Die Göttin Anahita

Chan

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Anahita gehört zu den drei weiblichen Gottheiten in dem unter zoroastrischem Einfluss neuformierten achämenidischen und nach-achämenidischen Pantheon Persiens. Der Ahura-Mazda-Priester Zoroaster hatte - vermutlich in der ersten Hälfte des 1. Jt. BCE - seinen Spezialgott in das Zentrum seiner Lehre gerückt und die anderen Gottheiten des indisch-iranischen Pantheons zu nicht-göttlichen dämonischen Wesen degradiert. Allerdings waren diese Gottheiten im Volksglauben so fest verwurzelt, dass nach Zoroasters Tod ein Kompromiss gefunden werden musste: Viele von ihnen wurden als göttliche Diener (= Yazatas) des Ahura Mazda in die Sammlung der avestischen Hymnen aufgenommen, darunter, neben den Göttinnen Asi und Armaiti, auch Anahita. Gemessen an ihrer kultischen Bedeutung entwickelte sie sich, neben Mithra, zur wichtigsten Gottheit nach Ahura Mazda und zur populärsten Gottheit des persischen Reichs. Den Anstoß dafür gab der achämenidische König Artaxerxes II., in dessen Seelenleben die Göttin - allem Anschein nach - einen zentralen Platz einnahm.

Entstanden war Anahita lange vorher höchstwahrscheinlich als eine Synthese aus zwei Göttinnen:

(1) die indische Flussgöttin ´Sarasvati´, auch ´Maha-nila-saras-vati´ genannt, die möglicherweise als Namenspatin des ägyptischen Nil fungierte (´nila´ = blau) und deren Wasser bei Inthronisationsritualen dem König Göttlichkeit verlieh. Ähnliches geschah auch im Kult ihres Spin-offs Anahita. In Persien wurde Sarasvati ´Harah-vati´ genannt und als ein vom Berg ´Hara´ herabfließender Fluss imaginiert, der die Quelle allen irdischen Wassers ist.

(2) die in vor-zoroastrischen Zeiten von den Medern und Persern verehrte elamitische Fruchtbarkeitsgöttin ´Anahiti´ (die Reine), die der sumerisch-akkadischen Ischtar nachgebildet war und wie diese mit dem Planeten Venus assoziiert wurde.

In der persischen Anahita mischen sich also indische und sumerisch-akkadische Gene.

Ihre ausführlichste textliche Darstellung erfährt die Göttin in der Nummer 5 (Aban Yasht) der avestischen Hymnensammlung, die wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 4. Jh. BCE zur Regierungszeit des Artaxerxes II. entstand. In der Hymne erscheint sie als ´Aredevi Sura Anahita´, die ´Fließende mächtige Reine´, wovon der letzte Teil, die ´Reine´, als ihr eigentlicher Name in Gebrauch war. In Armenien hieß sie ´Anahid´, in Arabien ´Anahud´ und in Griechenland ´Anaitis´.

Die Hymne ´Aban Yasht´ beschreibt Anahita in einiger Ausführlichkeit. Ich zitiere dazu die gängige englische Fassung, die mir im Vergleich zu der mir zugänglichen altbackenen deutschen Fassung von Fritz Wolff von 1910 präziser und verständlicher erscheint.

(Ansprache des Lichtgottes Ahura Mazda an den Propheten Zoroaster / Devas = Dämonen)

Ahura Mazda spake unto Spitama Zarathushtra, saying: 'Offer up a sacrifice, O Spitama Zarathushtra! unto this spring of mine, Ardvi Sura Anahita, the wide-expanding and health-giving, who hates the Daevas and obeys the laws of Ahura (...)

Ihre Funktionen bestehen vor allem darin:

(increase = vergrößern, verstärken / fold = Gemeinschaft der Gläubigen, hier: der Anhänger Zoroasters)

... the life-increasing and holy, the herd-increasing and holy, the fold-increasing and holy, the wealth-increasing and holy, the country-increasing and holy...

Dann werden einige Aspekte von Anahitas weltlicher Intervention konkretisiert: das Sperma der Männer und der Uterus der Frauen werden ´gereinigt´, die Schwangerschaft und der Geburtsvorgang erleichtert und die Milchproduktion der weiblichen Brüste optimiert:

Who makes the seed of all males pure, who makes the womb of all females pure for bringing forth, who makes all females bring forth in safety, who puts milk into the breasts of all females in the right measure and the right quality;

In der persischen Avesta-Mythologie wurde der Sarasvati-Mythos um den Berg Hara übernommen und auf Anahita übertragen. Avestisch heißt der Berg ´Hara Berezaiti´, ein Gigant, aus dem alle anderen Berge und Gebirge hervorgehen. Dem Gipfel des Hara entspringt auch alles Wasser der Welt in Form des Flusses ´Aredevi Sura Anahita´ (Fließende mächtige Reine), wovon der letzte Teil, die ´Reine´, der kultisch gebräuchliche Name der Göttin Anahita ist, zu deren Erscheinungsformen dieser Fluss gehört, d.h. sie wird im Avesta mit ihm gleichgesetzt und daneben auch anthropomorph beschrieben (im Avesta, siehe unten) und anthropomorph ikonographiert (in ihren Kulten, siehe unten).

Vom Berg Hara Berezaiti fließt das Wasser in einen See auf dem Berg ´Hukairya´ und nimmt von dort seinen Weg zum See ´Vourukasha´, von wo aus alle Flüsse, Seen und Meere mit Wasser gespeist werden.

The large river, known afar, that is as large as the whole of the waters that run along the earth; that runs powerfully from the height Hukairya down to the sea Vouru-Kasha (etc. etc.)...

An späterer Stelle fährt Anahita in einer von vier weißen Pferden gezogenen Kutsche vom Himmel herab. Dabei bringt sie Kriegern und Königen Weisheit, Ehre und Sieg über ihre Feinde. Mädchen erbitten sich von ihr tapfere Ehemänner und Frauen möglichst sanfte Geburten. Gegen Ende der Hymne wird Anahitas äußere Erscheinung detailliert beschrieben: ein großes, kräftiges und schönes Mädchen mit goldenem Schuhwerk, einem juwelenbesetztem Hemd, einen hochgegürteten Kleid, das ihre Brüste betont ("so that her breasts may be well-shaped, that they may be tightly pressed"), einem Mantel aus dreißig silbern und golden funkelnden Biberfellen und einer strahlenden goldenen Krone auf dem Haupt.

Statuen von Anahita wurden auf Anordnung von Artaxerxes II. in allen urbanen Zentren des persischen Reichs installiert: in Persepolis, Babylon, Bactra, Susa, Damascus, Ecbatana, Sardis usw. Solche anthropomorphen Götterbilder waren zu jener Zeit in Persien eine kultische Revolution und stießen in orthodoxen Kreisen auf Widerstand, konnten vom leidenschaftlichen Anahita-Verehrer Artaxerxes II. aber durchgesetzt werden.

Die von ihm aufgestelllten Statuen sind zwar nicht mehr erhalten, dafür aber Nachbildungen aus der spät-achämenidischen, der parthischen und der sassanitischen Zeit. Die spät-achämenidischen Statuen zeigen die Göttin prunkvoll gewandet mit einer Krone auf dem Haupt und vaginal-mütterlichen Symbolen (Lotusblume / Ring / Blumenkranz / Flasche) oder abstrakt-mütterlichen Symbolen (Taube / Zweig) in der Hand. In der Partherzeit wird Anahita maskulinisiert und als bewaffnete Kriegsgöttin präsentiert, was an Pallas Athene (siehe unten) und an die sumerische Fruchtbarkeitsgöttin Inanna erinnert, die im post-sumerischen akkadischen Reich zur Auch-Kriegsgöttin Ischtar mutiert. Bei den Sassaniten erscheint Anahita ikonographisch wieder in ihrer ursprünglichen Bedeutung als eine den himmlischen Fluss personifizierende Wassergöttin, freilich nur in Reliefgestalt, da der sassanitische Ikonoklasmus freistehende Statuen tabuisiert.

Laut Plutarch fand die Thronbesteigung von Artaxerxes II. in einem Tempel in der Stadt Pasargadae statt (405 BCE). Dieser Tempel war einer Kriegsgöttin geweiht, die Plutarch mit Pallas Athene vergleicht und zweifellos Anahita in ihrer unter den Achämeniden hinzugekommenen kriegerischen Rolle zeigt, die für das Königshaus von hohem funktionalem Wert war und von den Parthern - siehe oben - zu ihrem Kernmerkmal ausgebaut wurde.

Der von Artaxerxes II. in der Stadt Persepolis errichtete Anahita-Tempel war das Zentralheiligtum des persischen Reichs. Er sorgte als erster dafür, dass auf amtlichen Dokumenten der Name des Hauptgottes Ahura Mazda durch die Namen von Anahita und Mithra ergänzt wurde. Artaxerxes´ Konkubine Aspasia wurde auf sein Betreiben eine Priesterin des Anahita-Kultes.

In der Summe kann man sagen, dass unter Artaxerxes II. die Vorstellung der Göttin als natürliche Flussgottheit mit einem ´zivilisierten´ (Krone, Schuhen, Juwelen etc.) und einem kriegerischen Aspekt ergänzt wurde. Hinzu kam in dieser Phase Anahitas Assoziation mit dem Planeten Venus. Beides, das Kriegerische und die Venus-Assoziation, waren seit den Tagen des akkadischen Erobererkönigs Sargon (um 2350 BCE) neben dem Fruchtbarkeitsaspekt Charakteristika der sumerisch-akkadischen Inanna-Ischtar gewesen, die später in Gestalt der elamitischen ´Anahiti´, wie eingangs gezeigt, in die Konzeption der Anahita eingegangen war.

Alle drei Merkmale (fruchtbarkeitstiftende Flussgöttin, zivilisierte Regentin und wilde Kriegerin) gehörten von da an in unterschiedlicher Akzentierung zum Attributenrepertoire der Göttin.

Die in Persepolis errichtete Anahita-Statue wurde um 200 CE, kurz vor der Installation des Sassanitenreichs, von den ikonoklastischen Sassaniten entfernt und durch ein ´heiliges Feuer´ ersetzt, das die Göttin repräsentierte, die nun als ´Anahita des Feuers´ (Adur-Anahid) verehrt wurde. Der Tempel diente den Sassaniten als Schauplatz ihrer Inthronisationsrituale.

Auch im Reich von Armenien mit seiner vom Zoroastrismus geprägten Religiosität war Anahita eine feste Größe. In der Provinz Acilisene - laut Cassius Dio auch ´Anahitakan´ = das Land der Anahita, genannt - stand in der Stadt Erez ein Tempel mit männlichen und weiblichen Sklaven mit dem ´heiligen´ Status von Hierodulen, die sakrale Prostitution im ´Dienst´ der Göttin betrieben (ähnlich wie in manchen Ischtar-Tempeln in Mesopotamien). Laut Strabo gehörten zu ihnen auch Töchter aus den reichsten Familien, die vor ihrer Heirat diesen Dienst zu verrichten hatten. Cicero zufolge war der Tempel der "wohlhabendste" Ort im ganzen Reich. Die dortige goldene Anahita-Statue soll, wie Plinius berichtet, von einem Soldaten aus dem Heer von Marcus Antonius entwendet worden sein (34 oder 36 BCE), wurde vom armenischen König aber wiederhergestellt.

In Griechenland wurde Anahita - dort, wie schon erwähnt, ´Anaitis´ genannt - zumeist mit Artemis, in manchen Fällen auch mit Aphrodite gleichgesetzt (laut Herodot dann mit Namen ´Aphrodite Urania´).
 
Kann man also Anahita als Fruchtbarkeitsgöttin bezeichnen?
Oder als Ableger der Magna Mater der Großen Göttin?
 
Kann man also Anahita als Fruchtbarkeitsgöttin bezeichnen?

Auf jeden Fall, wobei ´Fruchtbarkeit´ hier in einem weiteren Sinn zu verstehen ist: Zum einen ´sorgt´ die Göttin für verbesserte Bedingungen für die Produktion menschlichen ("makes seed ... womb pure for bringing forth") und tierischen Nachwuchses ("herd increasing"), zum andern fördert sie den Wohlstand ("wealth-increasing") und das ´Gedeihen´ der zoroastrischen Gemeinschaft ("fold-increasing"). Ganz allgemein stärkt sie das ´Leben´ ("life-increasing").

Oder als Ableger der Magna Mater der Großen Göttin?

Auch das ist zu bejahen, was aber nicht im Widerspruch zur obigen Antwort steht, da ´Fruchtbarkeitsgöttin´ und ´Magna Mater/Große Göttin´ zwar nicht deckungsgleich sind, sich aber auch nicht ausschließen. Die klassische Magna Mater, Cybele, ist zugleich eine Fruchtbarkeitsgöttin. Andere Beispiele sind die ägyptische Isis und die griechische Demeter. Anahita kann man dazurechnen, erstens weil sie als mythische Mutter des Mithra gilt, d.h. als die Mutter des zoroastrischen Erlösergottes Mithra (= Endsieger über den ´bösen´ Ahriman), zweitens weil sie, wie von mir beschrieben, ikonographische Attribute mit eindeutiger mütterlicher Symbolik aufweist (Lotusblume, Ring, Blumenkranz, Flasche, Taube).

Zum Lotus-Motiv:

Sarasvati, aus der Anahita hauptsächlich hervorgegangen ist, hat gleichfalls einen Sohn vorzuweisen (den ´heiligen Sänger´ Sarasvata), was sie noch nicht zur typischen Muttergöttin macht. Die hinduistische Ikonographie bringt sie allerdings häufig mit der Lotusblume in Verbindung, was klar auf ihren muttergöttlichen Nimbus hinweist. Sie gilt als Verkörperung der Mahadevi, der ´Großen Göttin´, die ursprünglich alles Leben hervorbringt, hierin vergleichbar den ägyptischen Göttinnen Mut und (teilweise) Hathor und Isis sowie der sumerischen Ninhursag, die als ´Mutter allen Lebens´ vermutlich das Modell für die gleichfalls so attribuierte Eva in Gen 3:20 abgab. Auch die indische Muttergöttin Parvati wird mit dem Lotus assoziiert. Gott Brahma wird in einem Mythos aus einer Lotusblüte geboren. In der buddhistischen Mythologie werden Mutterleib und Lotus metaphorisch identifiziert, so ist z.B. vom ´padma-garbha´ die Rede, dem Lotus-Mutterleib, und im japanischen Buddhismus vom ´padma-garbha-lokadathu´, der Lotus-Mutterleib-Welt. Ein ägyptischer Mythos zeigt Sonnengott Re ähnlich wie Brahma aus einem Lotus geboren, in einem anderen Mythos sitzt Himmelsgott Horus als Baby auf einem Lotus. Die Muttergöttin Isis wurde gerne mit blauen Lotusblüten dargestellt. In Palästina hält die Göttin Quadesh einen Lotus in der Hand als Symbol der Regeneration des Lebens.
 
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Hallo @Chan, an deinen Gleichsetzungen sieht man gut, dass du dich mit der Vergleichenden Mythologie beschäftigst. Mach ich auch. An der Herleitung über Sarasvati, als „weibliche Kraft“ Brahmas, des personifizierten Schöpfungsprinzips, nimmt man auch die Spur zu einem Urschöpfungsmythos auf, der mit der Erschaffung von Manus kosmischen Weltenei begann. Es bestand aus einer männlichen und weiblichen Hälfte, wobei sich die weibliche Hälfte sicher mit Sarasvati gleichsetzen lässt.
Ein nicht unerheblicher Punkt ist auch die Benennung eines ehemaligen indischen Flusses mit ihren Namen, der mit anderen zu den heiligen Flüssen Indiens gehörte. An diesen Flüssen werden bis heute Reinigungsrituale abgehalten, was insgesamt die Aussage zulässt, dass der Urschöpfungsmythos eng mit der Reinigung von Wasser verknüpft ist.
 
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