Wie weit in den Alltagleben reichte die Macht der Kirche(n)?

Bei Deiner individuellen Erfahrung bin ich eher vorsichtig, Dir zu widersprechen. Spontan dachte ich ähnlich wie Muck, dass hier eine lokale gesellschaftliche Erwartung eher im Vordergrund gestanden haben wird (in den 60er-Jahren war die Bundesrepublik zweifellos nicht mehr nur von Christen bewohnt, erst recht nicht von praktizierenden Christen), aber natürlich repräsentierte der Pfarrer vor Ort schon auch so etwas wie die "Macht der Kirche". Falls er den gesellschaftlichen Druck verstärkte oder für seine Zwecke nutzte (das kann ich nicht beurteilen), wäre das vermutlich schon ein Beispiel für den von Dir empfundenen religiösen Zwang "von oben".

Dem wiederrum würde ich etwas widersprechen wollen.

Zu tatsächlicher Macht, gehört in meinen Augen ein Bewusstsein dafür diese auch inne zu haben und sie tatsächlich auch erfolgreich zu nutzen, um bestimmte Verhaltensmuster oder Handlungen bei anderen auch durchhzusetzen.
Das manifestiert sich nicht in einem immer gleich bleibenden Ritual, wie eben dem Kirchgang.
Macht und ihr tatsächliches Vorhandensein manifestiert sich erst dann, wenn jemand (erfolgreich) dazu aufgefordert wird, entgegen seiner Gewohnheiten oder Neigungen zu handeln.

Ein Beispiel:

Ähnlich wie @hatl kann auch ich mit einer durchaus religiösen Großmutter aufwarten, die mich als Kind, wenn ich mal über's Wochenende bei meinen Großeltern zu Besuch war, Sonntags morgens mit in die Kirche genommen hat.

Ich muss jetzt dazu sagen, meine Großmutter ist gebürtig aus dem damaligen "polnischen Korridor", von Haus aus Protestantin und seit sie mit meinem Großvater verheiratet ist "gekaufte" Katholikin ("Mischehen-Problematik" usw).
Dem Konfessionswechsel hat sie der Form nach in so weit Rechnung getragen, als dass sie jeden Sonntag weiterhin brav zur Kirche gegangen ist (ob sie das heute noch tut, weiß ich nicht, aber in meiner Kindheit war es so) und zwar, wie sich das gehört in die Katholische. Im Übrigen nicht auf Betreiben meines katholischen Großvaters, oder sonstigen familiären Anhangs, sondern sie ist da teilweise auch alleine und von sich aus hin.
Sie ist aber weder der Form, noch ihrer Glaubensinhalte nach jemals tatsächlich katholisch geworden, so weit ich das beurteilen kann.

Heißt sie geht jeden Sonntag (oder ging zumindest früher) zu einer Veranstaltung, zu der sie nur deswegen geht (oder ging), weil man das eben so macht und weil sie wegen meines Großvaters irgendwann mal unterschrieben hatte, dass sie jetzt diesem Verein angehört, ohne sich aus dessen Inhalten oder Formen irgendwas zu machen.
In die Kirche, in die sie ihrem Glauben nach eigentlich gehen müsste, geht sie nicht.

Ist jetzt der Umstand, dass sie jede Woche zur Kirche geht (oder mindestens früher ging) Ausdruck dessen, dass die Kirche für sie eine besondere Macht oder Autorität darstellt?
Ich denke nicht (und das obwohl sie ihre Religion durchaus ernst nimmt). Ihre Kirche hat in 60 Jahren nicht genug Autorität aufgebracht um sie auf die katholischen Formen und Inhalte tatsächlich festzulegen.
Und ich bin mir ziemlich sicher, würde ein katholischer Geistlicher versuchen wollen das zu ändern, würde sie sich das anhören und es anschließend gekonnt ignorieren.
 
Die Oma tief religiös, die Mutter …
Bei mir war es ähnlich, nur dass meine Mutter auch religiös war, wenn auch weniger tief. Hier zeigt sich, dass Frauen nicht nur Sprachlehrerinnen sind (Muttersprache), sondern auch Bewahrerinnen der Traditionen, woher diese einst auch gekommen sein mögen.

Das war wohl einer der letzten Ausläufer der Kirchenmacht.
Niemals wäre es uns Kindern später eingefallen unser eigenes Kind zum Kirchgang zu pressen.
Dito auch bei mir – wir haben unsere Kinder nicht einmal taufen lassen; dass sie später Katholikinnen geheiratet haben, deren Familien auf eine kirchliche Trauung bestanden und sie sich deswegen als Erwachsene doch haben taufen lassen, das steht auf einem anderen Blatt.

Aber vorher war das schon deutlich anders. Das Ritual war schlicht verbindlich.
Und nicht nur das, sondern die Vorstellungswelt vorheriger Zeiten war an die Kirche gebunden.
Das Sterben ohne Beichte während der Pest …
Nicht nur während der Pest, auch sonst war die Beichte allgegenwärtig – siehe die letzte Ölung, denn man starb ja zu Hause, wurde zu Hause im offenen Sarg aufgebahrt, mit Weihwasser am Fußende, damit die Freunde und Bekannte des Toten ihn beim Abschiednehmen damit besprenkelten. Dazu gehörte auch Totenwache, die für Familienangehörige Pflicht war, auch und vor allem während der Nacht, etc.

Zu Zeiten Maria Theresias (MT – Stollberg-Rilinger, Grüße an @Neddy) spritzte man bei einer absehbar gefährlichen Geburt, vorsorglich Weihwasser in den Geburtskanal. Denn ein ungetauftes Kind würde, so es verstürbe, in einer Zwischenwelt, weder Hölle noch Paradies, gefangen bleiben.
Ja, darüber wurde schon diskutiert mit dem Ergebnis, dass man das nicht so eng sehen sollte, schließlich gab es auch die sog. Nottaufe, und außerdem wäre Limbus kein Dogma gewesen, die Kirche hätte also keine Schuld, wenn die Leute sich einst so sehr um das Seelenwohl ihrer (ungetauften) Kinder sorgten. Das ist typisch: Erst etwas lehren und dann, als dieses Etwas nicht mehr zu halten war, es negieren oder lediglich zu einer Tradition erklären. :mad:

Und beim unerwarteten und schnellen Tod ihres geliebten Gatten werden eiligst Maßnahmen ergriffen um wenigstens so etwas wie eine spirituelle Wappnung für den gefährlichen Übergang ins Jenseits zu bewerkstelligen.
Auch das war eine Folge der von der Kirche lehrenden Angst vor dem Leben nach dem Tod: Die sehr guten Menschen kämen in den Himmel, die nicht so guten für einige Jahrhunderte ins Fegefeuer, und die schlechten in die Hölle, wo sie in aller Ewigkeit gequält würden. Und wie es sich für wirklich Mächtige gehört, bestimmte die Kirche nicht nur, was die Seele eines Menschen nach dem Tod erwarten konnte – und ließ das in Kirchen in gemalten Bildern veranschaulichen –, sondern bot und bietet sie auch Rezepte, wie man dem Fegefeuer und der Hölle entkommen kann, gemäß der Maxime: extra ecclesiam nulla salus. In Bezug auf Fegefeuer konnte und kann die Medizin auch nach dem Tod wirksam angewandt werden, und zwar nach dem Prinzip: Mehr hilft mehr. :rolleyes:

Zuckerbrot und Peitsche, heißt dieses System des Regierens.

Man könnte diesen Einwand sogar auf frühere Jahrhunderte beziehen – und um die Frage erweitern, ob man nicht zwischen der Macht der Religion und der Macht der Kirche als Institution unterscheiden sollte.
Nein, das kann man nicht, weil alle Religionen Menschen mit tieferen Wissen über den Glauben als Vermittler oder Deuter für das einfache Volk brauchen. Daraus entsteht fast zwangsläufig Macht, die korrumpieren kann und auch tatsächlich korrumpierte. Das ist nicht auf christliche Religion beschränkt, das gab es mit den Geisterbeschwörern, Schamanen, Zaubern und Medizinmännern schon in der frühersten Zeit des Menschen. Schon damals war klar: Wissen ist Macht, selbst wenn dieses Wissen nur einem Phantasiegebäude entstammte - wichtig war allein der Glaube daran.

Die Bauern schwänzten den Kirchgang nämlich ganz gerne mal, weil sie mit der Landarbeit genug zu tun hatten.
Nein, sie hatten genug Zeit, denn an Sonntagen und an hohen Feiertagen durfte bei Strafe nicht gearbeitet werden.

Was nicht hieß, dass sie nicht religiös gewesen wären, aber sie betrieben eher eine Art Volksglauben. Oft genug stand die Kirche diesem Volksglauben recht machtlos gegenüber.
Das stimmt, aber was tut man nicht alles, um die Macht über die Gläubigen zu erhalten. :D

Also inkorporierte die Kirche alte Rituale oder Inhalte in ihr Glaubensgebäude: Die Heiligen z.B., die in der katholischen Kirche verehrt werden, und von denen jede/r für was anderes zuständig ist (Schutzpatron), könnte man als Ersatz für die vielen früheren Götter und Göttinnen ansehen, die in der Regel auch eigene Zuständigkeiten hatten.

Und so weiter und so fort.
 
Ist das denn zu trennen, Kirchenmacht und soziale Dynamik, bzw. Gruppenzwang?

Im Hinblick auf ein konkretes Dorf würde ich das schon sagen. Selbst wenn evangelische Pfarrersfamilien manchmal regelrechte "Dynastien" bildeten (was katholische Priester zumindest offiziell nicht konnten), kamen sie in der Regel doch von außen in ihre Pfarrei. Es wird also schon in den meisten Gemeinden zahlreiche soziale Dynamiken und Ortstraditionen gegeben haben, die nicht von der Macht der jeweiligen Kirche abhingen und die der Pfarrer möglicherweise selbst dann nicht zu ändern vermochte, wenn er es wollte.

Eine pietistisch geprägte Remstal- oder Albgemeinde ließ sich von einem frisch aus Tübingen eintreffenden Theologen vermutlich nicht so leicht von ihren Überzeugungen abbringen.
 
Huizinga zitiert als Beispiel für die gesellschaftlichen Entwicklungen im Spätmittelalter einen Hirtenbrief des Bischofs von Besanz (heute Besancon), ich glaube, es war Louis de Montfaucon, der die Weltpfarrer seiner Diözese auffordert, das Volk zu ermahnen, doch wenigstens einmal im Monat die Messe zu hören.

Huizinga, Herbst des Mittelalters? Findest Du die Stelle noch?
 
Auch das war eine Folge der von der Kirche lehrenden Angst vor dem Leben nach dem Tod: Die sehr guten Menschen kämen in den Himmel, die nicht so guten für einige Jahrhunderte ins Fegefeuer, und die schlechten in die Hölle, wo sie in aller Ewigkeit gequält würden. Und wie es sich für wirklich Mächtige gehört, bestimmte die Kirche nicht nur, was die Seele eines Menschen nach dem Tod erwarten konnte – und ließ das in Kirchen in gemalten Bildern veranschaulichen –, sondern bot und bietet sie auch Rezepte, wie man dem Fegefeuer und der Hölle entkommen kann, gemäß der Maxime: extra ecclesiam nulla salus. In Bezug auf Fegefeuer konnte und kann die Medizin auch nach dem Tod wirksam angewandt werden, und zwar nach dem Prinzip: Mehr hilft mehr. :rolleyes:

Zuckerbrot und Peitsche, heißt dieses System des Regierens.

Nein, das kann man nicht, weil alle Religionen Menschen mit tieferen Wissen über den Glauben als Vermittler oder Deuter für das einfache Volk brauchen. Daraus entsteht fast zwangsläufig Macht, die korrumpieren kann und auch tatsächlich korrumpierte. Das ist nicht auf christliche Religion beschränkt, das gab es mit den Geisterbeschwörern, Schamanen, Zaubern und Medizinmännern schon in der frühersten Zeit des Menschen. Schon damals war klar: Wissen ist Macht, selbst wenn dieses Wissen nur einem Phantasiegebäude entstammte - wichtig war allein der Glaube daran.


Und so weiter und so fort.

Zuckerbrot und Peitsche? Die Rolle der Kirche lässt sich auch anders interpretieren: Als eine Art von Versicherungskonzern, bei der man sich gegen die schlimmsten Folgen eines nicht gottgefälligen Lebens rückversichern konnte.

Die Sünden und die Bußen hatten ihren festen Preis, und selbst noch für die schlimmsten Sünden konnte man die Absolution erhalten und anschließend munter weiter sündigen.

Selbst wenn alles in die Hose geht, besteht noch Hoffnung, man macht eine kleine oder auch größere Spende, und wenn fromme Christen für eine schwarze Seele beten und Seelenmessen leben, hat am Ende auch noch die schwärzeste Seele gute Chancen, sich das Himmelreich zu erwerben.
Die schwarze Seele muss dazu nicht einmal ein gottgefälliges Leben führen, muss die begangenen Sünden nicht einmal bereuen- es genügt sie zu bekennen und die aufgegebenen Bußen auf sich nehmen. Ein paar Rosenkränze, ein paar Paternoster und Ave Maria kosten nicht viel, die Stiftung einer Kirche, einer Kanzel, eines Altars brachten einen auch nicht um, aber selbst für die schlimmsten Sünden war Absolution möglich, war Rettung möglich, und für diese Absolution musste nicht einmal der Lebensstil komplett geändert werden.

Auf mich wirkt diese Kirche nicht wie eine alle Lebensbereiche kontrollierende Über-Institution. Eher schon wie ein etwas heruntergekommener Versicherungs-Konzern, bei dem man sich gegen die schlimmsten Folgen eines nicht ganz gottgefälligen Lebens versichern konnte. Eine Versicherung, die sozusagen "eine Allianz fürs Leben" garantierte -auch über den Tod hinaus- und deren Policen zumindest berechenbare Preise hatten, ohne dass der Versicherte in seinem Lebensstil allzu große Änderungen vornehmen musste.


Jakob Fugger wusste aus eigener Erfahrung, wie zynisch Albrecht von Brandenburg in seine Ämter gehievt wurde. Dennoch hat Fugger für sich selbst und seine Frau Sibylle Ablassbriefe gekauft und war von den dümmlichen Predigten seines Hausgeistlichen abgestoßen und wollte, dass man ihm auf höherem Niveau die Leviten liest und setzte die Einsetzung eines anderen Geistlichen durch, der später zu den Lutheranern überging.

Jakob selbst, war durchaus gläubig. Er hatte aber zeitlebens ein sehr pragmatisches Verhältnis zur Religion. Die Kirche schien er tatsächlich als eine Art Versicherungskonzern zu betrachten, bei der man sich-gegen entsprechende Gebühr- gegen Unbilden nach dem Tod versichern konnte.
 
Zuletzt bearbeitet:
Eine Versicherung, die sozusagen "eine Allianz fürs Leben" garantierte -auch über den Tod hinaus- und deren Policen zumindest berechenbare Preise hatten, ohne dass der Versicherte in seinem Lebensstil allzu große Änderungen vornehmen musste.
Ja, die Kirche handelte mit einem imaginären Gut, das sie erfand und bepreiste, und für das sie weder seine Existenz nachweisen musste, noch dass ihre Leistungen irgendetwas bewirkten. Wenn man dieses Gut als heiße Luft* bezeichnen würde, wäre das schon zu viel.

* Allerdings hat sich 1500 Jahre kaum jemand getraut, die christliche Religion als heiße Luft zu bezeichnen, weil in einem solchen Fall die Todesstrafe die Folge wäre.
 
Auf mich wirkt diese Kirche nicht wie eine alle Lebensbereiche kontrollierende Über-Institution. Eher schon wie ein etwas heruntergekommener Versicherungs-Konzern, bei dem man sich gegen die schlimmsten Folgen eines nicht ganz gottgefälligen Lebens versichern konnte.

Zumal und das wird man hier berücksichtign müssen, die Kirche oder geitsliche Institutionen überhaupt, dass nicht im Sinne einer Betrugsmasche aufzog, in dem sie ausschließlich außenstehenden Modelle und Dienstleistungen verkaufte, an die sie selbst nicht glaubte.

In den Aufzeichungen des Klosters von St. Gallen (die sind zu großen Teilen digitalisiert, teilweise transkribiert) z.B. sind auch Fälle vermerkt, in denen ein lokaler Bischof (ich meine im konkreten Fall Konstanz, bin mir aber nicht sicher, ist bereits einige Zeit her, dass ich mir das angesehen habe), das Kloster beschenkte um im Gegenzug in das dortige Totengedenken aufgenommen zu werden (faktisch also dafür bezahlte).
Das war zetig eher noch im ausgehenden Früh- bis beginnenden Hochmittelalter anzusideln, so dass es noch nicht die Ausformung der späteren Seelenmesse hatte, aber das Prinzip war das Gleiche:

Materielle Zahlungen im Diesseits gegen Unterstützung und Fürsprache nach dem Ableben.

Insofern kann man das Modell zwar kritisch sehen, allerdings wird man der Kirche nicht vorwerfen können, dass sie da reine Scharlatanerie betrieb und absichtlich dem doofen Volk Dinge verkauften, von denen sie wusste, dass das nichts brachte, nur um sich materielle Vorteile zu sichern.
Insofern kirchliche Amtsträger das mitunter selbst in Anspruch nahmen und dafür bezahlten, wird man durchaus davon ausgehen dürfen, dass sie zumindest selbst daran glaubten, dass es helfen oder jedenfalls nicht schaden würde.
 
Ja, die Kirche handelte mit einem imaginären Gut, das sie erfand und bepreiste, und für das sie weder seine Existenz nachweisen musste, noch dass ihre Leistungen irgendetwas bewirkten. Wenn man dieses Gut als heiße Luft* bezeichnen würde, wäre das schon zu viel.

* Allerdings hat sich 1500 Jahre kaum jemand getraut, die christliche Religion als heiße Luft zu bezeichnen, weil in einem solchen Fall die Todesstrafe die Folge wäre.

Was die Produktion heißer Luft betrifft, läufst Du sowieso außer Konkurrenz.
 
Insofern kann man das Modell zwar kritisch sehen, allerdings wird man der Kirche nicht vorwerfen können, dass sie da reine Scharlatanerie betrieb und absichtlich dem doofen Volk Dinge verkauften, von denen sie wusste, dass das nichts brachte, nur um sich materielle Vorteile zu sichern.
Insofern kirchliche Amtsträger das mitunter selbst in Anspruch nahmen und dafür bezahlten, wird man durchaus davon ausgehen dürfen, dass sie zumindest selbst daran glaubten, dass es helfen oder jedenfalls nicht schaden würde.

Das ist ein wichtiger Punkt, wie ich finde. Wie Scorpio an Jakob Fugger gezeigt hat, ließ sich das sogar mit einem eher "weltlichen" Lebensstil gut vereinbaren. Der Tod war ja selbst für Kleriker immer sehr nah, und in vielen Memento-Mori-Darstellungen werden auch hochrangige Geistliche prominent in das Geschehen einbezogen.

Ob man im Jahr 2024 materialistisch denkt und alles andere für "heiße Luft" hält und ob das die einzige rationale Weltsicht ist, kann hier dahingestellt bleiben. Für die meisten Epochen der Menschheitsgeschichte dürfte es jedenfalls kaum zum Verständnis beitragen.
 
In den Aufzeichungen des Klosters von St. Gallen (die sind zu großen Teilen digitalisiert, teilweise transkribiert) z.B. sind auch Fälle vermerkt, in denen ein lokaler Bischof (ich meine im konkreten Fall Konstanz, bin mir aber nicht sicher, ist bereits einige Zeit her, dass ich mir das angesehen habe), das Kloster beschenkte um im Gegenzug in das dortige Totengedenken aufgenommen zu werden (faktisch also dafür bezahlte).
Davon sollte man im Proseminar Mittlere Geschichte mal gehört haben: Verbrüderungsbücher
 
Was die Produktion heißer Luft betrifft, läufst Du sowieso außer Konkurrenz.
Ich stehe in diesem Faden nicht zu Debatte – aber dein Beitrag ist trotz seiner Kürze ein schönes Beispiel der Relativierung und des Whataboutismus.

Ob man im Jahr 2024 materialistisch denkt und alles andere für "heiße Luft" hält und ob das die einzige rationale Weltsicht ist, kann hier dahingestellt bleiben. Für die meisten Epochen der Menschheitsgeschichte dürfte es jedenfalls kaum zum Verständnis beitragen.
Das ist natürlich wahr. Aber die Tatsache, dass die Kirche eine gesellschaftliche Situation ausnutzte und der Gesellschaft gab, wonach diese verlangte, entbindet sie nicht vor der Verantwortung, die aus ihrem Angebot erwuchs, zumal nicht alle dieses Angebot freiwillig annahmen.

Wer jetzt sagt, diese Auswüchse (z.B. Kreuzzüge, Judenverfolgung) waren in der 2000-jährigen Geschichte des Christentums offenbar nicht zu vermeiden gewesen, sonst hätte es sie nicht gegeben, der müsste das auch für die sonstige Ereignisse in der Menschheitsgeschichte sagen – z.B. auch für die Taten des 12-jährigen "1000-jährigen Reiches".

Nein, aus der Macht erwächst auch Verantwortung, und ich sage, dieser Verantwortung sind die christlichen Institutionen summa summarun nicht gerecht geworden.
 
Aber die Tatsache, dass die Kirche eine gesellschaftliche Situation ausnutzte und der Gesellschaft gab, wonach diese verlangte
Welche Gesellschaft erhält denn von irgendeiner Institution das, wonach sie verlangt? Müsste man, wenn man den zitierten Teilsatz inhaltlich ernst nimmt und für wahr hält, die Kirche nicht loben?? (aber worin besteht das ausnutzen in diesem Zusammenhang???)

Bevor du @Dion anklägerisch jammerst, dass dir irgendwas unterstellt würde oder dass deine wohlgesetzten und mit scharfem Verstand ausgewählten Worte und kunstvoll konstruierten Sätze verkürzt zitiert würden, stelle ich den kompletten Satz als Zitat ein:
Aber die Tatsache, (1) dass die Kirche eine gesellschaftliche Situation ausnutzte und (2) der Gesellschaft gab, wonach diese verlangte, (3) entbindet sie nicht vor (??) der Verantwortung, die aus (4) ihrem Angebot erwuchs, zumal nicht alle dieses Angebot freiwillig annahmen.
(Petitessen wie entbinden vor oder entbinden von könnten wir weglassen, aber zu konstatieren ist, dass da auf keiner Tastatur ein Tippfehler vorliegen kann: r und n sind weit voneinander entfernt)
Der komplette Satz behauptet als Tatsachen:
1. die Kirche hat eine gesellschaftliche Situation ausgenutzt
- welche?
2. die Kirche hat der Gesellschaft gegeben, wonach diese verlangte
- ist das nun ein Vergehen?
3. indem die eine gesellschaftliche Situation ausnutzende Kirche der Gesellschaft gab, was diese verlangte, ist sie nicht von Verantwortung befreit
- ja wofür Verantwortung?
4. möglicherweise verdreht sich das, was die Gesellschaft verlangte, nun wundersam zu einem "Angebot" der Kirche (noch dazu ein offenbar mafiöses, wie der letzte Nebensatz sagt)

Das ist inhaltlich wie satzlogisch schlichtweg Unsinn. Vielleicht formulierst du das, was du eventuell sagen willst (was aber in deinem Satz niemand erkennen kann), noch einmal neu.

Wer jetzt sagt, diese Auswüchse (z.B. Kreuzzüge, Judenverfolgung) waren in der 2000-jährigen Geschichte des Christentums offenbar nicht zu vermeiden gewesen, sonst hätte es sie nicht gegeben, der müsste das auch für die sonstige Ereignisse in der Menschheitsgeschichte sagen – z.B. auch für die Taten des 12-jährigen "1000-jährigen Reiches".
wer sollte so einen Blödsinn sagen?? Was willst du mit dieser absurden Nebelkerze erreichen??

Nein, aus der Macht erwächst auch Verantwortung, und ich sage, dieser Verantwortung sind die christlichen Institutionen summa summarun nicht gerecht geworden.
diesen sich hochmoralisch gebenden Gemeinplatz kann man problemlos auf alle "Mächte" anwenden: Meristokratien, Könige, Kaiser, Kirchen, Scheiche, Kalife, Warlords - die meisten davon sind dieser Verantwortung summa summarum nicht gerecht geworden.
 
Du, @dekumatland, hättest gar nicht so viel schreiben müssen, denn meine Antwort besteht aus zwei Sätzen:

Der Mensch will betrogen werden, was Hersteller/Anbieter aller Art und Zeiten ausnützen und Dinge anbieten, deren Nützlichkeit durch nichts nachgewissen ist. Daran ändert auch nichts, dass sie mitunter auch selbst an die Nützlichkeit ihres Produktes glauben, denn auch sie werden als Scharlatane erkannt und ggf. verurteilt.

Das alles hättest du bereits aus dem gestern von mir geschriebenen Beitrag herauslesen können, aber du bevorzugst, wie zuletzt öfter, mit irgendwelchen an den Haaren herbeigezogenen Argumenten dagegen zu reden.

PS: Fast hätte ich das übersehen:
diesen sich hochmoralisch gebenden Gemeinplatz kann man problemlos auf alle "Mächte" anwenden: Meristokratien, Könige, Kaiser, Kirchen, Scheiche, Kalife, Warlords - die meisten davon sind dieser Verantwortung summa summarum nicht gerecht geworden.
Dass andere nicht besser waren, tut hier nichts zur Sache, denn hier wird über die Macht der Kirche diskutiert, und nicht über diese anderen. Aber netter Versuch, damit das Tun der Kirche zu relativieren.
 
Das Problem, Dion, ist, dass du, wenn du "Kirche" schreibst, die Amtsträger meinst. Das ist zwar etymologisch falsch, aber im allgemeinen Sprachgebrauch so üblich - daher also kein Anlass zur Kritik.
Der Anlass zur Kritik ergibt sich daraus, dass du die Amtsträger in 2000 Jahren Geschichte in einer Art Kollektivschuld über einen Kamm scherst. Dabei missachtest du, dass
  • bis ins 2o. Jhdt. Kinder von ihren Eltern oft für den Dienst in der Kirche vorgesehen wurden, um dem Problem von Erbteilungen zu entgehen. Ursprünglich im Adel verbreitet, später auch v.a. unter Landwirten. Das sind Menschen, die ein Leben (und eine Erziehung) hatten, bevor sie auf irgendeiner Stufe in die Kirchenhierarchie eintraten.
  • dass der Adel bereits frühzeitig hohe Kirchenämter mit weltlicher Macht verknüpfte* und gewissermaßen usurpierte, also nicht mehr theologische Expertise, sondern weltliche Macht ausschlaggebend war, um ein hohes Kirchenamt zu erreichen**
  • jedes menschliche Wesen ein Individuum ist, das eine handelt mehr aus egoistischen, das andere mehr aus altruistischen Gründen und die meisten von uns aus einer Mischung von beiden. Um es mal so zu sagen: Du siehst den Heinrich Institoris aber nicht den Friedrich von Spee. Du siehst den Ludwig Kaas (und entwertest nebenbei in deinem Hass auf die Kirche bzgl. des Ermächtigungsgesetzes den Mut der SPD)*** aber nicht die (wohl) 1.500 Priester die in deutschen Konzentrationslagern und Gestapo-Gefängnissen ums Leben kamen
Niemand hier bestreitet, dass mancher Kirchenmann (Theologe) ein veritabler Verbrecher war.

*es sei hier nicht verschwiegen, dass dies von "der Amtskirche" sicher durchaus gerne gesehen wurde
**das ist kein Naturgesetz und man wird auch im Mittelalter zig Bischöfe und Äbte finden, die sich aus kleinen Verhältnissen in der Kirchenhierarchie hochgearbeitet haben, aber es half ungemein Adeliger zu sein, bzw. als drittgeborener Adeliger konnte man sich sicher sein, nicht ganz unten in der Kirchenhierarchie zu starten.
***dabei weißt du ganz genau, wie die Situation in der Krolloper damals aussah, die Abgeordneten durch Spaliere von SA-Schlägern durchmussten
 
Dass andere nicht besser waren, tut hier nichts zur Sache, denn hier wird über die Macht der Kirche diskutiert,..
Doch das tut was zur Sache, denn dies zeigt auch die Grenzen des Machbaren auf.
Das ist kein Whataboutismus, sondern der notwendige Rahmen der Maßstäbe.
 
Ich stehe in diesem Faden nicht zu Debatte– aber dein Beitrag ist trotz seiner Kürze ein schönes Beispiel der Relativierung und des Whataboutismus.

Deine Virtuosität in der Disziplin, auch in einen noch so überschaubaren Text allerhand Dinge hineinzuinterpretieren, die dort nicht stehen, reißt mich zu immer neuen Beifallsstürmen hin. Hier habe ich lediglich meinem Amüsement darüber Ausdruck gegeben, dass ein so enorm produktiver Heißluftgenerator sich über "heiße Luft" auszulassen beliebt.
 
Mir ist, @El Quijote, das alles bekannt. Zum Beispiel, dass in der Spätantike Bischöfe sowohl Seelsorger waren als auch "Angestellte" (Provinzverwalter) des Kaisers. Diese Funktionen haben sie als Fürstbischöfe in das Mittelalter mitgenommen und wählten dort Könige und Kaiser des HRR mit. Ich habe schon öfter darauf hingewiesen, dass das eine schwierige Situation für sie war, denn niemand kann Diener zweier Herren sein: Da König/Kaiser, dort Papst.

Und sie verhielten sich auch entsprechend, nahmen Partei mal für diesen, mal für jenen, ja sie scheuten sich nicht, persönlich auch Kriege gegen andere (auch weltliche) Fürsten zu führen oder gar gegen Päpste.

Deswegen sagte ich: Sie waren nicht besser und nicht schlechter als weltliche Machthaber. Aber während diese für sich nicht in Anspruch nahmen und nehmen, besonders moralisch zu sein oder zu handeln, taten die Fürstbischöfe und auch Päpste so, als handelten sie im Auftrag Gottes, d.h. einer nicht in Frage zu stellender Autorität.

Das behaupteten Päpste und Kardinäle bis in jüngste Zeit: Die Kirche (als Institution) sei die höchste moralische Macht auf Erden. Und das trotz des Wissens über die von dieser Kirche weltweit begangenen Verbrechen in der Vergangenheit.

Wir sind hier in einem Geschichtsforum, wir versuchen Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu bringen, aber sobald hier jemand in diesem Zusammenhang die Kirche als Institution behandelt und auf die nicht zu leugnende Tatsachen hinweist, finden sich sofort welche, die sagen: Ja, alles wahr, aber …

Alle hier verurteilen zurecht Hitler, aber bei Kaas und anderen Ermöglichern der Nazidiktatur werden alle möglichen Entschuldigungen genannt, warum dieser und jener damals so und nicht anders handelte. Ähnlich bei Luther: Was wurde hier nicht alles genannt, um seine Schuld an dem Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhundert zu minimieren, obwohl es keinen Zweifel darüber geben kann, dass die späte Schriften Luthers wesentlich dafür waren und letztlich auch die Unterstützung Hitlers durch das Groß der deutschen Protestanten darauf basierte: Auch sie waren der Meinung, dass Juden aus Deutschland verschwinden müssen.

Sie und Hitler waren überzeugt davon, sie dächten und täten damit das Richtige. Aber das heißt nicht, dass man deswegen mit Schweigen oder gar mit Entschuldigungen die Verbrechen übergeht, die aus diesem Denken und Tun hervorgegangen sind.

Aber was passierte stattdessen? Die in KZs umgekommenen Priester werden als Beweis gebracht, die Kirchen als Institutionen wären in der Nazizeit verfolgt worden. Vergessen die Bischöfe mit dem erhobenen rechten Arm, vergessen die lobende Worte der führenden Kleriker nach der Machtergreifung 1933 und noch weit darüber hinaus über den neuen Geist, der angeblich in Deutschland wehte – auch nach den beschlossenen Rassengesetzen! –, vergessen das Schweigen des Papstes über die gezielte Vernichtung der Juden, obwohl er davon wusste.

Ähnlich wird hier die Hexenverfolgung behandelt: Es wird auf den Jesuiten Friedrich Spee von Langenfeld verwiesen, der als Kirchenmann diese Verfolgung (anonym) kritisierte. Nicht gesagt wird,
- dass diese Kritik erst 140 Jahre nach der Hexenbulle (Summis desiderantes affectibus) des Papstes Innozenz VIII. bzw. des Hexenhammer des Dominikaners Heinrich Kramer erschien,
- dass Friedrich Spee wegen dieser Kritik beinahe aus dem Jesuitenorden entlassen wurde,
- dass die Folter durch den Papst Innozenz IV. im Inquisitionsprozess eingeführt wurde,
- und dass diese Folter unter Aufsicht der Dominikaner und der Franziskaner noch mehr als 100 Jahre nach dem Erscheinen der Kritik weiter ging.

Diese Relationen sollte man berücksichtigen, wenn man die Wirkung von Schriften beurteilt. Es ist eben ein Unterschied, ob jemand mit seiner Schrift Zustimmung von seinen Zeitgenossen erfuhr, oder ob er damit erstmal ein einsamer Rufer in der Wüste war, der nicht einmal seinen Namen unter seine Schrift setzen durfte und trotzdem wegen seiner Ansichten von seiner lehrenden Position in der Institution, zu der er gehörte, entfernt wurde.

Es gibt zu beinahe jedem Ereignis in der Geschichte unterschiedliche Meinungen. Das ist nicht zu beanstanden. Aber das darf nicht dazu führen, dass die eine Meinung als von Hass genährt diffamiert wird, während eine andere sich als objektiv gibt bzw. von anderen so gesehen wird, weil sie eine Ansicht vertritt, die gerade oder schon länger en vogue ist.
 
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