Ethnogenese der Deutschen.

Meinungsbildend - ja, das ist die Bild leider Gottes - und seriös sind zwei verschiedene Paar Schuh. Die Zeitung, über die wir hier reden setzt allgemein eher auf negative Emotion denn auf sachlich ausgewogene Information. In meiner Kindheit kannte man noch dieses Bonmot:

Mann drehte Frau durch den Fleischwolf, Bild sprach zuerst mit der Frikadelle.​

Nun verstehe ich nicht ganz, wieso du dich nun von genetischen Studien auf die Verteidigung dieses Revolverblatts verlegt hast. Aber das muss ich auch nicht verstehen, die Erklärung dafür trägt zum Thema wohl kaum etwas bei.

Ich würde aber trotzdem gerne wissen, ob du überhaupt - bei der Schlagzahl deiner Links - dir vorher die Zeit genommen hast, diese überhaupt zu lesen und inhaltlich zu durchdringen. Wie gesagt: Linkschlacht kann jeder und kopiert ist nicht kapiert. Das führt also zu nichts.

Ein rein psychologischer Tipp: Wenn du Leute von etwas überzeugen möchtest, dann hau ihnen nicht ungelesen Link um Link um die Ohren, sondern gehe auf ihre Argumente ein und öffne dich für diese.
 
Vielleicht reden wir ja aneinander vorbei, aber die Straßburger Eide belegen die Übernahme des romanischen Idioms durch die Franken; sie belegen nicht die Verzögerung dieser Übernahme (die ich allerdings auch nicht in Abrede stellen will, schließlich befinden wir uns nicht etwa in der Merowinger- sondern in der bereits fortgeschrittenen Karolingerzeit).

Ja, da hab ich mich ein wenig verhaspelt. Was ich meinte war, dass etwa bis zum IX. Jhd., also dem Zeitpunkt der Eide, der fränkische Adel germanisch sprach (Karl d. G. sprach fränkisch; bei seinem Sohn Ludwig bin ich mir nicht mehr sicher).

Sprache und Ethnie sind definitiv nicht äquivalent.

Das habe ich auch nicht gesagt. Ich schrieb dass man zwei verschiedene Völker (unter anderem) durch die Sprache voneinander unterscheiden kann.

Jedenfalls gab es die germanische Sprache vor den Germanen.

Das ergibt keinen Sinn. Eine Sprache gibt es nur im Zusammenhang mit:
1. einem Volk, das diese Sprache spricht (und sie an spätere Generationen weitergibt);
2. aus dieser Sprachwelt hervorgehenden materiellen und geistigen, charakteristischen Errungenschaften (= kulturellen Manifestationen), die sich archäologisch oder schriftlich nach- bzw. zuweisen lassen.

Warum sich die Germanen erst zur Zeit Caesars (oder gar danach) als einem gemeinsamen Ethnos zugehörig gefühlt haben sollen, obwohl ein solcher Ethnos schon Jahrhunderte zuvor archäologisch nachweisbar ist, erschliesst sich mir nicht. Klar war der Stamm erstmal identitätsstiftend, aber ist es anachronistisch zu vermuten, dass sich zwei Stämme, die sehr ähnliche Sprache, Götter und Bräuche aufwiesen, sich auch als blutsverwandt ansahen?

Englischsprachige Völker bilden keine Ethnie. Spanischsprachige auch nicht. Semitischsprachige auch nicht. Slawischsprachige auch nicht. Und germanischsprachige ebenso nicht.

Sprache ist eine Bedingung für eine gemeinsame ethnische Zugehörigkeit, aber nicht die einzige.
Erst in Verbindung mit den (von mir bereits erwähnten) geistigen und historisch-materiellen Erzeugnissen einer spezifischen Kultur, kann man ein Volk auch als solches bezeichnen.

Auch Abstammung und Ethnizität sind zwei verschiedene Dinge. Ein Volk setzt sich nicht aus Bestandteilen von Volk a, Volk b, ... , Volk n zusammen.

Ich bin nicht sicher, ob ich das richtig verstehe. Ein Ethnos wie z. B. das japanische Volk setzt sich aus genetisch identifizierbaren Elementen zusammen, wie etwa der Jomôn-Kultur, den (mehrheitlichen) Yamato und den Ainû. Diesen Anteil kann man auch prozentual einschätzen.
Und natürlich ist in der japanischen Ethnogenese das Element Yamato wichtiger, als das Element Ainû.


Und um es nochmals deutlich zu sagen: Als der Begriff 'deutsch' aufkam und schließlich zu einem Ethnonym wurde, gab es keinen germanischen Großstamm.

Völlig richtig. Einen solchen Großstamm gibt es auch heute nicht; trotzdem reden wir sowohl bei Isländisch als auch bei Niederländisch von germanischen Sprachen.
In archäologischer Hinsicht gibt es ab dem VI. Jhd. v. Chr. (z. B. Jastorfkultur) Hinweise auf eine gemeinsame materielle Kultur, die wir als germanisch bezeichnen können.

Es gab Franken, Alemannen/Schwaben, Bayern, Thüringer, Sachsen und Friesen. In einem Prozess der Ethnogenese entwickelte sich aus diesen aufgrund der gemeinsamen Abgrenzung zu den Nachbarn die deutsche Ethnie

Die Abgrenzung zu den Nachbarn gab es aber schon vor Caesar.
Ich weiss ja nicht, wann du die Entstehung der deutschen Ethnie ansetzt, aber es stellt sich doch die Frage, warum du sie später vermutest als die Entstehung der "germanischen" Völker.

Wenn der entscheidende Punkt die Abgrenzung zu den Nachbarn ist, dann kann man die deutsche Ethnogenese genauso gut in der Bronzezeit ansiedeln.
 
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Der Bildzeitung glauben viele, weil sie sehr viele Sachen vereinfacht. Quasi Populismus pur. Und gerade Wissenschaftliche Sachen, gerade Fachgebietübergreifende Sachen, lassen sich nicht vereinfachen.

Warum Politiker Bild lesen? Frei nach dem alten Fritz, um dem "Volk" aufs Maul zu schauen. Aber wenn du dich auf die Bild allein verlässt bist Du verlassen. Nicht umsonst werden bei den Pressespiegeln der Ministerien von allen großen Zeitungen Artikel eingebracht. Die FAZ z.B. sieht einen Sachverhalt meist anders als die SZ, und beide Artikel zu einem Thema kommen in den Pressespiegel, der im Umlauf ist.
Und wie gesagt, man sollte sich, um sich ein Bild zu machen mehrere Quellen angucken, da eine Sache immer mehrere Sichtachsen.
 
Schade daß bei diesem eigentlich hochspannenden Thema soviel Ideologie in die Diskussion einfließt...

... und so wenig Wissen.

In Frankreich z. B. besteht die heutige Bevölkerung genetisch gesehen zum Großteil aus vor-indoeuropäischen Populationen (Basken, Liguren, usw., wobei letztere vllt. Teil einer älteren indo-europäischen Migrationswelle waren); renommierte Demographen wie Jacques Dupâquier gehen davon aus, daß die Indo-Europäer nach Abschluß ihrer (zumindest teilweise kriegerischen) (Ein-)Wanderungen in Gallien zwischen 1400 und 1100 v. Chr. lediglich 10 % der Gesamtbevölkerung stellten.

Der Mann ist hochbetagt 2010 verstorben. Weiß nicht, auf welche Daten er seine Schätzung gestützt hat. 2015 kam die wegweisende Veröffentlichung von Haak et al., Massive migration from the steppe was a source for Indo-European languages in Europe, Nature doi: 10.1038/nature14317. Für die heutige französische Bevölkerung wird ein Jamnaja-Anteil von ca. 40% angenommen, s. dort Figure 3: Admixture proportions, die damit zwischen Engländern und Nordspaniern liegt.

Was Deutschland betrifft, so wurde soweit ich weiß auch der Bereich zwischen Rhein und Elbe von Indo-Europäern »keltisiert«, vermutlich noch etwas früher als Gallien, da die IE bekanntlich aus dem Osten kamen.
Die Frage ist halt, ob
1. die einheimische neolithische Urbevölkerung von den IE verdrängt oder ausgelöscht wurde;
2. eine Akkulturation der Einheimischen durch die IE stattfand.
Später wanderten dann andere Indo-Europäer, die wir aus konventionnellen Gründen Germanen nennen, aus Skandinavien (?) ein und verdrängten die ansässige, nunmehr keltische oder keltisierte Bevölkerung, bzw. sogen sie auf.

Liege ich da entfernt richtig?

Naja, Mitteleuropa wurde weder von Indoeuropäern keltisiert noch von Kelten indoeuropäisiert. Was wir unter den historischen Kelten verstehen, formierte sich erst lange nach der Einwanderung aus der Steppe im südlichen Mitteleuropa aus der ansässigen vermischten Bevölkerung (Steppe, Neolithiker, Jäger-Sammler), die indoeuropäische Dialekte sprach. Die Germanen wanderten auch nicht aus Skandinavien nach Mitteleuropa ein, sondern formierten sich u.a. im nördlichen Mitteleuropa (der Ortsnamenforscher Jürgen Udolph geht sogar davon aus, dass Germanisch in Skandinavien sekundär ist).

Wenn ja, müsste es doch irgendwo seriösere Quellen als Igenea geben, die sich mit dem Thema befassen.

Ja, zahlreiche Fachartikel von seriösen Wissenschaftlern, z.B. David Reich.
 
2015 kam die wegweisende Veröffentlichung von Haak et al., Massive migration from the steppe was a source for Indo-European languages in Europe, Nature doi: 10.1038/nature14317. Für die heutige französische Bevölkerung wird ein Jamnaja-Anteil von ca. 40% angenommen, s. dort Figure 3: Admixture proportions, die damit zwischen Engländern und Nordspaniern liegt.

Interessant! Danke für die Info. Wobei offen bleibt, ob der indigene (neolithische) Anteil im späteren Zeitverlauf bei 60% verharrte oder sich verringerte.

Naja, Mitteleuropa wurde weder von Indoeuropäern keltisiert noch von Kelten indoeuropäisiert. Was wir unter den historischen Kelten verstehen, formierte sich erst lange nach der Einwanderung aus der Steppe im südlichen Mitteleuropa aus der ansässigen vermischten Bevölkerung (Steppe, Neolithiker, Jäger-Sammler), die indoeuropäische Dialekte sprach.

Nun ja, danke für die sicher wichtigen Nuancen, aber das ändert nichts an der Aussage, dass es die (Nachkommen der) Indoeuropäer waren, die Mitteleuropa keltisierten.

Die Germanen wanderten auch nicht aus Skandinavien nach Mitteleuropa ein, sondern formierten sich u.a. im nördlichen Mitteleuropa (der Ortsnamenforscher Jürgen Udolph geht sogar davon aus, dass Germanisch in Skandinavien sekundär ist).

Wenn ich das richtig verstehe erfolgte die germanische Migration also genau umgekehrt: von Nordmitteleuropa nach Skandinavien?
 
Warum sich die Germanen erst zur Zeit Caesars (oder gar danach) als einem gemeinsamen Ethnos zugehörig gefühlt haben sollen, obwohl ein solcher Ethnos schon Jahrhunderte zuvor archäologisch nachweisbar ist, erschliesst sich mir nicht. Klar war der Stamm erstmal identitätsstiftend, aber ist es anachronistisch zu vermuten, dass sich zwei Stämme, die sehr ähnliche Sprache, Götter und Bräuche aufwiesen, sich auch als blutsverwandt ansahen?

...Völlig richtig. Einen solchen Großstamm gibt es auch heute nicht; trotzdem reden wir sowohl bei Isländisch als auch bei Niederländisch von germanischen Sprachen.
In archäologischer Hinsicht gibt es ab dem VI. Jhd. v. Chr. (z. B. Jastorfkultur) Hinweise auf eine gemeinsame materielle Kultur, die wir als germanisch bezeichnen können.

Dazu ein Zitat von Jörg Jarnut:
"Wie verhält es sich nun mit der Selbstwahrnehmung germanischsprachiger Großgruppen? Verstanden sich etwa die Goten des 4. Jahrhunderts als Bestandteile einer größeren Einheit, vielleicht also auch der der ‚Germanen‘? Generationen von germanophilen Historikern und Germanisten haben in den freilich lateinischen und griechischen Quellen verzweifelt, aber völlig vergeblich nach derartigen Zeugnissen gesucht.
Es gibt sie einfach nicht......
Ziehen wir ein erstes Resümee: Obwohl der umfassende Germanenbegriff der germanischen Altertumswissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts weder in der Völkerwanderungszeit noch im frühen Mittelalter
belegt ist, wird er bis heute als Sammelbezeichnung für verschiedene gentile Großgruppen, die zumindest ursprünglich ein germanisches Idiom sprachen, verwendet. Es gibt während der acht Jahrhunderte, die wir untersucht haben, keine einzige überzeugende Quellennachricht, die erkennen ließe, daß sich die mit diesem Begriff Belegten selbst als Einheit begriffen oder doch wenigstens in der Wahrnehmung von Fremdbeobachtern als eine solche Einheit erschienen."
Jarnut, GERMANISCH - PLÄDOYER FÜR DIE ABSCHAFFUNG EINES OBSOLETEN ZENTRALBEGRIFFES DER FRÜHMITTELALTERFORSCHUNG

Jörg Jarnut argumentiert für die Abschaffung dieser ethnischen Kategorie aus wissenschaftlichen Gründen, und plädiert für die Verwendung der Namen einzelner Gentes, wie Gepiden, Vandalen, Heruler oder Langobarden, da der Germanenbegirff für die Spätantike und das Frühmittelalter irreführend und anachronistisch sei, es gäbe in den Quellen keine germanische Einheit, diese wäre eine Konstruktion der neuzeitlichen Humanisten und des 19. Jahrhunderts. Ein schönes Beispiel ist der schon erwähnte "Hludowicus Germanicus", der korrekterweise als Herrscher, der über die rechtsrheinischen Gebiete der Francia herrscht, übersetzt werden müsste, die Germania als territorialer Begriff, und nicht als ethnische Kategorie verwendet werden müsste, wurde aber unter dem nationalistischen und völkischem Zeitgeist des 19.Jahrhundert als Ludwig der Deutsche, als rex germaniae verfälscht.
Ein anderes schönes Beispiel sind die konstruierten "Ostgermanen" des 19. Jahrhunderts, die es in den Quellen bei Jordanes, Cassiodor, Prokop jedoch nicht gibt, der verwendete Oberbegriff der "gotischen Völker" bezeichnen Reiterkriegerverbände, Kriegereliten, die auch die nicht germanisch sprechenden Alanen und viele andere umfasste, die aus Sicht der genannten Histiographen eine "skythische Lebensweise" verkörperten. Zitat von Roland Steinacher:
"Im Reich des Goten Ermanarich lebten außer den Ostrogoten Finnen, Anten, Heruler, Alanen, Hunnen, Sarmaten, Esten und wahrscheinlich auch Slawen. Die gotischterwingische Aristokratie bestand aus Taifalen, Sarmaten, kleinasiatischen Minderheiten, ehemaligen römischen Provinzialen, dako-carpischen Gruppen und verschiedensten Iraniern." Wiener Anmerkungen zu ethnischen Bezeichnungen, 2011
Zur Vertiefung ein Text zu der historischen Konstruiertheit des Germanenbegriffs:
Roland Steinacher
Gebrauchsweisen! Der römische Germanen- und Germanienbegriff

https://homepage.univie.ac.at/r.steinacher/downloads/KONFLIKT Steinacher.pdf
 
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Das ergibt keinen Sinn. Eine Sprache gibt es nur im Zusammenhang mit:
1. einem Volk, das diese Sprache spricht (und sie an spätere Generationen weitergibt);
2. aus dieser Sprachwelt hervorgehenden materiellen und geistigen, charakteristischen Errungenschaften (= kulturellen Manifestationen), die sich archäologisch oder schriftlich nach- bzw. zuweisen lassen.....
Sprache ist eine Bedingung für eine gemeinsame ethnische Zugehörigkeit, aber nicht die einzige.
Erst in Verbindung mit den (von mir bereits erwähnten) geistigen und historisch-materiellen Erzeugnissen einer spezifischen Kultur, kann man ein Volk auch als solches bezeichnen.
Völlig richtig. Einen solchen Großstamm gibt es auch heute nicht; trotzdem reden wir sowohl bei Isländisch als auch bei Niederländisch von germanischen Sprachen......
In archäologischer Hinsicht gibt es ab dem VI. Jhd. v. Chr. (z. B. Jastorfkultur)
Hinweise auf eine gemeinsame materielle Kultur, die wir als germanisch bezeichnen können.
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Jochen Brandt versucht in Anbetracht der Schwierigkeiten, innerhalb der bisherigen Jasdorf-Funde gesellschaftliche Strukturen zu identifizieren,- eine Schwierigkeit besteht darin, dass das Jasdorf-Konzept sich in erster Linie sich auf Bestattungen stützt, die kaum soziale vertikale Rangfolgen und soziale Differenzierungen erkennen lassen, andere Wege zu finden, die Jasdorf-Kultur zu erklären. Im gesamten norddeutschen Flachland zeichent sich eine kaum spezialisierte und diversifizierte Ökonomie ab, keine protourbanen Siedlungen, keine auf Gemeinschaftsleistung beruhenden Festungswerke (die es noch in der Bronzezeit gab),sondern ein eher kleinräumiges Siedlungsgefüge, wo nicht einmal sicher ist, ob man größere Gräberfelder als Dorfbestattungsplätze ansprechen kann, oder als Gemeinschaftsfriedhöfe von Siedlungskammern. Die Beigabearmut in den Gräbern deutet auf eine kaum hierarchisierte, egalitäre ärmliche Bevölkerung hin. Gold zum Beispiel findet sich gar nicht.

Er wendet aufgrund dieser archäologischen Ergebnisse, die sich nicht aus Defiziten der bisherigen Fundsituation oder als zufällig erklären lassen, für Jasdorf ein Kultur-Modell aus der Kulturanthropologie an, um die fehlende soziale Differenzierung zu erklären, dass der segmentären Gesellschaften:

"Der hier zur Erklärung der Jastorfer Sozialstruktur verwendete Kulturtyp ist der der segmentären
Gesellschaften. Dabei handelt es sich um eine Sonderform des Kulturtyps Stamm nach E. R. SERVICE
[1962]. Segmentäre Gesellschaften sind wie alle Stämme personelle, nicht territoriale Gebilde. Entscheidend für die Mitgliedschaft ist also die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, nicht das Leben in einem bestimmten Gebiet. Das besondere an Gesellschaften dieses Typs ist, dass es innerhalb der gesamten
Gesellschaft nur wenig Zusammenhalt und integrative Elemente gibt. Ein Großteil der sozialen und ökonomischen Aufgaben ist auf kleine und kleinste Gruppen wie Familien und Familienverbände verlagert, während höhere Strukturebenen wie der Stamm oder gar das Volk kaum und nur zu besonderen Anlässen eine Rolle spielen. Wie die Kleingruppen funktionieren und interagieren, bestimmen unter anderem Abstammungs-und Residenzregeln, die von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich sein können. Geläufig bei Ackerbau und Viehzucht treibenden Gesellschaften, wozu auch die Jastorfkultur zu zählen ist, sind z. B. Patrilinearität und Virilokalität,d. h. die soziale Zugehörigkeit zu einer Gruppe wird über die väterliche Seite bestimmt, der Wohnort neuer Familien soll bei dem Ehegatten gewählt werden. Derartige, die Gesellschaft strukturierende Steuerungsmechanismen müssen als existent vorausgesetzt werden, auch wenn sie im archäologischen Befund verborgen bleiben. Soziale Interaktion zwischen den Klein-und Kleinstgruppen wird unter anderem durch Heiratsbeziehungen oder auch durch so genannte Sodalitäten, gruppenübergreifende Gemeinschaften wie Männerbünde oder Altersklassen, hergestellt....
Hohe subsistenzwirtschaftliche Autonomie im Verbund mit mangelnden Anreizen zur Produktionssteigerung , eine solche ökonomische Struktur scheint mir besser als jede
andere bislang vorgebrachte Deutung als Erklärungsmodell für die auffallende Ärmlichkeit
der Jastorfer Sachkultur zu taugen."


Brandt, Gesellschaftsstrukturen in der Jasdorfkultur, 2009

Meiner Ansicht nach spiegelt dieses Modell die Realität im nordöstlichen Mitteleuropa in der vorrömischen Eisenzeit treffend wieder. Institutionalisierungen auf höherer Ebene (Religion, Rechtsprechung, Politik, Kriegsführung) gibt es nur in einer Form der Gerontokratie (der Ältesten), die Big Men / Häuptlinge sind dies nicht dauerhaft, sie müssen ihr Prestige/Status beständig verteidigen. Man kann daher nicht einmal von Protostaatlichkeit sprechen, höhere Einheiten außerhalb des eigenen Verwandschaftsverbands spielten praktisch kaum eine Rolle im Leben der Jasdorfer. Der Germanenbegriff bleibt ein aus Sicht Roms über zwei Jahrhunderte genutzter Begriff für eine Lebensweise segmentärer Stammesgesellschaften nördlich und östlich der Keltike, die auf Viehhaltung und einfacher Landwirtschaft beruhte. Erst die Konfrontation mit Rom "schuf" in gewisser Weise hierarchisierte Gentes, mit denen Rom Krieg führen und Politik machen konnte, und die von außen übergestülpte Definition mit Leben erfüllten.
 
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Es kommt dabei natürlich auf die Zeit an. Tacitus zitiert z.B. entsprechende Eigenwahrnehmung einiger Ethnien. Nur hat sich diese Selbstwahrnehmung -egal ob im Germanicum entstanden oder von den Römern oder den Kelten übernommen- wieder verflüchtigt.

Das habe ich auch nicht gesagt. Ich schrieb dass man zwei verschiedene Völker (unter anderem) durch die Sprache voneinander unterscheiden kann.

Das geht eben nicht. Es gibt Völker mit mehreren Sprachen. Das Deutsche Volk z.B. oder das Schweizer. Es gibt Sprachen, die von mehreren Völkern gesprochen werden. Das Deutsche oder das Spanische wären da Beispiele. Und damit hätte ich 4 Gegenbeispiele aufgezählt. Sprache sagt über Ethnizität erst einmal nichts aus.

Das ergibt keinen Sinn. Eine Sprache gibt es nur im Zusammenhang mit:
1. einem Volk, das diese Sprache spricht (und sie an spätere Generationen weitergibt);
2. aus dieser Sprachwelt hervorgehenden materiellen und geistigen, charakteristischen Errungenschaften (= kulturellen Manifestationen), die sich archäologisch oder schriftlich nach- bzw. zuweisen lassen.

Das ist eben nicht der Fall. Auch mehrere Völker können dieselbe Sprache sprechen. Zusätzlich zum oben gesagten seien die Latiner und Römer genannt. Auch Englisch wird von verschiedenen Völkern gesprochen. Und obwohl provencalisch eine eigene Sprache ist, betrachten sich die Provencalen als Franzosen. Damit haben wir zwei Gegenbeispiele zum ersten Satz, der somit widerlegt ist. Die Nationalisten behalfen sich an der Stelle mit dem Begriff einer Dachsprache, was aber heute nicht mehr aufrechterhalten werden kann, da die meisten Dachsprachen (Griechisch, Niederländisch z.B.) bewusst oder gar künstlich mit demselben Hintergrund geschaffen wurden. Seit es Leute gibt, die Esperanto zur Muttersprache haben, ist dies wohl überdeutlich. In den populären Darstellungen, teils sogar bei Darstellungen von Sprachwissenschaftlern gehen die Theorien, die es seit dem 19. Jahrhundert gab, oft bunt durcheinander.

Zum Zweiten Satz benenne mal bitte ein Beispiel. Aber kein Schriftzeugnis. Und möglichst ein Beispiel für Germanen aus der Zeit des Frühmittelalters. Ich habe noch nie so etwas gesehen, aus dem auf eine Sprache zu schließen ist und bezweifele, dass es so etwas gibt. Die Kulturzonentheorie ist lange überholt. Um aus materiellen Gütern aussagen zu gewinnen, müssen entsprechende Umstände hinzukommen. (Vorbildlich wurden materielle Zeugnisse z.B. von Heiko Steuer, Theorien zur Herkunft und Entstehung der Alemannen - Archäologische Forschungsansätze, in: Dieter Geuenich (Hrsg.), Die Franken und Alemannen bis zur "Schlacht bei Zülpich" (496/97), Berlin 1998 genutzt, das im Netz zu finden sein sollte.) Selbst, wenn der erste Satz nicht widerlegt wäre, könntest du damit allein keine Germanen oder Deutschen nachweisen.

Warum sich die Germanen erst zur Zeit Caesars (oder gar danach) als einem gemeinsamen Ethnos zugehörig gefühlt haben sollen, obwohl ein solcher Ethnos schon Jahrhunderte zuvor archäologisch nachweisbar ist, erschliesst sich mir nicht. Klar war der Stamm erstmal identitätsstiftend, aber ist es anachronistisch zu vermuten, dass sich zwei Stämme, die sehr ähnliche Sprache, Götter und Bräuche aufwiesen, sich auch als blutsverwandt ansahen?

Schon oben habe ich darauf hingewiesen, dass nicht mehr von der Kulturkreistheorie auszugehen ist. Sprache bedeutet keine Ethnizität. Und kulturelle Hinterlassenschaften sind selten mit bestimmten Ethnien oder gar Sprachen zusammenzubringen.

Du argumentierst wie die Archäologen des frühen 19. Jahrhunderts, die einfach alle Zeugnisse als germanisch oder gar deutsch klassifizierten, indem sie in einem Zirkelschluss die Ethnie voraussetzten. Heute wissen wir, dass die als Germanisch bezeichneten Völker verschiedenen materiellen Kulturen zugehörten.

Wahrscheinlich beziehst du dich auf die Jastorf-Kult und darauf, dass ein bestimmter Verbreitungsstand der Kultur mit bestimmten geographischen Bezeichnungen in Verbindung gebracht wurde. Letzteres ist überholt, da erkannt wurde, dass die Erstreckung dieser Gebiete anders ist, als gedacht. Und wie willst du somit darlegen, dass nicht etwa, um ein Beispiel zu nennen, die Kultur der sog. Kontaktzone zwischen der als keltisch bezeichneten Kultur und der Jastorfkultur der Ausgangspunkt des germanischen war? (Bitte nicht mit dem sog. Nordwestblock verwechseln, wie es mitunter die Populärwissenschaftliche Veröffentlichungen tun.)

Die von Tacitus und auch in anderen Quellen überlieferte Mannus-Sage wird als Beispiel einer typischen Vereinigungssage mehrerer Völker betrachtet. Sie bezeugt zweifellos eine germanische Identität. Aber sie bezeugt genausogut, dass Ingvaeonen, Istvaeonen und Herminonen zusammengewachsen sind. Dies kann man auch an der unklaren Zuordnung einzelner Stämme und dem Anspruch einzelner Stämme, sich direkt von Mannus abzuleiten sehen. Hier haben die verschiedenen Autoren verschiedene "Zwischenstände" der germanischen Ethnogenese festgehalten. Das Schicksal dieser Sage lässt sich sogar bis zu den 'Eschenmännern' des frühen Mittelalters und der Edda und den Sagas im Hochmittelalter verfolgen. Spätestens in der Völkerwanderungszeit wurde die Sage nicht mehr auf ein Volk, sondern auf die ganze Menschheit bezogen. Dies geschieht parallel zur Aufgabe des Germanennamens. Ein anderer Zweig der Sage bezieht sich nur noch auf die Entstehung bestimmter Dynastien. Schließlich haben Gelehrte die späteren Versionen wieder mit der älteren Überlieferung und auch mit Überlieferungen der Bibel verbunden. Aber dies geschah lange, nachdem man im Zuge der deutschen Ethnogenese die Germanen 'wiederentdeckte'.

Aus dem Stand, den die Sage bei Tacitus hat, schließt man, dass dies die früheste Version ist, die die "Unterstämme" unter ein gemeinsames Dach führt. Zudem gibt es einige Beispiele für die Erwähnung dieser 'Unterstämme' bis in das erste Jahrhundert v.Chr., worunter die durch den Sprachrhythmus wahrscheinliche Erwähnung der Ingväonen durch Pytheas die prominenteste und älteste ist. Dies könnte demnach die Selbstbezeichnung der Jastorf-Kultur sein, weil hier der Name mit dem Gebiet der Kultur durch eine Schriftquelle in Verbindung gebracht ist. Bis in die 80er Jahre -wir haben es noch in der Schule gelernt, aber schon mit Einschränkungen versehen- argumentierte man nun, dass die Ingvaeonen Germanen waren und somit die Jastorfkultur germanisch. Diese Prämisse ist aber, wie dargestellt entfallen. (Diese Zuschreibung ist zudem noch ein wenig komplizierter, aber mir geht es hier darum, die Herkunft der Annahme kurz zu beschreiben, um den Wegfall der Prämisse benennen zu können.) Hinzu kommt das von Biturigos gesagte.


Sprache ist eine Bedingung für eine gemeinsame ethnische Zugehörigkeit, aber nicht die einzige.
Erst in Verbindung mit den (von mir bereits erwähnten) geistigen und historisch-materiellen Erzeugnissen einer spezifischen Kultur, kann man ein Volk auch als solches bezeichnen.

Wie oben aufgezeigt, ist Sprache keinesfalls eine Bedingung für eine gemeinsame ethnische Zugehörigkeit. Wie aus dem Gesagten ebenfalls hervorgeht, können -wie bei den Germanen des 1. Jahrhunderts nach Christus- verschiedene Kulturen einer Ethnie zugeordnet werden. Ebenso kann es innerhalb einer Kultur mehrere Ethnien geben. Es sei hier nur auf die Kulturen Nordamerikas hingewiesen, wo dies fast schon eine Regel war.

Das geistige Erzeugnisse nie auf ein Volk als Volk beschränkt sind, brauche ich in der heutigen Zeit wohl kaum darlegen.

Eine Ethnie bestimmt sich denn nach heutigem Stand der Wissenschaft nur aus der Fremd- und Eigenwahrnehmung der betroffenen Gruppe. Dies ist nachzuweisen, um von einer Ethnie sprechen zu können. Aus denselben Gründen wäre die Beschränkung auf die Eigenwahrnehmung oder auf die Fremdwahrnehmung unsinnig. Als Verdeutlichung: Bei den Rohingya z.B. kann beides getrennt beobachtet werden. Dennoch sieht man eine gegenseitige Beeinflussung. So wenig die Beschreibung auf die Selbstwahrnehmung verzichten kann, kann sie auf die Fremdwahrnehmung verzichten.

(Daher ist dann auch Tacitus eine unerwartet gute Quelle, da er nicht nur die Selbstwahrnehmung und die römische Warte wiedergibt, sondern mitunter auch diejenige Dritter. Leider benennt er es nicht immer klar.)

Da es gerade sehr langsam wird, weiter in einem anderen Post.
 
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Ich bin nicht sicher, ob ich das richtig verstehe. Ein Ethnos wie z. B. das japanische Volk setzt sich aus genetisch identifizierbaren Elementen zusammen, wie etwa der Jomôn-Kultur, den (mehrheitlichen) Yamato und den Ainû. Diesen Anteil kann man auch prozentual einschätzen.
Und natürlich ist in der japanischen Ethnogenese das Element Yamato wichtiger, als das Element Ainû.

Es ist lang widerlegt, dass Abstammung eine Ethnie ausmacht. Damit setzt sich ein Volk nicht aus Bestandteilen anderer Völker zusammen. Daher ist die Genetik irrelevant. Das ist im Forum so oft erklärt worde, dass ich keine Lust dazu habe und hoffe, dass für diesen Punkt ein anderer einspringt oder einen Link zu entsprechenden Fäden setzt. (Ein simpler Beweis wäre, dass ein Norddeutscher eine andere genetische Abstammung hat, als ein Süddeutscher. Dennoch sind beide Deutsche. Nicht, dass gesagt wird, ich drücke mich. Aber es gibt noch wesentlich mehr zu sagen.)

Völlig richtig. Einen solchen Großstamm gibt es auch heute nicht; trotzdem reden wir sowohl bei Isländisch als auch bei Niederländisch von germanischen Sprachen.
In archäologischer Hinsicht gibt es ab dem VI. Jhd. v. Chr. (z. B. Jastorfkultur) Hinweise auf eine gemeinsame materielle Kultur, die wir als germanisch bezeichnen können.
Wieder: Gleiche Sprache bedeutet nicht gleiche Ethnie. Eine sprachliche Kategorie kann nicht einfach als ethnische Kategorie genutzt werden.
Zur Jastorf-Kultur und ihrer Verbindung mit "den" Germanen ist oben von mir und Biturigos schon genug gesagt.


Die Abgrenzung zu den Nachbarn gab es aber schon vor Caesar.
Ich weiss ja nicht, wann du die Entstehung der deutschen Ethnie ansetzt, aber es stellt sich doch die Frage, warum du sie später vermutest als die Entstehung der "germanischen" Völker.
Wenn der entscheidende Punkt die Abgrenzung zu den Nachbarn ist, dann kann man die deutsche Ethnogenese genauso gut in der Bronzezeit ansiedeln.

Ich habe nicht gesagt, dass es eine Regel gibt, nach der sich dort, wo sich Abgrenzungsmöglichkeiten ergeben, zwanghaft Ethnien entwickeln. Sonst gäbe es keine deutsche Ethnie. Allein schon die Grenze zwischen Niederdeutschen und Hochdeutschen Dialekten hätte das nicht zugelassen. Die Abgrenzung zu bestimmten Nachbarn in einer bestimmten historischen Situation war einer der Faktoren, die in der speziellen historischen Situation des Frühmittelalters für die deutsche Ethnogenese wichtig waren. Und als einen solchen prominenten Faktor habe ich ihn angeführt. Jede historische Situation ist anders. Wenn du Tacitus liest, wirst du erkennen, dass die Abgrenzung bei den Germanen kein solcher Faktor war, da zuvor gallische Stämme sich als germanisch bezeichneten und zuvor germanische als gallisch und augenscheinlich mitunter diesen Wechsel selbst tradierten.

Die Abgrenzung von Ethnien untereinander im Sinne einer Definition oder auch nur einer deiktischen Handlung ist etwas anderes als die Abgrenzung als historischer Vorgang. Da haben wir wieder ein Homonym.

Fazit: Du gehst von veralteten Paradigmen aus. Wie dies früher getan wurde, trennst du dabei die Begriffe nicht sauber.

Das heißt nicht, dass es irgendwann keine Ethnien gab. Überall wo es Quellen dazu gibt, trifft man auf Ethnien. Ohne entsprechenden Beweis ist es damit aufgrund des Strukturalismus unsinnig davon auszugehen, dass in den betrachteten Zeiträumen in Europa keine Ethnien gab. Nur wird es schwieriger, diese zu benennen. Wie ich in einem anderen Thread dargelegt habe, kannst du die Entstehung einer deutschen Ethnie irgendwo zwischen Karl dem Großen und dem Annolied ansetzen, wenn du Gründe dafür findest. Sinnigerweise solltest du nicht vor das Ende der Sachsenkriege 804 gehen und den Sachsen auch genug Zeit lassen, das Kriegstrauma zu überwinden.

Exkurs, bevor auch das noch kommt: Früher behalf man sich mit dem Staatsvolk und fühlte sich damit auf sicherem Terrain. Da das Heilige Römische Reich in Personal- und Realunion aus dem italienischen, dem burgundischen und dem deutschen Reich bestand, wurde nach dem Ursprung dieser Abgrenzung gesucht. Da die Entwicklung vom langobardischen zum italienischen und vom ostfränkischen zum deutschen Reich staatsrechtlich keine Rolle spielt, fühlte man sich auf sicherem Grund. Dabei landete man beim Vertrag von Bonn 921 und dem Treffen König Heinrichs mit König Rudolf von "Frankreich" und König Rudolf II. von Burgund in Ivois a.d. Chiers 935. In die Betrachtung wurde auch die Erlangung der Langobardischen Königskrone 951-961 durch Otto den Großen einbezogen, so dass man gleich auch einen kleinen Forschungsstreit hatte, ob nun Heinrich oder Otto der erste "deutsche König" sei. Rein formal mag sich jemand daran festhalten, aber sachlich ist es genau so wenig hilfreich wie zu sagen, dass die Kurden kein Volk sind, weil sie keinen eigenen Staat haben. Schon der Wechsel von "langobardisch" und "italienisch" sowie von "ostfränkisch" zu "deutsch" zeigt ja, dass es dabei nicht um Ethnizität geht.

(Hervorhebungen dienen lediglich der Verdeutlichung und Übersicht.)
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich sehe, in diesem Forum herrscht über gewisse Themen eine gar löbliche Einhelligkeit. Nun ja, ich hoffe ihr verzeiht mir meine häretischen Zwischenrufe ^^

Verstanden sich etwa die Goten des 4. Jahrhunderts als Bestandteile einer größeren Einheit, vielleicht also auch der der ‚Germanen‘? Generationen von germanophilen Historikern und Germanisten haben in den freilich lateinischen und griechischen Quellen verzweifelt, aber völlig vergeblich nach derartigen Zeugnissen gesucht.
Es gibt sie einfach nicht......

Zunächst einmal möchte ich anmerken, dass es mir eigentlich um ein älteres Zeitfenster ging (ein paar Jahrhunderte früher).
Bei Tacitus findet sich, wie von Riothamus erwähnt, ein mythischer Stammbaum, der den Stammesgruppen der Ingaevonen, Hermionen und Istaevonen eine gemeinsame Abstammung von Tuisto, seinem Sohn Mannus und dessen drei Söhnen nachsagt.
Überhaupt erscheint mir die Vorstellung etwas kurios, die zahlreichen Germanenstämme hätten irgendwie nicht gemerkt, dass sie ganz ähnliche Bräuche und Sitten haben, ganz zu schweigen von Sprache und Religion, und dass sich diese Bräuche, Götter und Sprachen deutlich von denen der Römer oder Kelten unterschieden.

Dass sich diese Stämme dann trotzdem untereinander bekriegten, unabhängige Ziele verfolgten und auch später getrennt voneinander in das Römische Reich "einwanderten", sagt ja nichts über ein gemeinsames ethnisches Zusammengehörigkeitsgefühl aus.

Davon abgesehen verfügten die Kelten im benachbarten Gallien ja auch nicht über gemeinsame Staatlichkeit; die eklatante Mehrheit entschied sich dann aber doch dafür, gegen Caesar und nicht gegen Vercingetorix in den Krieg zu ziehen.
Ein ganz ähnlicher Prozess wird wohl auch ein paar Jahrzehnte später mit Arminius auf dem anderen Rheinufer stattgefunden haben.

Aber das nur nebenbei. Es ging mir ursprünglich überhaupt nicht um die Frage der politischen Einheit, die es selbstverständlich nicht gab, sondern um ein Zusammengehörigkeitsgefühl als Kultur.

Es gibt während der acht Jahrhunderte, die wir untersucht haben, keine einzige überzeugende Quellennachricht, die erkennen ließe, daß sich die mit diesem Begriff Belegten selbst als Einheit begriffen oder doch wenigstens in der Wahrnehmung von Fremdbeobachtern als eine solche Einheit erschienen.

Mal ganz abgesehen von dem für meinen Geschmack allzu überzeugten Tonfall, den der Mann hier an den Tag legt: Überzeugende Quellen zu Germanen, die erkennen lassen dass sie Fremdbeobachtern als eine Einheit erscheinen, gibt es spätestens mit Caesar (auch wenn sich über dessen Aufteilung in linksrheinische Gallier und rechtsrheinische Germanen vortrefflich streiten lässt); bei Pomponius Mela finden wir einen Umriss des damaligen germanischen Siedlungsgebiets; Strabon beschreibt die Germanen als ein den Galliern ähnliches Volk, usw.

der verwendete Oberbegriff der "gotischen Völker" bezeichnen Reiterkriegerverbände, Kriegereliten, die auch die nicht germanisch sprechenden Alanen und viele andere umfasste, die aus Sicht der genannten Histiographen eine "skythische Lebensweise" verkörperten.

Na ja, der im Zuge der zweiten germanischen Völkerwanderung aufgekommene Begriff "Nordmänner" oder "Wikinger" umfasst ja auch Norweger, Schweden und Dänen. Die haben sich wohl auch nicht als einer kulturellen Einheit zugehörig gefühlt?

Der Germanenbegriff bleibt ein aus Sicht Roms über zwei Jahrhunderte genutzter Begriff für eine Lebensweise segmentärer Stammesgesellschaften nördlich und östlich der Keltike, die auf Viehhaltung und einfacher Landwirtschaft beruhte. Erst die Konfrontation mit Rom "schuf" in gewisser Weise hierarchisierte Gentes, mit denen Rom Krieg führen und Politik machen konnte, und die von außen übergestülpte Definition mit Leben erfüllten.

Inwiefern ist es für segmentäre Stammesgesellschaften, die auf Viehhaltung und einfacher Landwirtschaft beruhen unmöglich, sich als mit (sprachlich, religiös) ähnlichen Gesellschaften verwandt anzusehen?
 
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Tacitus zitiert z.B. entsprechende Eigenwahrnehmung einiger Ethnien. Nur hat sich diese Selbstwahrnehmung -egal ob im Germanicum entstanden oder von den Römern oder den Kelten übernommen- wieder verflüchtigt.

Woran machst du das fest?

Das geht eben nicht. Es gibt Völker mit mehreren Sprachen.

Nö. Es gibt Staaten mit mehreren Sprachen.

Es gibt Sprachen, die von mehreren Völkern gesprochen werden.

Richtig; deswegen ist Sprache, wie schon gesagt, nicht die einzige Bedingung, um ein Volks als solches zu charakterisieren. Sie ist aber die wichtigste Bedingung.

Und obwohl provencalisch eine eigene Sprache ist, betrachten sich die Provencalen als Franzosen.

Damit wären also diejenigen Provençalen, die des Provençalischen mächtig sind, sowohl Provençalen als auch Franzosen.
Ohne eigene Sprache gibt es keine eigenständige Kultur; aber innerhalb einer Sprache kann es mehrere Subkulturen geben.

Seit es Leute gibt, die Esperanto zur Muttersprache haben, ist dies wohl überdeutlich.

Solche Leute gibt es? ^^

Um aus materiellen Gütern aussagen zu gewinnen, müssen entsprechende Umstände hinzukommen.

Ja, z. B. gibt es da eine gewisse Sprachtheorie zu den Indo-Europäern. Eine Sprache hat bekanntlich Träger, die diese Sprache sprechen. Die Germanen sind ja nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in einem jahrtausendealten Prozess aus den West-Indo-Europäern herausgebildet, was man auch archäologisch bzw. onomastisch nachverfolgen kann.

Und wie willst du somit darlegen, dass nicht etwa, um ein Beispiel zu nennen, die Kultur der sog. Kontaktzone zwischen der als keltisch bezeichneten Kultur und der Jastorfkultur der Ausgangspunkt des germanischen war?

Das kann man mithilfe der Onomastik sogut wie ausschliessen. Die Fluss- und Ortsnamen in der keltischen "Kontaktzone" sind ebendas - keltisch. Wohingegen sich im Gebiet der Jastorfkultur altgermanische Orts- und Flussnamen nachweisen lassen. Siehe den Link von Heine zu dem Artikel über Jürgen Udolph.

Die von Tacitus und auch in anderen Quellen überlieferte Mannus-Sage wird als Beispiel einer typischen Vereinigungssage mehrerer Völker betrachtet. Sie bezeugt zweifellos eine germanische Identität. Aber sie bezeugt genausogut, dass Ingvaeonen, Istvaeonen und Herminonen zusammengewachsen sind.

Das kann man so interpretieren, muss man aber nicht.

Dies kann man auch an der unklaren Zuordnung einzelner Stämme und dem Anspruch einzelner Stämme, sich direkt von Mannus abzuleiten sehen.

Die unklare Zuordnung einzelner Stämme sagt nicht sehr viel aus; sie bezeugt höchstens das Unwissen des jeweiligen Chronisten. Und der Anspruch einzelner Stämme, sich direkt von Mannus abzuleiten, weist auf ebenjenes hin: einen Sonderanspruch einzelner Stämme. Darüber, ob sich diese Stämme als germanisch ansehen, wird hier keinerlei Aussage getroffen.

Spätestens in der Völkerwanderungszeit wurde die Sage nicht mehr auf ein Volk, sondern auf die ganze Menschheit bezogen. Dies geschieht parallel zur Aufgabe des Germanennamens.

Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Germanen auch sprachlich auseinanderentwickelt. Das ist also nicht weiter verwunderlich.

Mir geht es darum, dass man durchaus von Germanen als Dachbezeichnung für germanisch sprechende Völker reden kann; ebenso von germanischer Ethnogenese; und dass sich das ostfränkische Reich sowie das spätere Deutschland aus den Nachkommen dieser germanischen Populationen herausbildeten, ist ebenfalls völlig unumstritten.
Von daher erscheint mir die ganze Diskussion etwas surreal... gerdezu so, als wolltest du meine scherzhafte Frage nach den "chinesischen" Vorfahren der Deutschen bejahen.

Wie oben aufgezeigt, ist Sprache keinesfalls eine Bedingung für eine gemeinsame ethnische Zugehörigkeit.

Das ist doch Unsinn. Wenn ich nicht Italienisch spreche, kann ich auch kein Italiener sein.

Wie aus dem Gesagten ebenfalls hervorgeht, können -wie bei den Germanen des 1. Jahrhunderts nach Christus- verschiedene Kulturen einer Ethnie zugeordnet werden. Ebenso kann es innerhalb einer Kultur mehrere Ethnien geben. Es sei hier nur auf die Kulturen Nordamerikas hingewiesen, wo dies fast schon eine Regel war.

Hier hast du meine vollste Zustimmung.

Das geistige Erzeugnisse nie auf ein Volk als Volk beschränkt sind (...)

Das habe ich nirgendwo gesagt. Ich schrieb, dass ein Volk sich durch eine gemeinsame Sprache und gemeinsame, aus dieser Sprachwelt hervorgehende geistig-materielle Erzeugnisse charakterisiert.

Es ist lang widerlegt, dass Abstammung eine Ethnie ausmacht. (...) Ein simpler Beweis wäre, dass ein Norddeutscher eine andere genetische Abstammung hat, als ein Süddeutscher. Dennoch sind beide Deutsche.

Dass Abstammung eine Ethnie ausmacht, ist noch lange nicht widerlegt. Ganz im Gegenteil. Und was du sagst beweist nun aber gar nichts, lieber Riothamus. Ein Nordjapaner (um bei meinem Beispiel zu bleiben) hat eine andere genetische Abstammung als ein Südjapaner, dennoch kann man bei beiden das überwiegende Genom Yayoi (Yamato) nachweisen, wodurch sich beide etwa von einem Ainu-Japaner unterscheiden, in welchem die Gen-Signatur Jomôn überwiegt.
Es ist klar, dass es die Yayoi (Yamato) waren, welche die japanische Geschichte und Kultur geprägt haben; nicht die Ainu.

Wie ich in einem anderen Thread dargelegt habe, kannst du die Entstehung einer deutschen Ethnie irgendwo zwischen Karl dem Großen und dem Annolied ansetzen, wenn du Gründe dafür findest. Sinnigerweise solltest du nicht vor das Ende der Sachsenkriege 804 gehen und den Sachsen auch genug Zeit lassen, das Kriegstrauma zu überwinden.

Das verstehe ich nicht. Von einer germanischen Ethnie in der Antike willst du partout nichts wissen, aber nach den Sachsenkriegen soll es plötzlich möglich sein, einen deutschen Ethnos zu auszumachen.
Nicht, dass ich daran grundsätzlich etwas auszusetzen hätte, aber die Sachsen, Thüringer, Franken usw. sind doch nicht vom Himmel gefallen. Es sind die Nachkommen ebenjener Germanen, deren schiere Existenz du infrage stellst.

Fazit: In diesem Forum wird offenbar von der Überzeugung ausgegangen, dass alles (aber auch wirklich alles) was vor 1945 geschrieben, erforscht, gesagt oder gedacht wurde, schlimm und verwerflich und deswegen falsch ist.

Dass es sich bei fraglichen Meinungen eben nicht um unumstössliche Wahrheiten handelt, sondern um Theorien, die mitunter zur Diskussion freistehen, ist nicht aus allen hier einsehbaren Beiträgen (damit meine ich nicht Riothamus) ersichtlich.
 
Damit wären also diejenigen Provençalen, die des Provençalischen mächtig sind, sowohl Provençalen als auch Franzosen.
Ohne eigene Sprache gibt es keine eigenständige Kultur; aber innerhalb einer Sprache kann es mehrere Subkulturen geben.

Eine Abgrenzung zwischen "Sprache" und "Dialekt" ist doch nach rein sprachlichen Kriterien überhaupt nicht möglich.
In der Realität haben wir es vielfach mit Dialektkontinuen zu tun. Es gibt ja keine harte Sprachgrenze zwischen "Französisch" und "Provençalisch", sondern eine große Anzahl regionaler Mundarten, deren Sprecher sich mit den Sprechern der Nachbarmundarten bestens verständigen können. In diesem Fall haben wir ein Dialektkontinuum, das von Portugal bis Belgien läuft, mit Sprachen wie Portugiesisch-Galicisch-Asturisch-Kastilisch-Aragonesisch-Katalanisch-Okzitanisch-Frankoprovenzalisch...
Ist das nach sprachlichen Kriterien jetzt alles ein "Volk"? Oder sind es doch mehrere Völker, und wenn ja - wie viele?

Ob eine regionale Sprachvarietät als "Dialekt" oder als "eigene Sprache" definiert wird, ist immer eine politische Entscheidung.

Eine Sprache hat bekanntlich Träger, die diese Sprache sprechen. Die Germanen sind ja nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in einem jahrtausendealten Prozess aus den West-Indo-Europäern herausgebildet, was man auch archäologisch bzw. onomastisch nachverfolgen kann.

Wichtig ist es trotzdem, zwischen einer Sprache und ihren Trägern zu unterscheiden. Eine Sprache kann aussterben, obwohl sich die Nachkommen ihrer Träger weiter munter fortpflanzen.

Das kann man mithilfe der Onomastik sogut wie ausschliessen. Die Fluss- und Ortsnamen in der keltischen "Kontaktzone" sind ebendas - keltisch. Wohingegen sich im Gebiet der Jastorfkultur altgermanische Orts- und Flussnamen nachweisen lassen. Siehe den Link von Heine zu dem Artikel über Jürgen Udolph.

"Udolph lokalisiert die sprachliche Herausbildung des Germanischen in einem Gebiet zwischen Elbe im Osten, Mittelgebirgen im Süden, Aller im Norden und im Westen ohne scharfe Begrenzung bis über den Rhein hinweg. Der Bereich der Jastorf-Kultur käme dann lediglich als sekundärer "Expansionsraum" in Frage, nicht jedoch als germanische "Urheimat". Es wird deutlich, daß onomastische und archäologische Quellen zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen führen können."
Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie

Dasselbe sagt Udolph im verlinkten Interview bezüglich der Kelten:

Udolph: Die Ausbreitung der Kelten wird immer noch weithin überschätzt. Der Fehler liegt darin, daß man überall dort, wo man Spuren der keltischen materiellen Kultur findet, etwa handwerkliche Arbeiten, auch von Siedlungen einer keltischer Bevölkerung ausgeht. Dem ist entschieden entgegenzutreten. Im heutigen Deutschland lassen sich keltische Gewässer- und Ortsnamen im Rheingebiet und in Süddeutschland nachweisen, aber schon in Hessen gibt es kaum einen sicheren keltischen Ortsnamen.

Udolph definiert hier "Kelten" nach sprachlichen Kriterien. Archäologisch gesehen, lebten in Hessen eindeutig Träger der keltischen Kultur. Offensichtlich waren die sprachlichen Grenzen und die kulturellen Grenzen zwischen "Kelten" und "Germanen" nicht deckungsgleich.


Davon abgesehen verfügten die Kelten im benachbarten Gallien ja auch nicht über gemeinsame Staatlichkeit; die eklatante Mehrheit entschied sich dann aber doch dafür, gegen Caesar und nicht gegen Vercingetorix in den Krieg zu ziehen.
Ein ganz ähnlicher Prozess wird wohl auch ein paar Jahrzehnte später mit Arminius auf dem anderen Rheinufer stattgefunden haben.
... wobei Arminius' Koalition nur einen kleineren Teil der germanischen Stämme umfasste. Noch nicht einmal die Stämme zwischen Rhein und Weser standen geschlossen hinter Arminius. Die Friesen und Chauken unterstützten die Römer. Und schon bald nachdem Tiberius den Legionen den Rückzug hinter den Rhein befoheln hatte, kam es zum Krieg zwischen Arminius und Marbod.
 
Es ist schon interessant, wie sehr die Begrifflichkeiten heutzutage noch ideologisch aufgeladen sind.
Daraus, dass etwa Isländisch und Gotisch als germanische Sprechen bezeichnet werden, wird eine germanische Ethnie postuliert. Mit gleichem Recht kann man baskisch und estnisch als "europäische" Sprechen bezeichnen, niemand hat deshalb aus beiden ein einheitliches "Europa-Volk" machen wollen.
Um es zum x-ten Male zu wiederholen: "germanisch" ist in diesem Fall nur ein Sammelbegriff, mehr nicht.

Zur Entstehung "der Deutschen" könnte man anfügen, dass diese heute vermutlich nicht gäbe, wenn die fränkischen/karolingischen Erbfolgen nicht auf Teilung beruht hätten. Hätte jeweils nur der älteste geerbt, wären wir vermutlich Franzosen, bei sonst gleichen Genen und Kulturgewohnheiten. Die Ethnogenese sozusagen als Zufall der Familientradition.

Zu Sepiolas Beitrag möchte ich ergänzen, dass gerade im hessischen Gebiet eine Unterscheidung zwischen vorgeblich "keltisch" und ebenso vorgeblich "germanisch" kaum möglich ist. Also auch die von Wiktiko getätigte Aussage, es müsse ein Zusammengehörigkeitsgefühl der sog. "Germanen" gegenüber den sog. "Kelten" gegeben haben, da deren Kultur sich klar unterschied, absolut falsch ist.

Die unterschiedliche Einteilung stammt zunächst von Caesar: Alle unterworfenen Stämme waren Kelten ("ganz Gallien ist besetzt!"), alle anderen Germanen. Eine rein innenpolitisch motivierte Behauptung.
Seit dem versuchen Generationen von Wissenschaftlern, diese Behauptung zu untermauern.
Hierbei hat man vereinfacht die ärmliche Bauernkultur als "germanisch", die wohlhabendere als "keltisch" definiert. Den Mangel an Struktur in den ärmlicheren Fundgegenden hat man gleich ideologisch als "freies Germanentum" gefeiert.

Auch Tacitus muss man nun einmal mit großer Vorsicht hinzuziehen. Ein Römer der für Römer die römische Sicht beschreibt, seine Quellen sind meist nicht bekannt, wir wissen aber, dass viele seiner anderen Schriften stark politisch motiviert waren, wie etwa seine Beschreibung der frühen Kaiserzeit.
Wir haben leider nicht viel mehr als ihn, sollten uns aber immer wieder den Hintergrund klar machen.
 
Ich sehe, in diesem Forum herrscht über gewisse Themen eine gar löbliche Einhelligkeit. Nun ja, ich hoffe ihr verzeiht mir meine häretischen Zwischenrufe ^^

Zunächst einmal möchte ich anmerken, dass es mir eigentlich um ein älteres Zeitfenster ging (ein paar Jahrhunderte früher).
Bei Tacitus findet sich, wie von Riothamus erwähnt, ein mythischer Stammbaum, der den Stammesgruppen der Ingaevonen, Hermionen und Istaevonen eine gemeinsame Abstammung von Tuisto, seinem Sohn Mannus und dessen drei Söhnen nachsagt.
Überhaupt erscheint mir die Vorstellung etwas kurios, die zahlreichen Germanenstämme hätten irgendwie nicht gemerkt, dass sie ganz ähnliche Bräuche und Sitten haben, ganz zu schweigen von Sprache und Religion, und dass sich diese Bräuche, Götter und Sprachen deutlich von denen der Römer oder Kelten unterschieden.
Ich nehme dir deine Zwischenrufe nicht übel, allerdings bin ich doch ein bischen überrascht (immer wieder), dass es noch Kossinnaner gibt.

Dir ging es um ein früheres Zeitfenster? Sprichst du nicht die ganze Zeit von einem Raum-Zeitkontinuum von der Jasdorfkultur oder sogar der Trennung der Sprachzweige (jahrtausende Jahre langer Prozess) bis zu den Deutschen heute? Nach den Markomannenkriegen verschwand der Germanentopos fast gänzlich aus der römisch/byzantinischen Histographie.

Zitate Roland Steinacher Steinacher:

"Streng genommen ist der Germanenname eine kurzlebige und offenbar wenig brauchbare ethnographische Kategorie bei Tacitus und Cäsar gewesen. Die griechische Literatur verwendete den Germanenbegriff kaum. In den lateinischen Quellen kann man nach dem 3. Jahrhundert beobachten, wie Germani entweder auf Franken und Alamannen angewandt oder begrifflich an eine gelehrte Tradition angeknüpft wurde. Der geographische Terminus Germania spielte eine Rolle in kirchlichen Kontexten des karolingischen Europa als Analogie zu einer Gallia, einer Burgundia oder einer Italia, blieb aber sehr unspezifisch."
und
"Ammianus Marcellinus nennt die Alamannen im 4. Jahrhundert n. Chr. am Rhein Germani oder Barbari. Dabei versteht er den Germanenbegriff geographisch und als gelehrte Anspielung auf Caesar. Orosius gebraucht einige Jahrzehnte später Germani ähnlich, stets für kaiserzeitliche Ereignisse einer nun schon entfernten Vergangenheit. Prokop berichtet im 6. Jahrhundert, die Vandalen seien 406 n. Chr. am Rhein in Konflikt mit den Franken geraten, die früher einmal Germanen genannt worden seien. Und der byzantinische Historiker Agathias meint in der gleichen Zeit, die ehemals Germanen genannten Fran
ken bewohnten nun Gallien. Der Germanenname Caesars und Tacitus’ war zu einem »vergangenheitsbezogenen Bildungsbegriff« geworden."

Und in der Eigenwahrnehmung der germanisch Sprechenden? Warum führten die Franken ihre Origines auf Troja, die Burgunder auf die Römer, und die Goten auf ein mythisches Skandia zurück, und bezeichneten sich selbst nicht als Germanen? Offensichtlich "verschwand" die Bezeichnung Germanen als Oberbegriff einer Völkereinheit nach den Markomannenkriegen aus der römischen Ethnographie, er kann meiner Ansicht in der Eigenwahrnehmung (auch ihrer Sprache, wie nannten sie diese?) der Stämme nicht verankert gewesen sein.

Germanischsprechende begegneten den Menschen aus der geographischen Germania bei römischen Provinzialen in den linksrheinischen Provinzen und in der süddeutschen Provinz Rätien, als römische Auxiliareinheiten, Söldner und hohe Offiziere, wie Flavius Stilicho (also nicht "unser" Stilicho) oder Flavius Arbogast als römische Heermeister, verheiratet mit Römerinnen, mit römischen Müttern (Stilicho und Arbogast dem Jüngeren) - waren diese Germanischsprechenden in ihren Augen Römer oder "Germanen"?

Ein Hinweis darauf, dass die Sprache Verbindungen hergestellt hat, gibt Jarnut mit einem Zitat von Paulus Diaconus, dass Heldenlieder über die Taten des langobardischen Königs Alboin von den Bayern, den Sachsen "et aliis eiusdem linguae hominibus" besungen wurden. (Paulus Diaconus, Historia Langobardorum I, 27) Die Verbreitung der Heldengesänge über gentile Grenzen hinweg erleichterte natürlich die Sprachverwandschaft - doch wer waren beispielsweise "die Bayern"?
"Gerade die Bayern wären ein Paradebeispiel für eine für spätantike Verhältnisse geradezu junge Identität. Erst bei Jordanes und Venantius Fortunatus im 6. Jahrhundert wird ihr Name erwähnt. Eine germanische Sprache sprechende Gruppen, Zuwanderer nach Rätien, germanisch (sprachige)-romanische Provinzialen,naristische, skirische, herulische, donausuebische und alamannische Elemente sowie Thüringer und Langobarden formierten sich zu den Bayern. Es gab vor allem im inneralpinen Bereich Romanen, die der bayrischen Rechtsgemeinschaft angehörten.Vom achten Jahrhundert an kennen die Quellen auch ›slawische‹ Bayern."
Hier die Texte von Steinacher und Jarnut, auf die ich mich gestützt habe. Viel Spaß beim Lesen!
https://homepage.univie.ac.at/r.steinacher/downloads/2010.Wiener Anmerkungen.pdf

http://www.musiklexikon.ac.at:8000/buecher/files/Denkschriften_der_philosophisch-historischen_Klasse/Die_Suche_nach_den_Urspruengen/1. Zugänge zu den Identitäten des Frühmittelalters/germanisch_plaedoyer_107_114.pdf
 
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Dass sich diese Stämme dann trotzdem untereinander bekriegten, unabhängige Ziele verfolgten und auch später getrennt voneinander in das Römische Reich "einwanderten", sagt ja nichts über ein gemeinsames ethnisches Zusammengehörigkeitsgefühl aus.
Davon abgesehen verfügten die Kelten im benachbarten Gallien ja auch nicht über gemeinsame Staatlichkeit; die eklatante Mehrheit entschied sich dann aber doch dafür, gegen Caesar und nicht gegen Vercingetorix in den Krieg zu ziehen.
Ein ganz ähnlicher Prozess wird wohl auch ein paar Jahrzehnte später mit Arminius auf dem anderen Rheinufer stattgefunden haben.
Aber das nur nebenbei. Es ging mir ursprünglich überhaupt nicht um die Frage der politischen Einheit, die es selbstverständlich nicht gab, sondern um ein Zusammengehörigkeitsgefühl als Kultur.....
Sepiola und Stilicho haben dazu schon einiges gesagt: Klaus Tausend stellt in seinem Werk "Im Inneren Germaniens" fest, dass es fast keine Bündnisse zwischen den "Rhein-Weser-Germanen" und "Elbgermanen" gegeben hat, er analysierte alle aus den Schriftquellen bekannten Bündnisse und Foedus/Klientel-Verhältnisse zwischen den Stämmen. Sepiola erwähnt auch, dass die "Nordseegermanen" entweder neutral verblieben, oder sich auf Selbstverteidung beschränkten, oder sich sogar Rom unterwarfen, und sich den Konflikten zwischen Rom und dem Arminius-Bündnis fernhielten. Der Krieg zwischen dem "elbgermanischen/suebischen" Marbod-Bündnis (die Langobarden und Semnonen sind kurz vor der entscheidenden Schlacht allerdings auf Arminius Seite gewechselt) und der "rhein-weser-germanischen" Arminius-Koalition (aus der dessen Onkel Inguiomer mit seinem Klientel zu Marbod übergegangen - erfolgte nur kurz nach dem Ende der römischen Expeditionen 17.n.Chr. Das Letzte als Hinweis, dass von Anfang an eine Parteifraktionierung innerhalb der Cherusker bestand, die durch die stirps regia verlief, und sogar die Brüder Arminius und Flavius trennte.

Die Einteilung in verschiedene Kultverbände bei Tacitus und eingeschränkt Plinius, Kultverbände, die meiner Ansicht nach durchaus real waren, geschahen aus dem römischen Bedürfnis einen territorialen Raum ethnographisch zu ordnen. Gemeinsame Heiligtümer von Stämmen waren den Römern aus der eigenen Historie geläufig, ihres/ das der Latiner war das Heiligtum des Iuppiter Latiaris in den Albaner Bergen. Tacitus wollte seinen römischen Lesern den Status der gesellschaftlichen Entwicklung innerhalb der Germania nahebringen - ihr eigener Iuppiter war inzwischen vom an Naturerscheinungen verknüpften Himmelsgott zum Staatsgott mit Zentralheiligtum auf dem Kapitol geworden, auf den die griechische Mythologie des Zeus übertragen worden war.

Nach dem Vorschlag von Brandt, die Jastorf-Kultur als segmentierte Stammesgesellschaft zu kategorisieren, würde ich den Religionstyp in der vorrömischen Eisenzeit nach der Kultpraxis als kommunalen Religionstyp vermuten:
"Bei dieser Kultform handelt es sich um die Riten, die gemeinsam von den Mitgliedern einer Gruppe abgehalten werden (etwa Initiationsriten, religiös inspirierte Tanzzeremonien, Opferzeremonien usw.). Viele dieser Zeremonien orientieren sich an kalendarischen Zyklen. Ethnien, die neben den individuellen und schamanischen Kulten auch noch gemeinsame Riten kennen, bezeichnet Wallace als „kommunalen“ oder „kollektiven Religionstyp“.
Bei diesem Typ kommt zum animistischen Glauben vor allem der Ahnenkult hinzu. 52 % der Anhänger kommunaler Religionstypen leben vom Feldbau, sie sind zu 52 % in Stammesgesellschaften und zu 31 % in Häuptlingstümern organisiert und besitzen zu 81 % keine Schrift.
Sanderson sieht den wichtigsten Erfolgsgrund für diese traditionellen Religionen im Ahnenkult als wichtigem Sozialfaktor für den Zusammenhalt der komplexer strukturierten Gesellschaften" (wikipedia)


Nach der Typologie nach Lebensweise würde ich die Protogermanen der vorrömischen Eisenzeit zu den Religionen der langjährig sesshaften Feld- und Ackerbauern, polytheistisch mit einer Vielzahl von Göttern und Geisteswesen, Ahnenkult, Hauptgott, Erd- und Fruchtbarkeitsgöttin zuordnen. Es treten auch religiöse Funktionäre auf, die die Kulthandlungen organisieren. Wie sehr diese sich jedoch von Schamanen bei den protogermanischen Stämmen unterscheiden (die aus den Quellen bekannten Seherinnen z.B.) kann ich nicht berurteilen.

Cäsar konstatiert allerdings eine Abwesenheit von Kultpersonal und Opferhandlungen bei den Germanen (b.g. VI,21):"die Germanen haben ganz andere Einrichtungen. Denn weder kennen sie Druiden, die den Kult verstehen, noch sind sie um Opfer bemüht. Unter die Götter rechnen sie nur die, die sie mit Augen sehen und durch die sie sich spürbar unterstützt fühlen: Sonne, Feuergott und Mond; die übrigen kennen sie nicht einmal vom Hörensagen".
Cäsar typisiert die Germanen wie eine Wildbeuter-und Sammlergesellschaft - ein animistischer, schamanistischer Religionstyp - von dem sich das gallische Druidentum mit offiziellem Kult und Theokratie als den Römern verwandt wohltuend abhebt. Vielleicht gab es wirklich Nachrichten von kleinen Gemeinschaften, die in den Sümpfen von Jagd-und Fischfang lebten, im Großen und Ganzen trifft diese Lebensweise nicht mehr auf die Germania zu, sondern ist ein Konstrukt Cäsars aus politischen Interessen.
Trotzdem lässt sich feststellen, dass gerade in Nordostmitteleuropa die Jastorfkulturen in der vorrömischen Eisenzeit die Struktur komplexer sesshafter Kulturen (mit Handel, Polis, Handwerk, Kulturfunktionären) und mit ihr eine komplexe (olympische) Götterwelt noch nicht erreicht hatten, und Naturbezug mit entsprechenden totemistischen Glauben und Geistervorstellungen noch dominant sind - und keine größere soziale und territoriale Ordnung ausgeprägt haben, sondern eher kommunal waren. Gesellschaft und (ethnische) Religion sind immer nur in engster Symbiose anzutreffen; eine gleichartige „religiöse Umwelt“ – gemeint ist an erster Stelle die konkrete Nutzung der naturräumlichen Gegebenheiten, aber auch die soziale Organisation, Wirtschaftsfaktoren, Technologie und die politische Konstellation – führt häufig zu relativ ähnlichen Vorstellungen. Die Kultverbände der Ingaevonen, Hermionen und Istaevonen könnten genau solche sozioökologische "religiöse Umwelten" abbilden: die an Nordsee, das Wattenmeer, die Inseln lebenden Ingaevonen der Marschlandschaften, von Fischfang und Viehhaltung lebend, und den Hermionen im Landesinneren, die auf fruchtbaren Lössböden auch Ackerbau betrieben; (die Istvaeonen lassen sich meiner Ansicht nach schwer zuordnen, da keine Gentilnamen bekannt sind, am Rhein lebend ist eine ungenaue Verortung bei Tacitus - da er rheinwesergermanische Stämme wie die Cherusker den Hermionen zuordnet, zusammen mit den Sueben, kann hier allerdings auch ein Überlieferungsfehler vorliegen - es wäre logischer die Hermionen den Sueben, vielleicht mit einem Zentralheiligtum wie dem bei Tacitus selbst beschriebenen Semnonenhain zuzuordnen, und die "Rhein-Weser-Germanen" in den rechtsrheinischen Schiefergebirgen als rheinnahe Istaevonen, aber dies bleibt spekulativ, da dies die Quellen nicht hergeben).
 
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... am Rhein lebend ist eine ungenaue Verortung bei Tacitus - da er rheinwesergermanische Stämme wie die Cherusker den Hermionen zuordnet, zusammen mit den Sueben, kann hier allerdings auch ein Überlieferungsfehler vorliegen - es wäre logischer die Hermionen den Sueben, vielleicht mit einem Zentralheiligtum wie dem bei Tacitus selbst beschriebenen Semnonenhain zuzuordnen, und die "Rhein-Weser-Germanen" in den rechtsrheinischen Schiefergebirgen als rheinnahe Istaevonen, aber dies bleibt spekulativ, da dies die Quellen nicht hergeben).

Tacitus ordnet die Sueben nicht den Herminonen zu. Er zitiert sogar die gegenteilige Meinung, wonach die Marser, Gambrivier, Sueben und Vandilier eben nicht zu den drei genannten Gruppen gehören:
"Einige nun behaupten, wie es in der Willkür gegenüber so alten Zeiten liegt, daß noch mehr (Söhne) von dem Gott abstammen, und es noch mehr Volksbezeichnungen gebe, die Marser, Gambrivier, Sueben und Vandalen, und das seien wirkliche, alte Namen."
(quidam, ut in licentia vetustatis, pluris deo ortos plurisque genus appellationes, Marsos Gambrivios Suebos Vandilios, affirmant, eaque vera et antiqua nomina) Azs Zacirus, Germania

Die Zuordnung der Sueben zu den Herminonen findet sich bei Plinius:

"Die fünf Völker der Germanen:
- Vandilier, dazu gehören Burgodionen, Varinner, Chariner, Gutonen
- Als zweites die Ingvaeonen, dazu gehören die Kimbern, Teutonen und die Volksstämme der Chauken.
- Dem Rhein am nächsten die Istvaeonen, dazu [...]
- Im Binnenland die Hermionen, dazu die Sueben, Hermunduren, Chatten, Cherusker.
- Fünftens die Peukiner, Basternen, benachbart mit den oben erwähnten Dakern"
(Germanorum genera quinque: Vandili, quorum pars Burgodiones, Varinnae, Charini, Gutones. alterum genus Ing<u>aeones, quorum pars Cimbri, Teutoni ac Chaucorum gentes. [100] proximi autem Rheno Ist<u>aeones, quorum * * * mediterranei Hermiones, quorum Suebi, Hermunduri, Chatti, Cherusci. quinta pars Peucini, Basternae, supra dictis contermini Dacis.) bibliotheca Augustana

Wo hast Du die Formulierung "am Rhein lebend" her? Die finde ich weder bei Tacitus noch bei Plinius. Wenn Plinius von den fünf Völkern die Istvaeonen "dem Rhein am nächsten" verortet, dann heißt das nur, dass die Stämme der Istväonen näher am Rhein wohnen als die übrigen Völkerschaften.
 
Falsch ausgedrückt und schlecht erinnert, passt schon, wie du schreibst, Sepiola. Welche Stämme ordnet Plinius denn den Istvaeonen zu?
 
Falsch ausgedrückt und schlecht erinnert, passt schon, wie du schreibst, Sepiola. Welche Stämme ordnet Plinius denn den Istvaeonen zu?

Das wissen wir leider nicht.
In den ganz alten Ausgaben finde ich hier: Proximi autem Rheno Istevones, quorum pars Cimbri
Da scheint der Abschreiber wohl in die falsche Zeile gerutscht zu sein, denn die Kimbern waren ja schon dran und gehören hier offensichtlich nicht rein.
 
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