ihrem Glauben nach eigentlich gehen müsste, geht sie nicht.
Ist jetzt der Umstand, dass sie jede Woche zur Kirche geht (oder mindestens früher ging) Ausdruck dessen, dass die Kirche für sie eine besondere Macht oder Autorität darstellt?
Ich denke nicht (und das obwohl sie ihre Religion durchaus ernst nimmt). Ihre Kirche hat in 60 Jahren nicht genug Autorität aufgebracht um sie auf die katholischen Formen und Inhalte tatsächlich festzulegen.
Und ich bin mir ziemlich sicher, würde ein katholischer Geistlicher versuchen wollen das zu ändern, würde sie sich das anhören und es anschließend gekonnt ignorieren.