Einführung in die Genealogie

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Schini

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Genealogie

Die Genealogie zählt zu den klassischen historischen Hilfswissenschaften der Geschichtswissenschaft und beschäftigt als Forschungsgegenstand die Menschen wohl schon seit Jahrtausenden. Neben Raum (historische Geographie) und Zeit (Chronologie) tritt der Mensch in seiner Abstammung, seiner Nachkommenschaft und seinen verwandtschaftlichen Beziehungen als Träger der Geschichte auf. Die Genealogie grenzt sich von der Bevölkerungsgeschichte – der Erforschung der zahlenmäßigen und sozialen Entwicklung und Zusammensetzung einer Bevölkerung – der Volksgeschichte – der genetischen, sprachlichen und ständischen Verhältnisse und Veränderungen eines „Volkes“ und der Personengeschichte (Biographik) ab.

Die Genealogie bezieht sich auf die familienmäßigen, biologischen Zusammenhänge zwischen Menschen, jedoch nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck der historischen Forschung. Damit grenzt sie sich auch von der „Familiengeschichte“ ab, obwohl beide Begriffe oft synonym gebraucht werden und letztere Methoden der Genealogie entlehnt.

Genealogie ist die „Wissenschaft von den auf Abstammung beruhenden Zusammenhängen von Menschen“; damit werden sowohl die individualistischen, als auch die gentizilistischen Abstammungsverhältnisse erfasst. Dabei kann wiederum zwischen theoretischer Genealogie – die Erforschung der Regeln genealogischen Geschehens – und darstellender Genealogie – Betrachtung der Abstammungsverhältnisse und verwandtschaftlicher Gruppierungen von einzelnen oder einer Reihe von Individuen – unterschieden werden.

Verfahrensweisen

Grundsätzlich können zwei Stoßrichtungen der Untersuchung unterschieden werden:

  • Die zeitlich rückwärts schreitende Erforschung der Vorfahrenschaft und die Erstellung einer Ahnentafel („Aszendenz“).
  • Die zeitlich vorwärts schreitende Untersuchung der Nachfahrenschaft und die Erstellung von Nachfahrentafeln oder Stammtafeln („Deszendenz“). Der umgangssprachliche Begriff des Stammbaums dürfte deshalb nur für Nachfahrentafeln verwendet werden.
Zu diesem Zweck werden biologisch-soziologische Tatbestände erforscht, dh. die biologisch und oft auch rechtliche Paarung von Männern und Frauen, die jeweils aus einer eigenen Abstammungsgemeinschaft stammen. Dabei kann für jeden Menschen sowohl die agnatische Verwandtschaft über den Mannesstamm, als auch die kognatische Verwandschaft seine weiblichen Vorfahren ermittelt werden.

Formen der Ahnentafel

Basierend auf der biologischen Tatsache, dass zu jedem Menschen zwei Elternpersonen gehören, wird die daraus ersichtliche Dreiergruppe (Vater, Mutter, Kind) als „genealogische Einheit“ bezeichnet, in der sich alle genealogischen Linien vereinen. Zudem wird dadurch der mathematisch-symetrische Aufbau der Ahnentafel begründet:

  • Generation = 1 Person
  • Generation = Eltern = 21 = 2 Personen
  • Generation = Großeltern = 2² = 4 Personen
  • Generation = Urgroßeltern = 2³ = 8 Personen
  • Generation = Ururgroßeltern = 24 = 16 Personen
  • Generation = Urururgroßeltern = 25 = 32 Personen
  • Generation = Ururururgroßeltern = 26 = 64 Personen etc.
Bei einer angenommenen Durchschnittsdauer einer Generation von 30 Jahren lebten die Vorfahren eines heute lebenden Erwachsenen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Bis dorthin ist auch eine Ermittlung der Vorfahren für mittlere und untere soziale Schichten realistisch. Die historisch führenden Schichten des Adels können dagegen oft bis in die 12. Generation und länger verfolgt werden. Doch selbst dort ist keine Vollständigkeit der Ahnentafel garantiert, da nicht ebenbürtige Ehen zu „dunklen Stellen“, dh. Lücken führen können.

Historisch gesehen hatte die Erforschung der eigenen Abstammung rechtliche und praktische Gründe. So konnten über den Nachweis einer Ahnenreihe (= nicht vollständige Ahnentafel) dynastische Ansprüche geltend gemacht werden und durch den Nachweis einer Abstammung von 4, 8 oder 16 Adeligen in der Ahnentafel Zugang zu bestimmten Stellen (Domkapitel, Ritterorden etc.) erlangt werden. Der im Mittelalter herrschende Mangel an urkundlicher Dokumentation wurde durch die Ahnenprobe – eine eidliche Aussage von standesgleichen Zeugen des Probanden (Aufschwörung) – ausgeglichen.

Ahnenverlust

Die mathematische Progression der Ahnentafel führt zu einer theoretisch unendlichen Anzahl von Vorfahren, sodass unsere 39. Generation – die etwa zur Zeit Karls des Großen lebte – aus mehr als 250 Milliarden Personen bestehen müsste. Dieses Paradoxon wird durch den Ahnenverlust oder die Ahnengleichheit aufgelöst, dh. durch eine mehr oder minder große Anzahl von Verwandtschaftsehen innerhalb einer Ahnentafel. Je weiter zurück man in der Ahnentafel geht, desto häufiger tritt eine Ahnengleichheit auf.

Die Höhe des Ahnenverlustes wird durch sozialgeschichtliche Voraussetzungen beeinflusst: So gab es rechtlich-gesellschaftliche Standesrücksichten, landschaftliche Gründe, oder volkliche und religiöse Erwartungen, welche die individuelle Partnerwahl beschränkten. Besonders augenscheinlich ist dies bei Personen des Hochadels; so hatte der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand nur 1508 verschiedene Personen in seiner Ahnentafel bis zur 12. Generation statt der theoretisch möglichen Anzahl von 8190. Die mehrfache Abstammung von einer Person hat zudem eine große biologische und (erb-)rechtliche Bedeutung (Bsp: Königin Viktoria von England und die Bluterkrankheit).

Abstammungsreihen

Der Nachweis der Abstammung von Karl dem Großen erfreut sich seit Generationen großer Beliebtheit und ist prinzipiell nicht schwer zu ermitteln. Historiker können an ihr sozialgeschichtliche Entwicklungen zu erkennen, wie die allmähliche Auflösung des mittelalterlichen Ebenbürtigkeitsdenkens in der zunehmenden Vermischung von hohem und niederem Adel ab dem 16. Jahrhundert.

In einer vater- und mannesrechtlichen Kultur ist das Manneserbe und die Vaterreihe von besonderer historischer Bedeutung, die durch Rechtsvorschriften, Erziehung und Umwelt noch zusätzlich betont wird, selbst wenn der biologische Anteil der Ahnenlinie verschwindend gering ist.

Im Gegensatz zur Erforschung der Vorfahren ist die Ermittlung der Dezendenten von nachrangiger Bedeutung, wiewohl sie für einige Fragestellungen sehr nützlich sein kann. Hier ist die Stammtafel von besonderem Interesse, dh. die Auflistung aller Träger des Familiennamens in einer Generation einschließlich der weiblichen Angehörigen, wobei deren Nachkommenschaft anders als die der Söhne nicht mehr weiter verfolgt wird. Die Stammtafel versagt allerdings, wo die „salische Erbfolge“ des Mannesstamms durchbrochen wird.
Eine eigene Form der genealogischen Darstellung sind Konsanguinitäts- und Verwandtschaftstafeln, die sämtliche Vorfahren und Nachfahren einer oder mehrerer Personen vereinen. Diese können aus Platzgründen natürlich nicht vollständig sein, sind aber bei der Feststellung gewisser Begabungen oder Berufe innerhalb einer Familie dienlich.

(gekürzt aus: Ahasver v. Brandt: Werkzeug des Historikers, 16. Auflage, Stuttgart 2003, S. 39-46)

Stammtafeln im Internet:
Genealogy.eu
Genealogie Mittelalter
 
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