Wie lange hat das Punische im Westmittelmeerraum überlebt?

El Quijote

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In der Doktorarbeit von Dold-Ghadar, über die ich mich aus verschiedenen Gründen ärgere, finde ich zwei Mal die Behauptung, dass das Punische in Nordafrika und Spanien die Römerzeit überdauert und noch bis in die Zeit der Arabisierung überlebt habe. Sie bezieht sich dabei auf den polnisch-israelischen Historiker Ḥayim Zeʾev Hirschberg, der dies verschiedentlich in seinem Buch A History of the Jews in North Africa behauptet, Ḥayim Zeʾev allerdings ohne seinerseits Belege anzuführen. Ich kenne aus Lybien bilingual lateinisch-punische Inschriften aus der augusteischen Zeit. Belege für ein Überleben des Punischen aus späteren Zeiten kenne ich nicht.

Stellen bei Hirschberg:

However, the Tyrians imposed upon the residents of the coastal belt their language, which was related to Hebrew, and the rites of their Canaanite religion. Numerous inscriptions have been discovered in the Punic language (called Neo-Punic in respect of the period following the destruction of Carthage); in all probability, it was still used at the time of the Arab conquests, and even afterwards. (S. 3)
Hirschberg sieht dann auch einen Zusammenhang zwischen dem punischen Priesterinnentitel RB KHNT und der arabischen Zuschreibung der berberischen Aufständischenführerin al-Kāhina (ebd.) (dies heißt allerdings auf arab. schlicht 'Hexe' (das weiß Hirschberg auch, S. 95), die Wurzel ist natürlich dieselbe wie das hebräische (oder punische) Kohan(im)). Al-Kāhinas Geburtsname wird in den arab. Quellen verschiedentlich angegeben, meist Dīhyā.

After the sudden appearance of the name Dahya (Damya, Dabha) ... there remains the problem of the appellation Kāhina, which is most unusual for a Berber woman. Modern scholars note the Hebrew, Punic or Arabic origin of the word, which means 'priestess' in North Semitic and 'sorceress' in Arabic. ... Moreover, thoug Punic was still spoken in Africa, it was certainly not by the Berbers, and they could not have known Hebrew at all. This means that the Berbers themselves did not ot call their leader Kāhina. (S. 95)
Natürlich nicht, Hirschberg! Es ist ja auch der Schmähtitel, den die Araber ihrer Gegnerin gaben!!

We may perhaps assume that the renewed preoccupation with Biblical Hebrew was furthered, on the one hand, by memories of Punic, which had not completely vanished, and on the other, by Arabic.... (S. 151)
Das sind die drei Stellen, an denen Hirschberg über ein Überleben des Punischen spricht. Echte Belege Fehlanzeige, lediglich die Benennung der Berberführerin Dīhyā als al-Kāhina wertet er entgegen der Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine arabische Bezeichnung handelt, für punisch.

Jetzt wäre die Frage natürlich: Gibt es irgendwelchen belastbaren Hinweise, dass Punisch noch in der Spätantike oder gar im FrühMA im Westmittelmeer im Gebrauch war?
 
Soweit ich das nachschlagen konnte, korrespondieren die Hinweise bei Augustinus gut mit den Inschriften in "Neo-Punic", deren letzte Nachweise um 350 bis frühes 5. Jhdt datiert werden.

Augustinus wird hier als Quelle zitiert. Ähnliche Hinweise in der Literatur, die sich mit der Nutzung des Punischen beschäftigen, finden sich zeitlich danach - als Quelle - noch zu Prokopius.
 
Ich weiß nicht, ob ich Prokop da wirklich mein volles Vertrauen schenken will. Konnte der Punisch und Tamazight unterscheiden? Man müsste sich die Stelle mal genau ansehen. Augustinus hatte da sicher eher einen Einblick.
 
Dazu - Ansichtssache - kann ich nichts sagen.

Diejenigen, die sich mit späten Verbreitung der punischen Sprache beschäftigen, zitieren ihn. Ich such das nochmal raus.


EDIT: hier zur umstrittenen Interpretation:

The epigraphic and literary evidence for late Punic, however, recommends the view that the Punic language remained in use in the sixth century (Jongeling and Kerr 2005, 2–7 [on the language]; 7–9 [on the writing systems]). In context, Procopius’ reference to the inscribed stelae serves to verify the more legendary summary of Moorish origins he has just provided in the proem. Specific detail gives the impression that Procopius is speaking as an eyewitness, or a reliably briefed reporter. Among specialists, however, the ethnographic digressions in Procopius occasion the most vigorous disputes (Cameron 1985, 207–8). The words of Procopius’ report are as follows:

They [the Canaanites] also built a fortress in Numidia, where now is the city called Tigisis. In that place there are two stelae made of white stone near by the great spring, having Phoenician letters cut in them which say in the Phoenician tongue: ‘We are they who fled from the face of Joshua, the robber, the son of Nun’ (Wars 4.10.21–22).


Schmitz, Procopius Phoenician Inscriptions: never lost not found.
https://s3.amazonaws.com/academia.e...e=Procopius_Phoenician_Inscriptions_Never.pdf

Der Hinweis auf Cameron (Procopius and the 6th Century) ist nicht weiterführend, da der wiederum auf 50er Jahre Literatur verweist, die wiederum kurzbündig die mangelnde linguistische Kompetenz Procopius' unterstellt (Rubin, 1954 Prokopios von Kaisareia, Stuttgart = Pauly-Wissowa, RE 23.1. 273–599, 1957).
 
Der relevante Satz steht vor dem Zitat: (aus derselben englischen Übersetzung): "And they established numerous cities and took possession of the whole of Libya as far as the Pillars of Heracles, and there they have lived even up to my time, using the Phoenician tongue."
Griechisch: πόλεις τ̣̣̔̓ οἰκήσαντες πολλὰς ξύμπασαν Λιβύην μέχρι στη λῶν τῶν Ἡρακλείων ἔσχον, ἐνταῦθά τε καὶ ἐς ἐμ τῇ Φοινίκων φωνῇ χρώμενοι ᾤκηνται.
 
Die Zitatwahl von Schmitz ist nach meiner Einschätzung schon ok.

Es geht ihm dort nicht um die Aussage von Prokopius (siehe oben #3), sondern um den Disput über die Glaubwürdigkeit im Kontext.

Und in dieser Diskussion wird die Erwähnung der Inschriften kontrovers gestellt. Das erscheint mir schon nachvollziehbar.
 
Al-Bakri, der ja Sproß einer andalusischen Fürstenfamilie war, ist m. W. nie von der iberischen Halbinsel heruntergekommen. Er hatte sein Wissen von dritten.
 
Der Fernhandel (inkl. des Handels mit Sklaven) hat für Nordafrika schon immer eine große Rolle gespielt und im südl. Lybien werden zudem bis heute saharanische Sprachen gesprochen. Ich halte es deshalb für wesentlich wahrscheinlicher, dass es sich bei der namtlich nicht genannten Sprache um einen Vertreter der nilosaharanischen Sprachen handelt.
 
Und da Libyer und später die Tuareg die phönizische Schrift für ihre Zwecke abgewandelt haben, war sowieso Verwechslungspotential vorhanden.
 
Der hl. Augustinus, selbst aus Nordafrika, betrachtete das Punische offenkundig noch als lebende Sprache:
BKV
BKV
Es muss noch eine weitere Stelle geben. Vycichl gibt - ohne Stellenagabe - an, dass Hieronymus heilsgeschichtliche Wortspielereien zwischen dem lateinischen salus ('Heil') und dem punischen šālūš (hebr. šeloš, arab. talāta, 'drei') vollzogen habe. Werner Vycichl, Punischer Spracheinfluss im Berberischen, in Journal of Near Eastern Studies, 11:3, 1952, S. 198 - 204, online https://www.journals.uchicago.edu/doi/pdfplus/10.1086/371088
 
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