Buchtipp: "Die Geschichte meines gleichgültigen Lebens"

collo

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"Die Geschichte meines gleichgültigen Lebens" ist ein dreibändiges Werk, herausgegeben durch Sebastian Diziol, Solivagus Verlag Kiel.

Geschrieben wurde es von Franz Simon Meyer, 1799-1871, einem badischen Geschäftsmann und Bankier. Dieser hat seit seiner Schulzeit in der Schweiz, buchstäblich sein Leben dokumentiert.

Es handelt sich jedoch nicht um klassische Tagebücher, vielmehr um Reise- und vor allem Jahresberichte.

Meyer fasst die Ereignisse des jeweils vergangenen Jahres zusammen. Dabei berichtet er über die große Politik, Naturkatastrophen genauso wie über die Ernte oder das Wetter in Baden.

Den größten Teil macht naturgemäß die Familiengeschichte und die seiner Unternehmen aus.

Aus einer gutsituierten Familie stammend, sein Großvater war Bürgermeister seiner Geburtsstadt Rastatt, beginnt das Buch mit einer Beschreibung einer Reise in 1816 von seiner Schule in der Westschweiz nach Mailand.

1820 reist er zur Ausbildung nach Paris, 1821 nach England, wo er unter anderem über die Eisenbahn berichtet.

Ab 1822 fangen dann die Jahresberichte an, die bis 1870 fortgeführt werden. Er beginnt mit den großen Ereignissen, wie er sie aus der Zeitung oder von Familien, Freunden und Geschäftspartnern erfährt. Dazu gibt er auch persönliche Komnentare ab.

Dann folgen lokale Ereignisse, die Ernte, das Wetter, die Politik in Baden und Rastatt. Das nächste Thema sind dann seine Geschäfte.

Zunächst ist er der Junior im Handelshaus seines Vater, dann übernimmt er und gründet die erste Bank im nahegelegenen Baden-Baden. Wodurch er in Kontakt mit der damaligen High Society kommt.

Wie schon erwähnt, nimmt die Familiengeschichte den breitesten Raum ein. Hochzeiten, Geburten, Krankheiten, Todesfälle etc.

Ich gebe zu, als gebürtiger Rastatter habe ich natürlich einen anderen Blick auf diese Bücher gehabt. Manche Gebäude stehen noch, ich kenne die Gegend, manche Namen kannte ich vorher (jedoch nicht Franz Meyer).

Was ich jedoch am interessantesten fand, war der Einblick in den Alltag zu jener Zeit. Ähnlich Samuel Pepys beschreibt ein (Groß-)Bürger seinen Alltag.

Und was für einen! Meyer hat noch bewusst Napoleon erlebt. Seine Reise nach Mailand 1816 fand in der Kutsche statt, 1821 sieht er eine Eisenbahn in England und 20 Jahre später berichtet er über den Bau der ersten Linien und reist wie selbstverständlich damit.

In Rastatt wird die Bundesfestung erbaut, 1849 ist er Zeuge der Belagerung durch die Preußen (von außerhalb, als Bankier ist er vor den Revolutionären geflohen).

Man spürt förmlich das Verlangen nach nationaler Einheit und, gegen Ende seines Lebens, die Freude, dass noch miterlebt zu haben.

Wer also einen Einblick in den Alltag des kleinstädtischen Bürgertums im 19. Jahrhundert gewinnen möchte, der sollte mal einen Blick hineinwerfen.
 
@collo fiel Meyers Baden-Badener Bankierstätigkeit in die Zeit, als Hector Berlioz und Richard Wagner dort dirigierten, als Iwan Turgenew dort wohnte, als Tolstoi und Dostijewski dort an der Spielbank zockten und erwähnt er dergleichen?
Und im Vergleich zu Samuel Pepy erwähnt er auch "anzügliche" Themen? Oder hat er sein Privatwerk quasi züchtig gestaltet?
 
Meyer gründete die Bank in den 1840ern. In d3n Büchern werden einige Russen genannt, aber da geht es um Fürst von Soundso oder Gräfin von Dingsbums. Unbekannte und spielsüchtige russische Künstler gehörten wohl nicht zum Umgang. Auch Wagner oder Berlioz tauchen nicht auf. Der Mann war Bankier, also verschwiegen.

Er war zweimal verheiratet, die erste Frau ist verstorben. Da er diese Berichte für seine Familie niederschrieb und wohl auch vorlas, gibt es keine schlüpfrigen Stellen. Die Biedermeierzeit und danach war auch nicht die Zeit, wo man sich mit Liebschaften oder Bordellbesuchen brüstete, jedenfalls nicht in einem kleinen badischen Städtchen von ca. 5.000 Einwohner, wo jeder jeden kennt.
 
Die Biedermeierzeit
sollte man da nicht unterschätzen (!)
Dass er zum vorlesen in seiner Familie schrieb, war deinem Beitrag nicht zu entnehmen, denn sonst hätte ich nicht bzgl Vergleichbarkeit mit Pepys nachgefragt.
Übrigens lebte Turgenew in seiner eigenen Baden-Badener Villa, und Graf Leo Tolstoi war richtig reich und zählte zur high society, wo er auftauchte; nur Dostojewski nicht.
 
Ich hab im Personenregister nachgeschaut, sie werden nicht erwähnt.

Meyer war wohl nicht so sehr an Kultur interessiert. Ich kann mich nicht dran erinnern, dass er erzählt, was er gelesen hat. Auch nichts zu Opernaufführungen oder Kunst. Er ging in seinem Geschäft und der Familie auf.

In interessierte die Politik, sein Vater und Großvater erzählten ihm Geschichten vom Rastatter Kongress. In einer Episode wird über die Verwicklungen der Familie im Zusammenhang mit dem Gesandtenmord erzählt.

Oder eben die badische Revolution 1848/49, in der er um dein Leben fürchtend ins nahe Elsass zu Verwandten flüchtet. Die Belagerung Rastatts erlebt er bei den Preußen, in Angst um seine Familie, die in der Festung blieb. Hier trifft er auch auf den Kartätschenprinz, den späteren Kaiser Wilhelm I..

Hier die Links zum Solivagus-Verlag mit ausführlichen Leseproben und zum Wikioedua-Eintrag zu Franz Meyer

https://www.solivagus.de/publication/franz-simon-meyer/

Franz Meyer (Bankier) – Wikipedia
 
Meyer war wohl nicht so sehr an Kultur interessiert. Ich kann mich nicht dran erinnern, dass er erzählt, was er gelesen hat. Auch nichts zu Opernaufführungen oder Kunst.
Auf diese Weise hinterließ Franz Meyer eine nahezu lückenlose Dokumentation geschäftlicher, politischer, sozialer, kultureller und familiärer Prozesse über mehr als fünfzig Jahre hinweg
(aus dem von dir verlinkten Wikipedia Artikel) so ganz unbeleckt von Kunst, Kultur, Theater war der Bankier wohl nicht. (das hätte mich auch sehr gewundert)
Auf jeden Fall vielen Dank für deine Hinweise auf ihn! Mich machen dreierlei Themen neugierig:
- Die Bundesfestung Rastatt samt badischer Revolution aus seiner Perspektive
- Was er an "Kultur/Kunst" wahrgenommen bzw für erwähnenswert gehalten hat
- Wie man das mentalitätsgeschichtlich betrachten kann

Sind die drei Bände kommentiert oder haben sie nur bissel Vorwort und ansonsten den Text?
 
Das mit der "Kultur" ist meiner Wahrnehmung geschuldet. Die ersten zwei Bände habe ich vor Jahren gelesen, der letzte Band erschien Anfang 22.

Jetzt, wo ich nochmal reingeblättert und Rezensionen gelesen hab, korrigiere ich mich, zumindest teilweise.

Ja, er ging ins Theater und die Oper, aber vor allem als junger Mann in Paris. Im dritten Band sind die "kulturellen" Höhepunkte seine Reisen nach Italien und Frankreich, wo er eine der ersten rein touristischen Reisen gemacht hat. Mit Besuchen in Museen, Theatern, Sehenswürdigkeiten (Pompeji!), aber das hat was von "gesehen, abgehakt".

Er war mit Sicherheit sehr belesen, er kannte seine Klassiker. Was er sehr schätzte waren Gedichte, vor allem Schiller, er selbst hat welche verfasst. Aber er schrieb nicht auf, welche Bücher er gelesen hat.

Zur bildenden Kunst, er war ein sehr talentierter Zeichnung, in den Büchern gibt es einige von ihm zu sehen. Und er war fasziniert von der neuen Technik der Fotografie.

Was ich eben nicht gefunden habe, war "zeitgenössische, moderne" Literaten oder Musiker. Z.B. eben kein Richard Wagner und nur eine nebensächliche Erwähnung von Verdi: "... beendigten den Tag durch den Besuch des Theaters von St. Carlo, wo Hernani von Verdi, vor allem aber das Ballett "Il Triompho dell'Inocentia" gegeben wurde..."

Zu Deiner Frage, die Bände haben ein "bissel" Vorwort mit Kontext, aber sind unkommentiert. Ich hatte immer mein Handy mit Wikipedia danebenliegen, um Namen oder Ereignisse nachzuschlagen.
 
Ich muss noch einen Fehler korrigieren.

Der Titel lautet richtig

"Die ganze Geschichte meines gleichgültigen Lebens"
 
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