Balkankrieg 1912/13: Internationale Intervention

Der Vormarsch bulgarischer Truppen auf Istanbul ist ansonsten eine schönes Beispiel, dass die Balkanstaaten durchaus ein Eigenleben entwickelten, im Zweifelsfall auch gegen die Intension des (früheren) hegemonialen oder imperialistischen "Mentors", wie hier der russischen Regierung.

Der massive Druck der russischen Seite, verbunden mit Versorgungsschwächen der bulgarischen Armee, führte nach der Zerschlagung der 1. türkischen Armee und der Einschließung von Adrianopel zum Halt der Bulgaren an der Catalca-Linie, 30 km westlich von Konstantinopel. Damit hatte vor Konstantinopel das Eigenleben, kurzzeitig aus der Dynamik der überraschenden militärischen Erfolge entstanden, ein Ende.

Letztlich beugten sich die Bulgaren dem russischen Druck:
siehe dazu das Grundlagenwerk von Hall, Bulgaria's Road to the First World War.

Die bulgarischen "Probleme" 1913 kamen nicht durch Schwäche, sondern durch den Zerfall der Allianz gegen das Osmanische Reich zustande, insbesondere durch bulgarische Angriffe auf die griechischen und serbischen Truppen ab dem 29.6.1913 in Mazedonien. Man geriet u.a. wegen der Beute Saloniki aneinander. Danach war Bulgarien mit zu vielen Feinden verstrickt.

Die Erfahrungen des Balkankrieges, die Friktionen mit Russland, die Einschätzung der militärischen Machtlage, die Friktionen mit den übrigen Balkanstaaten um das osmanische "Erbe" führten dann in den bulgarischen Weg in den Ersten Weltkrieg.

Der Eindruck, es hätte in den Jahren vor dem I. Weltkrieg nur Konfrontation und Hauen wie Stechen ohne häufigere Zusammenarbeit gegeben, ist so nicht zu treffend.

Den Eindruck hat niemand hier vermittelt. Hier geht es vielmehr im Kontext um die Frage, welche Folgen die kriegerischen Konfrontationen auf dem "Langen Weg" in die Julikrise 1914 hatten.
 
Hallo Silesia,

vielen Dank für Deine Bemerkungen und Ausführungen, du bemerkst oben:

Der massive Druck der russischen Seite, verbunden mit Versorgungsschwächen der bulgarischen Armee, führte nach der Zerschlagung der 1. türkischen Armee und der Einschließung von Adrianopel zum Halt der Bulgaren an der Catalca-Linie, 30 km westlich von Konstantinopel. Damit hatte vor Konstantinopel das Eigenleben, kurzzeitig aus der Dynamik der überraschenden militärischen Erfolge entstanden, ein Ende.

Letztlich beugten sich die Bulgaren dem russischen Druck:
siehe dazu das Grundlagenwerk von Hall, Bulgaria's Road to the First World War.

Das hatte ich anders in Erinnerung, Wallach, Anatomie, hatte zb. irgendwo über von Lossows aktive Beteiligung an der Catalca-Schlacht 1912 geschrieben usw.

U.a. massiver russischer Druck soll zum Halt der bulg. Armee an der Catalca-Linie geführt haben, letztlich beugten sich die Bulgaren russischem Druck? Wir sind hier im Faden noch beim ersten Balkankrieg im Oktober /November 1912, wie die Großmächte die Flottendemonstration für Istanbul Mitte November 1912 organisierten.

Richard Hall notiert in The Balkan Wars 1912 - 1913, S. 34f.:

.
..[...] Tsar Ferdinand received at the Bulgarian headquarters [..] on 12 November a formal Ottoman request through the Russion minister to Sofia, [...], for an armistice. At this point the war might habe ended. The imperial prize of Constantinople, however, beckoned to the Bulgarians. ..[...]
Then on 14 November, Ferdinand issued an order for an attack on the Chataldzha lines...[...]


Mangelnder Nachschub, ausbrechende Cholera, Wetter wie Morast und eine erstarkte osmanische Armee stoppten den Sieglauf der bulgarischen Armee - vorläufig endgültig aus militärischen Gründen und nicht in Reaktion auf russ. Druck. Wenige Tage nach der bulgarischen Niederlage suchte entsprechend Ferdinand um einen Waffenstillstand nach, Hall thematisiert dafür erneut keinen russischen "Druck", S. 69 f.
Wie die bulgarische Armee im nächsten Frühjahr erneut aktiv wurde und mit serbischen Truppen Adrianopel besetzte, hatten russ. Militärkreise dazu gedrängt.

Zum zweiten bulgarischen Versuch, die Catalca-Linie endgültig im April 1913 zu erobern, schreibt Hall S. 91 u.a.:

After the fall of Adrianople, the Russians feared that the Bulgarians might again attempt to take that prize that Russia had so long coveted, Constantinople. To avert that embarrasment, St Petersburg promised Sofia full support in the peace process. This was welcome reassurance for the Bulgarian government. ...[...] The Bulgarians then definitely decided against attempting to force the Chataldzha positions.

Massiver russischer "Druck"....Wenn Du meinst...
Hall scheint mir ein anderes Verhältnis zu beschreiben. Es wird deutlich, dass Bulgarien eine Autonomie erreicht hatte, mit und gegen die russ. Regierungspolitik. Mir gings derweil übergeordnet darum, deutlicher zu machen, dass die neuen starken, nationalen Balkanstaaten (zusehends) keine Marionetten imperialistischer Staaten (mehr) waren, die auf Befehl "spurten" und jeder Politik aus der "imperialistischen Zentrale" folgten oder folgen mussten. Ich meine, dass dies wohl auch gar nicht mehr strittig ist.
 
Es gab durchaus massiven Druck auf die Bulgaren durch die Russen. Gerade weil sie der Initiator der Balkan-Allianz waren, konnten sie diplomatischen Einfluss nehmen und drohen und warnen.

So schreibt Rossos (Russia and the Balkans: Inter-Balkan rivalries and Russian foreign policy, 1908-1914, S. 70ff) dass Sazonov an einer friedlichen Lösung der Reformanstrengungen im europäischen Teil des Osmanischen Reichs auf der Basis des Berliner Friedens interessiert war.

Er drohte den Bulgaren, dass sie kaum mit einer Unterstützung zu rechnen hätten und Russland würde nicht seine nationalen Interessen opfern "to bail them out". So schreibt Bobroff (Roads to Glory, S. 43), dass Russland seine Unterstützung für den Balkan-Allianz an die Hoffnung knüpfte, den Status quo zu erhalten.

Diplomatisch verstärkte Sazonov vor allem die bulgarische Angst vor einer Intervention durch Ö-U und benutzte diese Drohung, um Bulgarien zu "appeasen".

Dieses vor allem vor dem Hintergrund einer drohenden Intervention von Ö-U gegen Serbien (Rossos: Russia and the Balkans: Inter-Balkan rivalries and Russian foreign policy, 1908-1914, S. 98) und Sazonov versuchte, den Konflikt zu "lokalisieren" und Ö-U und das DR aus dem Konflikt herauszuhalten. Im Kern ging es dabei um den Zugang der Serben zu einem Hafen an der Adria.

Zudem waren die Bulgaren in Konstantinopel genauso wenig akzeptabel für Russland wie jede andere Macht, außer den Osmanen. Nicht zuletzt, da bulgarische Nationalisten den Status quo von Konstantinopel massiv verändern wollten und es zur Hauptstadt für ein "Groß-Bulgarien" machen wollten (Bobroff; Roads to Glory, S. 43) Russland und sein wichtigstes Exportgut, der Weizen, der die Waffeneinkäufe und somit die Aufrüstung finanzierte, hätte keine neue Macht geduldet und diesen neuen Status quo nicht akzeptiert.

Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, warum die Bulgaren dann nicht durch russische Intervention oder durch den russischen Druck gestoppt worden sind, sondern durch die Befestigungsanlagen vor Konstantinopel und die osmanische Armee (vgl. beispielsweise die Arbeiten von E. Erickson, die Silesia bereits aufgelistet hatte).

Insgesamt ist der Schlussfolgerung von Hall für den 1. Balkan-Krieg wohl zuzustimmen: "As a result, St. Petersburg lost its firm position in Sofia and with it a realistic opportunity to finally establish physical control of the straits." (S. 139). Und illustriert die unklaren Zielsetzungen der Russen in Bezug auf ihre Balkanpolitik, der dann auch in der Folge zum Verlust von Bulgarien als Verbündeter führte.
 
Zuletzt bearbeitet:
Thanepower, vielen Dank.


Hm, ja, massiver Druck, teils wirkungslos, teils eben nicht mehr mit automatischen, gewünschten Ergebnissen.
Ich meine, das ist die neue Situation für die russ. Außenpolitik während und nach dem 1. & 2. Balkankrieg. Sasonow scheint im Sommer 1912 gegen den sich abzeichnenden 1. Balkankrieg gewesen zu sein, eine unhinterfragte wie allmächtige Autorität stellte die russ. Außenpolitik jedenfalls nicht mehr dar für vitalen, neuen Nationalstaaten des Balkan.

Mir gings derweil übergeordnet darum, deutlicher zu machen, dass die neuen starken, nationalen Balkanstaaten (zusehends) keine Marionetten imperialistischer Staaten (mehr) waren, die auf Befehl "spurten" und jeder Politik aus der "imperialistischen Zentrale" folgten oder folgen mussten.

Das scheint mir selbst und typischerweise gerade für die im November 1912 hochkochende Bemühungen Serbiens für einen Adriahafen zu gelten. Zumindest ist Anhand der diplomatischen Aktenpublikationen eindeutig erkennbar, wie Sasonow die serb. Reg. ohne Erfolg zu bremsen versucht.




Zurück zur Großmächte-Flottenintervention im November 1912 in Istanbul. Entlang von Volker Tutenbergs Dissertation "Die deutsche Mittelmeer-Division und die Londoner Botschafterkonferenz" (1987) notiere ich einige Gesichtspunkte:

* Im Vorfeld des erwarteten Balkankrieges stellte das dt. AA Überlegungen an, drei weitere Kriegsschiffe, zwei für Konstantinopel, eines für Beirut, zu entsenden. (Tutenberg, S. 16)

Nach den sich mehrenden, massiven Niederlagen der Osmanischen Armee Oktober/November 1912
befürchteten die Großmächte Unruhen/Ausschreitungen der zurückflutenden Osmanischen Armee und der türkischen Bevölkerung gegen Europäer und Christen, auch und gerade in Istanbul. Weiterhin sah man auch die zu vermeidende Möglichkeit der Besetzung Istanbuls durch eben bulgarische Armee-Einheiten.

* Am 2.11.1912 treffen sich die ausländischen, europäischen Botschafter in Istanbul in der österreichischen Botschaft. Sie formulieren die Bitte an die Hohe Pforte, die Entsendung je eines Kriegsschiffen pro Großmacht zuzulassen.

* Am 8.11.1912 empfängt die türkische Regierung eine offizielle Note der Istanbuler Botschafter von Ö-U und GB, Frankreich und Russland wie Dt. Reich, in der sie gebeten wird, die Passage von ausländischen Schiffen zum Schutz der ausländischen Kolonien zu erlauben. (S. 21)

* Bereits am 4.11.1912 befiehlt Wilhelm II die Entsendung von Goeben und die Breslau, die am 5.11. in Wilhelmshafen auslaufen. Am 5. Nov. wird zusätzlich die Entsendung zweier dt. Kleiner Kreuzer - "Hertha" u. "Vineta" beschlossen. Am 6. November erreichen die britische "Weymouth" und die russ. "Kagul", am 7.11. die franz. " Leon Gambetta" & die dt. "'Vineta" Istanbul. (S. 24/26)

* Am 5.11.1912 wird durch kaiserliche Kabinetts-Order die "Mittelmeer-Division" geschaffen (S. 55). Sie ist daher keine primär imperialistische, expansionistische Geste,
sondern der "Ursprung der deutschen Mittelmeer-Division lag in der Notwendigkeit, deutsches Leben und Eigentum zu schützen. Humanitäre Beweggründe waren der Anlaß" (Tutenberg, S. 324)

Der Zusammenhang der Schaffung der Mittelmeer-Division mit dem Balkankrieg ist offenkundig.

* Am 17.11.1912 beschließt die Istanbuler Botschafter-Versammlung, am 18.11. bewaffnete Landungskorps der Kriegsschiffe Istanbul betreten zu lassen und die Einrichtungen der ausländischen Mächte zu schützen.
 
Hallo thanepower,

vielen Dank.

Nach der schnellen Durchforstung der British Documents on the Origins of the War 1898-1914, Band 9, 2. Teil, zum diplomatischen Verkehr/Verhältnis Bulgarien-Russland wg. Istanbul kann ich letztlich doch erneut Hall, The Balkan Wars 1912 - 1913 (2002), S. 91, zustimmen:


After the fall of Adrianople, the Russians feared that the Bulgarians might again attempt to take that prize that Russia had so long coveted, Constantinople. To avert that embarrasment, St Petersburg promised Sofia full support in the peace process. This was welcome reassurance for the Bulgarian government. ...[...] The Bulgarians then definitely decided against attempting to force the Chataldzha positions.

Halls Band stellt die neuere Sekundärliteratur dar.

Aus Gründen der Differenzierung und Diskussionsfähigkeit halte ich z.B. für sinnvoll, massiven Druck, wie er russischerseits bei der Liman-Sander-Krise angewendet wurde, von anderen "Qualitäts-/Quantitätsstufen" zu unterscheiden.

Da sich sowieso schon die Großmächtekonferenz der Botschafter in Serie wegen des Balkankrieges und seiner Folgen traf sowie die russ. Diplomatie vermittelnd sowohl zwischen der rumänischen und bulgarischen sowie der serbischen und bulgarischen Regierung wg. der nachfolgenden Territorialstreitigkeiten nach dem 1. Balkankrieg tätig war, fanden im Frühjahr 1913 zahllose Verhandlungen zwischen den Großmächten, den Balkanstaaten und Russland statt.
Und gerade Bulgarien hatte nach mindestens zwei territorialen Seiten seines Staatsgebietes mit den Nachbarstaaten Rumänien wie Serbien erhebliche Spannungen im Frühjahr - wie befinden uns direkt im Vorfeld des 2. Balkankrieges. Dazu kam noch die ungeklärte, feindselige Lage mit der Türkei. Siehe Hall.


Es ist aus meiner Sicht hilfreich, wenn die Verwendung von gelegentlich als autoritativ dargestellter Standard-Sekundärliteratur von substanziellen Bemühungen um entsprechende Primärquellen-Kenntnis gestützt oder ergänzt bzw. fundiert wird. Das kann eine substanzielle Diskussion nur fördern.

Liebe Grüße,

Andreas

(P.S.: es scheint in diesem Forum überraschenderweise Usus zu sein, die Mitschreiber weder direkt mit Namen/überhaupt anzusprechen, ebenso enden die Beiträge grußlos und ohne Namen)
 
Es ist aus meiner Sicht hilfreich, wenn die Verwendung von gelegentlich als autoritativ dargestellter Standard-Sekundärliteratur von substanziellen Bemühungen um entsprechende Primärquellen-Kenntnis gestützt oder ergänzt bzw. fundiert wird. Das kann eine substanzielle Diskussion nur fördern.

Das ist ein Allgemeinplatz, der weit geöffnete Türen versucht noch weiter zu öffnen.

Zumal:
1. Es erhalten die Historiker im Forum eine hohe Anerkennung, deren Arbeiten "quellengesättigt" sind und deren Verwendung als "kritisch" und distanziert erscheint. Insofern ist die Forderung nach Berücksichtigung von Quellen von dieser Seite ohnehin abgedeckt, zumal in der Regel diese - geschätzten - Historiker in der Lage sind, nachweislich korrekt zu zitieren. Und es bietet sich die Möglichkeit, da sie präzise Hinweise auf die Fundstellen anbieten, diese selber nachzuschlagen.

2. Die verwendeten Quellen, auch Deine Hinweise, in der Regel im Forum nachgeprüft werden, nicht zuletzt da sie online verfügbar sind. Insofern ist der Verweis auf die entsprechenden Quellen sehr hilfreich, auch bei Deinen Beiträgen.

British Documents on the Origins of the War, 1898-1914 - Eintrag im Clio-online Web-Verzeichnis Geschichte

3. Nur sollte man dann auch Quellen kritisch einordnen und die entsprechende Interessenlage eines - beispielsweise - Grey angemessen beurteilen und ihre impliziten politischen Annahmen deutlich machen. Und man sollte beispielsweise die Telegramme entsprechend der Phase einer Krise korrekt einordnen. Und dafür sind kontextuale Informationen notwendig, die sich nicht direkt aus Quellen erschließen lassen.

Insofern ist der Hinweis auf die Bedeutung von Quellen durchaus richtig, wird aber bei den meisten - relevanten - Themen, im Moment meistens den WW1 oder WW2 betreffend, ohnehin berücksichtigt.

Ansonsten sehe ich absolut kein Widerspruch zwischen der bei Hall zitierten Stelle und dem was ich bzw. auch Silesia geschrieben hatte. Ausführlicher stellt Hall seine Sicht in "Bulgaria and the Origins of the Balkan Wars, 1912-1913" dar (in vgl. Link) und stellt den Konflikt in den Kontext mit den zunächst günstigen Bedingungen für Sofia des Abommens von "San Stafano" und den späteren deutlich ungünstigeren Bedingungen des "Berliner Abommens" und der Unfähigkeit der "Jung Türken" eine Verhandlungslösung zu finden, die den Forderungen der Bulgaren angemessen Rechnung trägt. Insgesamt, so Hall in Anlehnung an Helmreich "the hub of the whole was Sofia, and as the hub turns, so turns the wheel."

https://books.google.de/books?id=acMhlAEACAAJ&dq=war+and+nationalism.+the+balkan+wars&hl=de&sa=X&redir_esc=y

Es ging den Russen um die Aufrechterhaltung des Status quos in Konstantinopel und um die Vermeidung eines Krieges unter den Großmächten. Das waren die Pämissen unter denen Sazonov im wesentlichen agierte, unabhängig von dem ansonsten unklaren Kurs in der Balkanpolitik.
 
Zuletzt bearbeitet:
Mir gings derweil übergeordnet darum, deutlicher zu machen, dass die neuen starken, nationalen Balkanstaaten (zusehends) keine Marionetten imperialistischer Staaten (mehr) waren, die auf Befehl "spurten" und jeder Politik aus der "imperialistischen Zentrale" folgten oder folgen mussten. Ich meine, dass dies wohl auch gar nicht mehr strittig ist.

Sicher ist das nicht strittig, und war es auch nicht.

Das oben gewählte "letztlich" sollte anzeigen, dass es weder um Marionette noch um "jeder Politik folgen" ging. Und auch die Verknüpfung mit dem militärischen Fehlschlag eines schnellen bulgarischen coup de force gegen Konstantinopel (ebenso Bulair) war oben schon erwähnt. Der raid gegen Konstantinopel ist auch nicht kurzfristig beschlossen worden, sondern war Bestandteil der bulgarischen Kriegspläne seit 1911 (nachdem man ursprünglich nur eine Fesselung osmanischer Verbände in den Balkan-Kriegsabsprachen zum Ziel hatte):

"In 1911, Fichev, now a general, altered the war plans again by massing all three Bulgarian field armies in Thrace. He hoped to achieve a decisive superiority over the Turks, and he set Constantinople and Rodosto (modern Tekirdağ) und on the Sea of Marmara) as his objectives. He established phase lines for operational control and planned to bypass and isolate Adrianople. The 1912 military convention with Serbia altered this idea somewhat, and Fichev was forced to add weight to the Rodope Detachment by assigning it an additional infantry division to honor the commitment made to Serbia."
Hall, Defeat in Detail, S. 71.


Es ging auch nicht nur bezüglich Meerengen/Russland um Konstantinopel, sondern ebenso um die potenzielle Sperre der Gallipoli Halbinsel.

Beide Extreme (Marionette wie Eigenleben) kann man ausschließen. Das Bild ist wie beschrieben komplex.

Sicher hat Ferdinand trotz russischem Drucks versucht, im Lauf des überraschenden Erfolgs gegen die beiden osmanischen Armeen Konstantinopel zu nehmen, und damit Fakten zu schaffen. Das widerspricht auch keineswegs dem zitierten russischen Druck gegen zu weit gehende bulgarische Ambitionen.

Wie dem einen Extrem wie dem anderen auch nicht schon die vorsichtige Annäherung widerspricht:
"Despite their rather lethargic approach to the Çatalca position, the Bulgarians had not been idle." [man verstärkte sich dann doch zügig] Hall. Defeat in Detail, S. 128. Wobei das "lethargic" wiederum eine Mischung aus den angegebenen Gründen darstellt, die Logistik nie außen vor bleibt: "At Çatalca the Bulgarians were approximately 130 miles from their railheads and
sources of supply, which imposed severe logistical difficulties on their armies."


Hall (Prelude) hast Du dagegen gelesen und zitiert. Zum Bild gehört Folgendes, was Du auch gelesen haben müsstest:

Wir können offenlassen, was die Bulgaren bewogen hat, griechische Angebote zur Kooperation der Einnahme der Meerengen nicht anzunehmen, obgleich nach Hall gerade die maritimen Kapazitäten Griechenlands (bis hin zu den Seetransporten) den Kitt der militärischen Allianz darstellten.

"The Bulgarians did not take seriously a Greek proposal in December 1912 to cooperate against Constantinople with a combined operation using the Bulgarian army against Chataldzha and the Greek fleet against the Dardanelles was not taken seriously by the Bulgarians. Archive of Bûlgarska akademiya naukite, Sofia, Fond 58, diary of former Minister of Justice Petûr Abrashev (hereafter referred to as BAN) 51–I–17–127; DPIK I, 576–7 no. 32"
Hall, Prelude, S. 148.

Dass sich dieser Druck auswirkte, ohne das Extrem "Marionette" bemühen zu müssen, zeigt Hall am Fokus Adrianopel:

"Political considerations also influenced the Bulgarian decision to avoid a siege at Adrianople. Immediately before the declaration of war the Russian military attaché in Sofia, Colonel Georgii D.Romanovski, warned General Fichev not to attack Adrianople because St Petersburg considered it to be within the hypothetical Russian zone of influence around the straits connecting the Aegean Sea to the Black Sea.70 Bulgarian policy then was oriented toward the largest Slavic state. Many Bulgarians remembered the Russians gratefully as their liberators from the Ottomans in the Russo-Turkish War of 1877–8. In addition, St Petersburg provided Sofia with material and diplomatic assistance during the war against the Ottoman Empire. For emotional as well as practical reasons, Bulgaria did not want to alienate Russia."
Hall, Prelude, S. 40. Das spricht weder die Marionette, noch Spuren auf erste Anordnung an. Sondern es umschreibt den Russischen Einfluss als Faktor (der wie oben erwähnt mit dem Kriegsende erheblich reduziert war).

Weiter sollte man nicht von "den" Bulgaren sprechen, da hier Fraktionen bestanden, die Teil des komplexen Bildes sind:

"Not all Bulgarians were content to stop with Adrianople. After taking Adrianople General Savov wanted to concentrate all his forces and march on Constantinople to dictate peace to the Ottomans in their capital. DDF 3rd series VIII 170."
Hall, Prelude, S. 153

Schließlich führte dieser Druck, kombiniert mit inkonsistentem Verhalten Russlands, gerade zur Reduktion des Einflusses auf Bulgarien (was wiederum keinen Widerspruch zum "Druck" darstellt):

"A third reason for the failure of the Balkan alliance was the inconsistent attitude of the guarantor of the March 1912 Treaty, Russia. The Russians failed miserably to promote a sense of fairness and moderation between Bulgaria and Serbia. Their representatives in Belgrade and Sofia gave conflicting advice. As a result, St Petersburg lost its firm position in Sofia and with it a realistic opportunity to finally establish physical control of the Straits. In its place, the Russians found themselves tied to a less advantageous position in Serbia. In the end, Russia had to follow Serbia’s lead into the catastrophe of 1914."
Hall, Prelude, S. 139.
 
Hallo Thanepower,

vielen Dank für die Antwort.

Selber möchte ich bei der Frage, wieweit die bulgarische Führung bzw. das bulgarische Militär und Zar Ferdinand auf massiven russischen Druck wegen einer möglichen Besetzung Istanbuls durch bulgarische Truppen in erwünschter Weise reagierten, auf den hier bereits mehrfach genannten Ronald Bobroff zurück greifen.
Dabei beziehe ich mich auf Bobroffs Aufsatz "Behind the Balkan Wars: Russian Policy toward Bulgaria und the Turkish Straits, 1912 – 1913.", in "The Russian Review" 59 (January 2000), S. 76 – 95.

In Bobroffs Aufsatz scheint mir Bobroff an keiner Stelle zu vermitteln oder zu formulieren, russischer massiver Druck hätte unmittelbar zur erwünschten Reaktion auf bulgarischer Seite geführt, was die Möglichkeit anbelangt, dass bulgarische Truppen gegen Ende des 1. Balkankrieges oder nach Auslaufen des nachfolgenden Waffenstillstandes Bulgarien – Türkei und den nachfolgend wieder aufgenommenen militärischen Aktionen von Seiten Bulgariens Istanbul besetzen.

Aller russischer Druck, alle Drohungen oder Versprechungen und Verlockungen von Seiten der Petersburger Diplomatie hielten die bulgarischen Truppen von einem weiteren Vordringen in Richtung Istanbul im November 1912 nicht ab.

Bobroff notiert, S. 86, im Zusammenhang mit den russ. diplomatischen Versuchen der Einwirkung auf die bulgarische Führung gegen Ende des 1. Balkankrieges abschließend die Bemerkung des französisches Botschafters in St. Petersburg vom 10.11.1912, der russ. Außenminister hätte scheinbar/anscheinend gegenüber den bulgarischen Ambitionen auf Istanbul resigniert.
Die Niederlage gegen türkische Truppen in der Catalca-Linie Mitte November sowie die unmittelbar danach begonnenen Waffenstillstandsverhandlungen mit der Türkei beendeten vorläufig das weitere Vordringen bulgarischer Truppen.

Nach Ende des Waffenstillstandes traten bulgarische Truppen ab Februar erneut in Aktion, doch auch für die kommenden Wochen legt Bobroff keine unmittelbare Wirkung massiven russischen Druckes nahe bzgl. eines Verzichtes einer Besetzung Istanbuls durch bulg. Truppen.
Eher sind es anscheinend die durch die Großmächte geförderten Friedensverhandlungen zwischen Bulgarien und der Türkei, die Gebietsversprechungen gegenüber Bulgarien sowie ein einsetzender Konflikt zwischen der zivilen bulgarischen Führung und dem Militär sowie Zar Ferdinand, die wahrscheinlich – neben der Cholera-Epidemie - dazu geführt haben, dass im Laufe des April die Ambitionen für eine Besetzung Istanbuls durch bulgarische Truppen abnahm und schließlich verschwand.

Derweil hatten gleichzeitig im Spätwinter/Frühjahr 1912 Territorialstreitigkeiten Bulgariens mit Rumänien wie Serbien bereits für "Ablenkung" und zugleich Spannungen an mehreren bulgarischen Fronten gesorgt, wie man entlang der schon angeführten britischen diplomatischen Dokumente entnehmen kann.

Entlang Bobroff kann man notieren, dass die russ. Diplomatie 1912 erkennen musste, dass sie die Handlungen der balkan-slawischen Nationen NICHT mehr kontrollieren konnte und erleben musste, dass sie ihr eigenes Gewicht, ihre Bedeutung überschätzt hatte. Bobroff spricht von einem Wahn, in dem sich die russ. Diplomatie bis dahin in Beziehung auf den Balkan befunden hätte.

Das erinnert mich an die serbische Forderung nach einem Adria-Hafen, den Petersburg bzw. Sasonow zunächst abgelehnt hatte – aber sich dann eilig zumindest dem Wunsch nach einem "Naturhafen" angeschlossen hatte. Wedelte da vielleicht der Schwanz mit dem Hund?


Aus meiner Sicht halte ich damit die Diskussion über die Wirksamkeit russ. massiven Druckes auf Bulgarien für ausreichend und abgeschlossen. Hall wie Bobroff stimmen weitgehend überein, ebenso die oben schon genannten britischen diplomatischen Dokumente.
Bobroff, der davon ausgeht, die russ. Regierungen hätten ab 1905, nach den militärischen Niederlagen gegen Japan zusehends einen unilateralen Imperialismus verfolgt (was ich nicht so sehe), ist seriös und Akademiker genug, um die sich davon unterscheidende oder zuwiderlaufende "Realität" im Konkreten differenziert darzustellen.

Vielen Dank nochmals thanpower & silesia, ihr habt bzw. dann die genannten Autoren haben mir eine neue Sicht auf die russ. Lage nach dem Balkankriegen ermöglicht, die mir Sasonows bzw. die Petersburger Reaktion auf die Liman-Sander-Mission weiter erhellt.

Viele Grüße,

Andreas
 
Nach Ende des Waffenstillstandes traten bulgarische Truppen ab Februar erneut in Aktion, doch auch für die kommenden Wochen legt Bobroff keine unmittelbare Wirkung massiven russischen Druckes nahe bzgl. eines Verzichtes einer Besetzung Istanbuls durch bulg. Truppen.

Die russischen Vorstellungen passten sich durchaus dem internationalen Kontext an. Von daher erklärt sich auch fehlender Druck 1913 bzgl. Konstantinopel, den Du hier vermisst, statt Druck war eher das genaue Gegenteil der Fall:

Um die britischen Vorschläge einer internationalen "Besatzung" von Konstantinopel zu kontern, präferierte Sazonov auf der diplomatischen Bühne als kleineres Übel sogar eine "temporäre" Besetzung Konstantinopels durch die bulgarische Armee (die unrealistisch war). Rossos, Russia and the Balkans, S. 212.

Alles ist immer eine Frage der Optionen und Alternativen.

Zum Februar 1913:

Hier hatten sich durch die Reorganisation der osmanischen Armee die Kräfteverhältnisse gewandelt.

Als erstes griff die Osmanische Armee an der Catalca-Linie an, nachdem man auch Mitte Januar die Cholera-Epidemie unter Kontrolle und Verstärkungen herangebracht hatte: 8.2.1913 und der allgemeine Angriff mit den drei aktiven Korps (3 weitere Reservekorps wurden zurückgehalten). Die vorderen bulgarischen Linien wurden zur Überraschung leicht überrannt. Die eingeleiteten bulgarischen Rückzüge waren außerdem durch die Sarköy-Flankenbedrohung bedingt.

Der osmanische Angriff an der Catalca-Linie hatte hier unterstützende und fesselnde Funktion.

Was Du mit der weiteren Schlacht um Catalca ansprichst, die Gegenmaßnahmen der Bulgaren ab dem 25.3.1913, folgt der Anweisung von Ivanov, die durch den osmanischen Vorstoss nach dem Waffenstillstand, also ab Februar 1913 verloren gegangenen bulgarischen Stellungen zurück zu erobern. Diese Gegenoffensive, mit der halben Kampfstärke vom November 1912, und mit limitiertem Ziel, hatte nicht die Dramatik vom November 1912, und wegen der gewachsenen osmanischen Stärke keine Ambitionen zur Besetzung von Konstantinopel.

Da es keine Chance auf militärische Besetzung Konstantinopels durch bulgarische Truppen gab (Erickson, Defeat in Detail), spielte hier auch russischer Druck keine Rolle (eher war das Gegenteil der Fall, siehe oben).
 
Zuletzt bearbeitet:
Die russischen Vorstellungen passten sich durchaus dem internationalen Kontext an. Von daher erklärt sich auch fehlender Druck 1913 bzgl. Konstantinopel, den Du hier vermisst, statt Druck war eher das genaue Gegenteil der Fall:...

Alles ist immer eine Frage der Optionen und Alternativen.

Nachzutragen ist die Frage, was überhaupt russischen Einfluss auf Bulgarien begründet hat.

Das sind zunächst innerbulgarische Konstellationen, neben den früheren Beziehungen und der Historie russischer Unterstützung und Einflussnahme insbesondere die russophile Fraktion in der bulgarischen Führung.

Hinzu kommt ein weiterer wichtiger Aspekt, der bislang für den Kontext der internationalen Verwicklungen nicht angesprochen wurde: wenn Bulgarien der "Hub" des Balkankrieges war (Hall), dann kommt darin nicht der Einfluss Rumäniens zum Ausdruck.

Grenzstreitigkeiten und rumänische Ambitionen auf bulgarisches Gebiet bestanden bereits vor dem Krieg. Die Sicherung ihres "Rückens" für militärische Aktionen gegen das Osmanische Reich war der Grund für bulgarisches Appeasement und Verständigungsversuche über die Grenzkonflikte und großrumänischen Vorstellungen. Die im Sommer 1912 geführten Gespräche brachten aber keine Lösung. Die bulgarische Erwartung war, die (territoriale) Rechnung mit dem Verlauf des dennoch begonnenen Krieges präsentiert zu bekommen. einigermaßen komfortabel und sicher fühlte man sich [gegen Rumänien] gerade durch russische Rückendeckung.

Russland hatte hier sozusagen den Status der Lebensversicherung gegen rumänische Gebietsansprüche. Grund für Bulgarien, auf Russlands Wünsche Rücksicht zu nehmen, was wiederum nichts mit Marionette zu tun hat und ohne die russophile Fraktion als reine russische Erfüllungsgehilfen zu sehen.

Das zwischen den Blöcken mindestens schwankende Rumänien nutzte dennoch die Gunst der Stunde, territoriale Forderungen gerade wegen bulgarischer Gebietsgewinne und Erfolge gegen das Osmanische Reich und natürlich wegen der bulgarischen Fesselung zu präsentieren.

Überraschenderweise war Russland diesen rumänischen Forderungen nicht abgeneigt, wegen übergeordneter strategischer Interessen, Rumänien von den Mittelmächten zu separieren und den Blockwechsel zu zementieren. Die Rückschläge gegen die Osmanen in 1913, neben dem rumänischen Einmarsch (mit Kriegserklärung) und den folgenden Gebietsverlusten, die ausbleibende russische Unterstützung für Bulgarien und die dann doch verweigerte Unterstützung Bulgariens gegen Rumänien kostete die russophilen Gruppen in Sofia die Macht.

Als Ergebnis positionierte sich Bulgarien neu, und die Bewegung auf die Mittelmächte wurde eingeleitet. Rumänien bewegte sich von den Mittelmächten weg, und auf Russland zu. Damit waren zwar die Karten für die späteren Bündnissituationen Ersten Weltkrieg nicht definitiv neu verteilt, aber hier wurden zumindest Weichen gestellt.

Die Einschätzung dieser komplexen Wirkungsgeflechte sollte auf jeden Fall diese Dreiecksbeziehung RUS-BUL-RUM berücksichtigen.

Der bevorstehende bulgarisch-rumänisch Konflikt war ein Faktor russischen Einflusses, bis zu den beschriebenen Wendungen.
 
Zur Mittelmeer-Division des Dt. Reiches und seinen Aufgaben im Zuge der internationalen Flottendemonstration im Osmanischen Reich kann man entlang Volker Tutenbergs Dissertation "Die deutsche Mittelmeer-Division und die Londoner Botschafterkonferenzen" von 1987 einige Sachverhalte hinzufügen:

- Die Marineführung des Dt. Reiches war skeptisch gegenüber der Einrichtung der Mittelmeer-Division gewesen, das Marinedepartement hielt eine ständige Einrichtung für vorläufig nicht empfehlenswert, da die heimischen Streitkräfte [gemeint ist die Hochseeflotte in der Nordsee] dadurch stark geschwächt würden. (S. 56)

- Die Schiffe: Großer Kreuzer Goeben, Kleiner Kreuzer Breslau, Großer Kreuzer Vineta (Bj. 1897), Großer Kreuzer Hertha (1897), Stationsschiff Loreley (1896), kleiner, ungeschützter Kreuzer Geier (1895). Ab April 1913 für wenige Monate die Kleinen Kreuzer Straßburg und Dresden.

- Ein Teil der Kriegsschiffe der internationalen Flotte blieb nach dem November 1912 in Istanbul stationiert wg. der weiterhin unsicheren Lage. Nach der Aufkündigung des Waffenstillstandes zw. den Balkanstaaten und der Türkei Anfang Februar 1913 sorgten erneute Kämpfe für die Fortsetzung der Flottenanwesenheit.

- Teile der Mittelmeer-Division lagen zeitweilig vor anderen Küstenstädten des Osmanischen Reiches während des fraglichen Zeitraumes, ebenfalls mit Schutzauftrag. Darunter waren Hafenstädte wie Smyrna, Saloniki, Mersina, Haifa oder Alexandrette.

- In diesen Küstenstädten wie in Istanbul gab es öfter Austausch, Kontakte und Absprachen zwischen den teilnehmenden Schiffen der internationalen Flotte, teilweise nahmen dt. Kriegsschiffe übertragene Schutzaufgaben für fremde Staatsangehörige wahr. Mehrfach gab es Ratschläge von Seiten hoher britischer Marine-Vertreter zu möglichen Aufgaben für die dt. Kriegsschiffe während dieser Zeit. (z.B. S. 81)

- Im April 1913 wurde der Aufenthalt der Mittelmeer-Division verlängert, auch wegen des erneut und immer noch unklaren Ausgangs der militärischen Situation für die türkische Armee und die Türkei bzw. Istanbul. Im Juli 1913 wurde angeordnet, die Mittelmeer-Division über den kommenden Herbst hinaus bestehen zu lassen.

- Im Juli 1913 gibt es die internationale Flotte entsprechend ebenfalls immer noch (S. 86), verteilt über verschiedene Hafenstädte des Osmanischen Reiches. Beteiligt sind das Dt. Reich, Ö.-U., Italien, GB, Frankreich, Russland.

- Ein Teil der Mittelmeer-Division wird ab Frühjahr 1913 bis 1914 hinein vor der Küste Montenegros eingesetzt, erneut in einer Flottenaktion der Großmächte, jedoch ohne russ., doch mit italien. Beteiligung. (S. 95 – 156, "Der Einsatz der deutschen Mittelmeer-Division vor der Küste Montenegros")

- Zur Unterhaltung und Vorschau auf das Schicksal der Goeben im Sommer 1914: Der türkische Großwesir ist von der Goeben vor Istanbul so angetan, dass er Ende 1912 gegenüber dem Botschafter des Dt. Reiches bemerkt, er würde gerne sofort die Goeben kaufen. Schon mit Hinweis auf den türkischen Kriegszustand lehnt der Botschafter natürlich ab und meint noch, es würden zudem die türkischen Seeleute fehlen, die so ein großes und kompliziertes Schlachtschiff steuern könnten. Der Großwesir bemerkt dazu leicht scherzhaft, man könne ja die Besatzung komplett in die türkische Marine aufnehmen. (S. 72f.)


Tutenbergs Diss. ist nun kein überragendes Werk, aber solide genug.
 
Bobroff, Roads to Glory, erläutert die Schiffsentsendungen nach Konstantinopel im November 1912 recht umfangreich. Das hatte ich bislang übersehen.
....

Ich auch. :)
(Hab auch den Bobroff nicht wirklich verdaut. Mei, so ist das halt wenn man mehr fressen will als man Muse hat.)

Wo find ich das?
 
Silesia & thanepower, nochmals vielen Dank. Manchmal nützt es, die Dinge zugespitzt zu formulieren.

Kontextuelles Vorgehen versteht sich natürlich von selbst, thanepower, und selbstverständlich sind die genannten Dokumentenbände ebenso in einen Kontext zu stellen - in jeder Hinsicht! ;-) Als Primärquelle sind sie natürlich so wichtig wie noch unveröffentlichte "Aktenstücke" aus den Archiven.


Die Einschätzung dieser komplexen Wirkungsgeflechte sollte auf jeden Fall diese Dreiecksbeziehung RUS-BUL-RUM berücksichtigen.
Der bevorstehende bulgarisch-rumänisch Konflikt war ein Faktor russischen Einflusses, bis zu den beschriebenen Wendungen.

Ja, Silesia, kann ich zustimmen. Wohin mich inzwischen die Liman-Sander-Krise bereits schon geführt hat, ist beachtlich. Umso deutlicher wird für mich, WIE komplex Vorfeld, Umfeld, Kontext, Vorgeschichte, Vernetzung und Überkreuzverbindung sind.

Mir wird klar, dass die russ. Außenpolitik u.a. wegen der Dardanellensperrung im April 1912 durch die Türkei im Rahmen des ital. Angriff auf die selbigen hochgradig angespannt/intensiv die Entwicklung in und um die Türkei herum verfolgte.

Wenige Monate später im gleichen Jahr sowie nochmals im Frühjahr 1913 wird mit dem möglichen Vormarsch bulgarischer Truppen auf Istanbul erneut eine möglicherweise für Russland nachteilige Lage an den Meerengen entstehen.

Bobroff, Roads of Glory, endlich thematisiert, was ich auch schon festgestellt hatte in den diversen Dokumentenbänden: Die angestrebte türkische Marineaufrüstung bzw. -Verbesserung via englischer Hilfe beschäftigt die russ. Marine und Politik ab spätestens 1913 massiv - Sasonov "beschwert" sich entsprechend gegenüber der englischen Diplomatie, aber natürlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Und dann kommt 1913 auch noch Liman von Sanders...;-) Sasonovs fast schon hysterische Art/Reaktionen werden durchaus in den Dokumentenbänden spürbar - abgesehen davon, dass er wohl wirklich öfters von ziemlich schwankenden Affekten beherrscht wurde.

Viele Grüße,

Andreas
 
[...]
- Die Schiffe: Großer Kreuzer Goeben, Kleiner Kreuzer Breslau, Großer Kreuzer Vineta (Bj. 1897), Großer Kreuzer Hertha (1897), Stationsschiff Loreley (1896), kleiner, ungeschützter Kreuzer Geier (1895). Ab April 1913 für wenige Monate die Kleinen Kreuzer Straßburg und Dresden.
[...]

Der Einsatz der Kriegsschiffe muss differenziert werden. Der Einsatz geschah nicht in Form der kompletten Liste, der Mittelmeerdivision.

Vorab, der militärische Kampfkraft der Schiffe Vineta und Hertha (1912 als Schulkreuzer untergeordnet), sowie der Loreley und Geier, waren von sehr geringen wert.
Zur Mittelmeerdivison und Balkankriege:
Der Kreuzer Geier war schon seit Ende 1911 zur Mittelmeerstation beordert worden, anlässlich des ausgebrochenen türkisch-italienischen Krieges.
Die Schulkreuzer Vineta und Hertha, wurden auf einer Ausbildungsreise dem Kreuzer Geier im Mittelmeer zugeteilt.
Warum die Goeben ins Mittelmeer gesandt wurde, erschliesst sich mir aber bis heut nicht. Wäre interessant mehr dazu zu erfahren.
Nun, die Goeben wurde erst am 02. Juli 1912 in Dienst gestellt und auf dem Weg ins Mittelmeer ab dem 04.11.1912 erreichte sie auch gleich einen neuen Rekord. Sie hielt von Wilhemshaven bis Malta eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 21,35 kn, was enorm war, für so ein großes Schiff. Ich Schweife ab ...:scheinheilig:

Nun der Einsatz der Kriegsschiffe ab November 1912. Schon im Februar 1913 wurden die Vineta und Hertha aus dem Mittelmeer wieder abgezogen, und Breslau und Geier gingen zur albanischen Küste.
Da nun das östliche Mittelmeer zu schwach besetzt schien, wurden im April 1913 die Dresden und Straßburg herangeführt und der Mittelmeerdivision eingegliedert. Diese beiden kl. Kreuzer wurden nach dem Ende der Balkankriege im September 1913 wieder abgezogen. Lediglich die beiden Schulkreuzer Hansa und Victoria Luise kamen danach wieder zur Mittelmeer Station.
Als kampfstarke Kräfte für die Mittelmeerdivision verblieben die Goeben und Breslau.

Aber in aller Regel stand nie die gesamte Liste an dt. Kriegsschiffen aus der Mitteldivision an einem Brenn- bzw. Zeitpunkt.
Das wollte ich nochmal anbringen.
 
Danke, Kobis17, für den Hinweis, mir war das schon klar, ich wollte nur die vollständige Aufzählung. Und die unterschiedliche "Kampfkraft" wollte ich nicht thematisieren, weils nicht unbedingt für den Faden notwendig schien.

Liebe Grüße,

Andreas
 
Hallo thanepower,

danke für den Seitenhinweis bei Bobroff, Roads.

Bobroff, Roads, S. 65, zur November-Flottendemonstration 1912? Dort finde ich Ausführungen zur für den Fall der erneut im Frühjahr 1913 drohenden Besetzung Istanbuls durch bulgar. Truppen angedachten Flotten-Aktion, diesmal von russ. Seite gewünscht/geplant, im Zweifelsfall auch im Alleingang.

Bobroff, Roads, berührt zumindest ab S. 49f. nur ganz am Rande, mit wenigen Informationen, die November-Flottenaktion 1912 der Großmächte in Istanbul, soweit ich sehe.

@ Silesia, kannst Du vielleicht noch angeben, wo Bobroff in "Roads" recht umfangreich dazu schreibt?

Bisher schreibt mit Abstand am ausführlichsten zur Flottendemonstration im November 1912 Volker Tutenberg, Die deutsche Mittelmeer-Division und die Londoner Botschafterkonferenz (1987), S. 16ff. und S. 60ff.

Liebe Grüße,

Andreas
 
STIMMT! Das Thema wird auf S.52 in Bezug auf den November präzisiert. Relevant daran, und an anderer Stelle würde ausführlich darauf hingewiesen, sind vor allem die geringen amphibischen russischen Potentiale für das Verständnis auch der Optionen in den folgenden Jahren.
 
Zuletzt bearbeitet:
Mittlerweilen hab ich es auch gefunden.
Bobroff geht auf Seite 52 auf die Episode ein.
Danach sei es so gewesen, dass nach dem sich die Bulgaren der Chatalja-Linie näherten, die Hohe Pforte alle Großmächte einlud zunächst je ein Kriegsschiff, und dann zwei, nach Konstatinopel zu entsenden um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Eine internationale Flotte habe sich (daraufhin?) versammelt um unter französischer Führung vor der Hauptstadt gesammelt und sei am 18 Nov. 1912 gelandet.

Bei Aksakal (Mustafa Aksakal – The Ottoman Road to War in 1914) findet der Vorgang auf Seite 78 Erwähnung, allerdings mit einer etwas anderen Wahrnehmung:
„Unfähig Nutzen aus den Schutzmechanismen, die theoretisch durch das internationale Staatensystem gegeben waren, zu ziehen, fühlten die Osmanen zutiefst den bitteren Schmerz der Isolation. Überdies bestätigten die Ereignisse ihre Ängste bezüglich der Absichten der Großmächte. Ende Oktober 1912 sammelte sich eine multinationale Flotte in Istanbul, bereit im Namen des Schutzes ausländischer und religiöser Minderheiten und ihrer Geschäfte, die Stadt und andere Teile Reiches zu besetzen. Deutsche Aufzeichnungen z.B. zeigen Pläne an Land zu gehen und, sofern erforderlich, eine Interimsregierung einzusetzen. Und in London, schlug Außenminister Grey vor, Istanbul zu einer internationalen Stadt zu machen. Dieses Resultat wurde im wesentlichen von Sazonov verhindert (scuttled)... .“
(Übersetzung durch mich)
 
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