"Dreigliederung": Anthroposophie als Politik

Maglor

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Die esoterische Weltanschauung "Anthroposophie" wurde um 1900 von Rudolf Steiner entwickelt. Heute ist sie vor allem als ideologischer Hintergrund der Waldorf-Pädagogik und der biologischen Landwirtschaft bekannt. Dass Steiner auch einen Entwurf zu einer neuen Politik vorgelegt hat, ist weitgehend vergessen.

1917 legte Steiner seines politischen Entwurf "Die Dreigliederung des sozialen Organismus" vor. 1919/1920 folte sein "Aufruf an das deutsche Volk und an die Kulturwelt", der unter anderem von Hermann Hesse und dem Pädagogen Paul Natorp unterzeichnet wurde, quasi als Gegenentwurf zur Weimarer Republik.

Grundgedanke der Dreigliederung soll die Trennung der Bereiche Politik, Wirtschaft und Kultur sein. Die Politik solle lediglich die rechtlichen Grundlagen bilden. Wirtschaft und Kultur sollen sich selbst verwalten, gleichzeitig sollen aber Geld und Grundeigentum abgeschafft werden.

Nun zu meiner eigentlichen Fragen. Wie ist die politische Anthroposophie politisch einzuschätzen? In welchem Verhältnis steht sie zu Demokratie, Liberalismus und Sozialismus?

Basis meiner Überlegungen war der Artikel zum Thema "Anthroposphie" von Norbert Schwarte in Kerbs/Releucke (Hrsg.) "Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 - 1933", Peter Hammer Verlag, Wuppertal, 1998.
Norbert Schwarte ist aber selbst Waldorfpädagoge.

Schwarte sieht Steiners politische Ideologie eher unkritsch bzw. nimmt nicht einmal eine politische Wertung ein.
Dass Hesse und Natorp seine Erklärung mitunterzeichnet haben, scheint die Seriösität des Anliegens zu unterstreichen. Ich bin aber ganz anderer Meinung.

Hermann Hesse kenne ich als schwärmerischen Autor mit bevorzugt esoterischen Themen und schwärmerischen Utopien - soweit die Belletristik.

Natorp legte 1920 mit seinem "Sozialidealismus" seinen eigene antidemokratischer Gegenentwurf zu Parlamentarismus und Rätesystem. An der Spitze des Staates solle ein "Führer" stehen. Das Mehrparteiensystem solle abgeschafft werden. Inwieweit Natorps Sozialidealismus mit der Anthroposophie in Zusammenhang steht ist mir unbekannt. Im Buch selbst zitiert Natorp aber Steiner an keiner Stelle.

Leider habe ich sonst kaum aussagekräftiges zur Bedeutung der Anthroposopgie als politische Lehre der Dreigliederung gefunden.
Der Diskurs wird von Anhängern und Sympathisanten der Anthroposophie dominiert. In der spärlichen Gegenrede wird gleich das Kind mit dem Bade aus und auf die enge ideengeschichtliche Verwandtschaft mit der Theosophie von "Helena Petrovna Blavatsky" verwiesen, insbesondere auf ihr Konstrukt der Wurzelrassen, oder gleich auf völkische Spielart der Theosophie die Ariosophie, die als esoterischer Vorbote der NS-Weltanschauung gelten kann.

Dass die Anthroposophie ein Form von Esoterik ist, ist trivial. Mir geht es darum, was die Anthroposophie damals politisch bedeutet hat, als sie noch politisch gemeint war.
 
Am wenigsten nebulös scheint mir Steiners "Erstes Memorandum" von 1917 formuliert zu sein, meines Wissens die erste politische Schrift, die den Grundgedanken der Dreigliederung ausführt:

GA024 - Seite 341

Es richtete sich an führende Politiker Österreich-Ungarns, denen er u. a. verheißt:

"Die politischen Gebilde Europas könnten sich so auf Grundlage eines gesunden Konservativismus entwickeln, der nie auf Zerstückelung Österreichs, sondern höchstens auf seine Ausdehnung bedacht sein kann." (S. 353)

Zu Steiners Ansichten über Demokratie siehe vor allem die Seiten 350-353.
 
Zanders historiographische Darstellung verwendet fast 100 Seiten (von 1900) auf diese Fragen. Das Werk wird natürlich von Steiner-Anhängern - wie üblich und wenig überraschend bei solchen weltanschaulichen Diskussionen ohne empirische oder methodische Substanz - völlig verrissen (einen Vorgeschmack bekommt man im Internet unter "Zander-Zitate").

Helmut Zander, Anthroposophie in Deutschland - Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945

Dabei ist das noch eine recht gemäßigte Darstellung von Steiners Ausflüge in die Politische Ökonomie. Man kann zu seinen Wurzeln und dem Kontext seiner Vorstellungen - in denen sich politisch-ökonomische Vorstellungen nur spiegeln - auch weiter gehen und schärfer zupacken:

Peter Staudenmaier: Race and Redemption - Racial and Ethnic Evolution in Rudolf Steiner’s Anthroposophy bzw.
derselbe, Between occultism and Nazism : anthroposophy and the politics of race in the fascist era
 
Zanders historiographische Darstellung verwendet fast 100 Seiten (von 1900) auf diese Fragen.

Hier online nachzulesen:
https://de.scribd.com/doc/101180658/Zander-Helmut-Anthroposophie-in-Deutschland-Band-2


Das Werk wird natürlich von Steiner-Anhängern - wie üblich und wenig überraschend bei solchen weltanschaulichen Diskussionen ohne empirische oder methodische Substanz - völlig verrissen (einen Vorgeschmack bekommt man im Internet unter "Zander-Zitate").

Eine (auf den ersten Blick "fair" erscheinende) Rezension des Werks durch einen Anthropologen ist hier zu finden:
Rezension zu: H. Zander: Anthroposophie in Deutschland | H-Soz-Kult. Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften

Kleine Stichprobe:

Aber es finden sich auch echte Schnitzer, die das Vertrauen in die Gediegenheit der Arbeit untergraben können: Im Eifer seiner Kritik an Steiner wird so beispielsweise aus einer Stelle in einem Steiner-Vortrag, bei der Steiner seine Mitarbeiter anprangert, dass sie „verlogen“ vorgehen würden, durch Auslassung so zitiert, als ob Steiner seine Mitarbeiter anregen würde, in dieser ‚verlogenen’ Weise vorzugehen.
...
Vgl.: Zitat Steiner wie bei Zander S. 1187: „Wenn die Leute zuerst Eurythmie sehen und nichts hören von Anthroposophie, da gefällt ihnen die Eurythmie. Dann vielleicht kommen sie später, und weil ihnen die Eurythmie gefallen hat und sie erfahren, dass hinter der Eurythmie die Anthroposophie steht, dann gefällt ihnen die Anthroposophie auch.“ Der entsprechende Passus ist aber gerahmt von Steiners Aussage einleitend: „Man wird nicht sagen: Wenn die Leute zuerst Eurythmie sehen […]“ und Steiner endet mit den Worten: „Wir müssen den Mut haben, solch ein Vorgehen verlogen zu finden.“ Also eine vollständige Umkehrung des Sinnes.
Mit derselben Zielrichtung, aber gröberem Kaliber:

Zander zitiert eine Aussage Steiners über die Bewegungskunst Eurythmie und unterstellt ihm darin eine geheime Werbestrategie für die Anthroposophie: "... wenn die Leute Eurythmie zuerst sehen und nichts hören von Anthroposophie, da gefällt ihnen die Eurythmie. Dann vielleicht kommen sie später, und weil ihnen die Eurythmie gefallen hat und sie erfahren, daß hinter der Eurythmie die Anthroposophie steht, dann gefällt ihnen die Anthroposophie auch." (Ebenda, S. 278, zit. Zander S. 1187) Steiners Aussage lautet aber im Vortragskontext: "Man wird nicht sagen: ... wenn die Leute zuerst Eurythmie sehen, ... dann kommen sie später ... [auch zur] Anthroposophie ... Oder: man muß den Leuten zuerst die Praxis der Heilmittel zeigen, ... dann werden die Leute das kaufen [Und wenn...] sie später einmal erfahren, da stecke die Anthroposophie dahinter, ... dann werden sie auch da an die Anthroposophie herankommen. Wir müssen den Mut haben, solch' ein Vorgehen verlogen zu finden. Erst wenn wir den Mut haben, solch ein Vorgehen verlogen zu finden, es innerlich verabscheuen, dann wird die Anthroposophie ihren Weg durch die Welt finden." (Ebenda, S. 278f., Hervorhebung R. U.). Das, was Steiner als ein verlogenes Vorgehen darstellt, um davor abzuraten, genau das stellt Zander als die Verlogenheit Steiners dar und arbeitet als Kontextualisierer aufgrund derartig dekontextualisierter Sinnverdrehung selbst methodisch verlogen.
Rahel Uhlenhoff, Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart


Die Vorwürfe sind mir absolut unverständlich, wenn ich mir die angegebene Seite bei Zander ansehe:

1. Zander zitiert den einleitenden Passus "Man wird nicht sagen..." - Schmidt hat also das bei Zander stehende Zitat verkürzt und die eigene Auslassung Zander in die Schuhe geschoben.

2. Zander unterstellt Steiner keine geheime Werbestrategie, das Wort "verlogen" taucht in dem Zusammenhang nicht auf.

3. Zander benutzt das Zitat im Gegenteil als Beleg dafür, dass Steiner sich gegen die Eurythmie als Einstiegshilfe ausgesprochen habe.

Und das lese ich bei Zander:

Andererseits konnte sich Steiner auch gegen die Eurythmie als pragmatische Einstiegshilfe in Anthroposophie aussprechen:
"Man wird nicht sagen: ... Wenn die Leute zuerst Eurythmie sehen und nichts hören von Anthroposophie, da gefällt ihnen die Eurythmie. Dann vielleicht kommen sie später, und weil ihnen die Eurythmie gefallen hat und sie erfahren, dass hinter der Eurythmie die Anthroposophie steht, dann gefällt ihnen die Anthroposophie auch." (GA 260,278f. [1.1.1924]).​
https://de.scribd.com/doc/101180658/Zander-Helmut-Anthroposophie-in-Deutschland-Band-2
 
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