jschmidt
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Ein Argument, das für eine sinnvolle militärische Operation sprechen würde, ist, dass die Militärs den Krieg ja als noch lange nicht verloren ansahen (siehe auch die Dolchstoßlegende) und es deshalb auch keinen Sinn machen würde, die vollkommen intakte Hochseeflotte zu opfern.
Man sollte sich die Chronologie der Ereignisse genau vergegenwärtigen: Die OHL hatte am 29.09.1918 erklärt, der Krieg wäre verloren und man müsse einen Waffenstillstand anbahnen; daran erinnert sich auch Wilhelm II. (Ereignisse und Gestalten, S. 234). Seitdem war "Abwicklung" angesagt bzw. die Frage, was dazu zu tun ist. Dem Gegner den Sieg so kostspielig wie möglich machen? Ihm gar noch 5 vor 12 die Lust am Siegen nehmen? Oder: den Millionen Opfern eines verlorenen Krieges nicht noch weitere hinfügen?Jeder weitere Verlust im Herbst 1918 war vor dem Hintergrund der unabwendbar aufziehenden, totalen Niederlage des Deutschen Reiches eine militärisch und politisch völlig sinnlose Opferung...
Ein weites Thema also, das ich so einschätze wie silesia. Rational urteilende Soldaten und Politiker wussten das im Oktober 1918 auch und waren imstande, Konsequenzen daraus zu ziehen. [1]
Im Zusammenhang mit Begriffen wie "Opfer" und "Ehre", auf die noch gesondert einzugehen wäre, halte ich noch die Frage für wichtig, inwieweit die geplante Aktion von der Marineleitung mit der politischen Reichsleitung einerseits, mit der Obersten Heeresleitung andererseits abgestimmt war. Bekanntlich hat Reichskanzler Max von Baden vor dem Untersuchungsausschuss dargelegt, er zumindest sei nicht informiert gewesen (zitiert nach Simsa, S.277).
Es [der Operationsbefehl vom 24.10.1918] war also ein gut durchdachter und durchaus aussichtsvoller Operationsplan. ... Ein Risiko war es allemal!
...dass Militärs aller Länder ebenfalls überwiegend die Meinung von Köbis17 vertreten. War die Aktion aussichtsreich, so war sie eben aussichtsreich ...
Es versteht sich von selbst, dass die Meinungen zu den Erfolgsaussichten geteilt sind. Aber vielleicht sollte man - silesias grundsätzliche Skepsis gegenüber der Spekulation kurz beiseite gelassen - etwas Zeit darauf verwenden, zu klären, worin denn - auf der Basis der gegebenen Kräfterelationen und der militärischen Situation insgesamt - die "Aussicht" genau bestand. Da entsprechende Aussagen von "Militärs aller Länder" zur Verfügung stehen (admiral), dürfte das kein Problem sein.Wozu sollte dann diese Aktion vor dem Hintergrund der militärischen Gesamtlage dienen ...?
Ich frage auch vor dem Hintergrund einer schriftlichen Äußerung Admiral Scheers nach der Skagerrakschlacht: Seines Erachtens werde "selbst der glücklichste Ausgang einer Hochseeschlacht England in diesem Kriege nicht zum Frieden zwingen ... auch nicht, wenn die Unterseeboote für militärische Zwecke voll verfügbar sind" (zitiert nach Simsa, Marine intern, S. 279).
Vizeadmiral a.D. Galster hat in seiner schriftlichen Äußerung zum "Einsetzen der Hochseeflotte im Oktober 1918" (Ursachen..., 4. Reihe, Bd. 10/I, S. 357 ff.) hierzu Stellung genommen und kommt zum Ergebnis, dass die Lage 1918 deutlich schlechter war als 1916, und zwar nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ, d. h. es wäre den Briten binnen zweier Jahre gelungen, bestimmte Mängel abzustellen; er bestätigt ausdrücklich die Auffassung von Schoultz, "daß die Engländer von den Erfahrungen der Skagerrakschlacht mehr Nutzen gehabt haben als die deutsche Marine" (S. 366).Auf der anderen Seite könnte man auch unterstellen, dass das Marine-Oberkommando die Seeschlacht im Skagerrak sorgfältig analysiert hatte und dann nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss kam, dass die Erfolgschancen und Randbedingungen der Operation im Oktober 1918 sehr viel günstiger wären als 1916.
[1] Ich bitte diesen Satz als Reflex auf eine bedrückende Lektüre zu verstehen: Andreas Kunz (Wehrmacht und Niederlage. Die bewaffnete Macht in der Endphase der nationalsozialistischen Herrschaft 1944-1945, München: Oldenbourg 2005) zeigt, wie weit irrationales Denken nicht nur bei Hitler, sondern auch bei vielen seiner Generale vorherrschte, was dazu führte, dass im letzten Kriegsjahr mehr deutsche Soldaten starben als in den gesamten vorhergehenden Kriegsjahren.