Frage zur US-Präsidentschaftswahl

Pirx

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Meine Frage an die Spezialisten: Sind die Wahlmänner nur eine abstrakte Recheneinheit, oder sind es reale Personen, die noch einmal gesondert über den Präsidenten abstimmen? Wenn ja: Sind sie an ein Mandat gebunden, oder können sie bei der Abstimmung frei entscheiden? Vielen Dank schon mal!
 
Es handelt sich um realexistierende Personen, die in der Theorie auch anders als vorgesehen abstimmen können, das ist aber vom jeweiligen Bundesstaat abhängig.
 
Es sind nicht nur reale Personen, es hat mWn auch schon (in geringem Umfang) Wahlleute gegeben, die anders abgestimmt haben, als der "Wählerauftrag" es vorsah.

Wenn ich das richtig verstanden habe, wird ein solches Verhalten (inzwischen) in einer Reihe Bundesstaaten bestraft. Das ändert aber nichts an der Entscheidung der Wahlleute. Die können immer noch abstimmen, wie sie wollen, wenn sie die (eher geringe Geld-) Strafe in Kauf nehmen.
 
Meine Frage an die Spezialisten: Sind die Wahlmänner nur eine abstrakte Recheneinheit, oder sind es reale Personen, die noch einmal gesondert über den Präsidenten abstimmen? Wenn ja: Sind sie an ein Mandat gebunden, oder können sie bei der Abstimmung frei entscheiden? Vielen Dank schon mal!

Es sind Personen.

In etlichen Bundesstaaten werden sie durch Eid an die Abstimmung gebunden. Diese Verfahrensweise war Gegenstand von Ray ./. Blair vor dem Supreme Court (zuvor Alabama-Court):
https://en.m.wikipedia.org/wiki/Ray_v._Blair

Das der SC die Verfahrensweise bzw. Rechtmäßigkeit der Vereidigung bestätigt hat, wird man entsprechend die Rechtmäßigkeit von Strafen bei Verletzung des Eides annehmen können. Das Verfahren zeigt zugleich, dass (theoretisch) die Mitglieder - presidential electors - des electoral college "abweichend" zum state-Votum stimmen oder sich enthalten könnten (was bei der Bush jr. Wahl auch durch Enthaltung passiert ist: https://en.m.wikipedia.org/wiki/Barbara_Lett-Simmons )
 
Man muss sich vor Augen führen, dass der Wahlkampf einst nicht mit heutigen Mitteln geführt wurde. Roosevelt war der erste, der mit dem Auto überland fuhr und so mehr Wähler direkt erreichte, während Hitler in Deutschland gleichzeitig schon Flugzeuge nutzte, um möglichst überall auftreten zu können.

Daher wählte man Wahlmänner, die sich die Kandidaten nochmal anschauen konnten. Und diese mussten dann natürlich auch vom eigentlichen Votum abweichen können. Vor einigen Jahren wurde das in der Presse nochmal diskutiert.

Heute ist das natürlich obsolet. Jeder kann sich genügend informieren. Und wer Clinton oder Trump gewählt hat, wusste wen er wählte. Interessant wird es, wenn Wahlmänner für einen Kandidaten gewählt werden, der als Dritter keine Chance hat, auf dessen Wahlmännerstimmen es aber ankommt. Dies hätte bei dieser Wahl durchaus passieren können. Eine solche Situation ist auch oft als Argument für ein indirektes Wahlrecht angeführt worden, da die Wähler des dritten Kandidaten so nicht unter den Tisch fallen.
 
Man muss sich vor Augen führen, dass der Wahlkampf einst nicht mit heutigen Mitteln geführt wurde. Roosevelt war der erste, der mit dem Auto überland fuhr und so mehr Wähler direkt erreichte, während Hitler in Deutschland gleichzeitig schon Flugzeuge nutzte, um möglichst überall auftreten zu können.

Daher wählte man Wahlmänner, die sich die Kandidaten nochmal anschauen konnten. Und diese mussten dann natürlich auch vom eigentlichen Votum abweichen können. Vor einigen Jahren wurde das in der Presse nochmal diskutiert.

Stimmt soweit. Das Wahlmännersystem soll darüber hinaus aber auch das Gewicht der Einzelstaaten bestimmen.

Konkret: die bevölkerungsschwachen Staaten bekommen einen Wahlmännerbonus. In Wyoming kommt ein Wahlmann auf knapp 200.000 Einwohner (nicht Wähler). In Texas kommt ein Wahlmann auf über 700.000 Einwohner.

In den USA weichen daher die Populator Votes immer von den Electional Votes ab. Anders ausgedrückt: eine Stimme aus Texas hat weniger Gewicht als eine aus Wyoming. Texas insgesamt ist für die Präsidentenwahl aber trotzdem wichtiger als Wyoming.

In Deutschland werden die Wahlkreise laufend überprüft und angepasst. Damit jeder Abgeordneter ungefähr dasselbe Wählerpotential (Einwohnerzahl) vertritt.

In den USA gibt es solche Anpassungen auch. Aber nicht mit dem Ziel, jede Stimme gleich zu gewichten.
 
Man muss sich vor Augen führen, dass der Wahlkampf einst nicht mit heutigen Mitteln geführt wurde. Roosevelt war der erste, der mit dem Auto überland fuhr und so mehr Wähler direkt erreichte, während Hitler in Deutschland gleichzeitig schon Flugzeuge nutzte, um möglichst überall auftreten zu können.

Daher wählte man Wahlmänner, die sich die Kandidaten nochmal anschauen konnten. Und diese mussten dann natürlich auch vom eigentlichen Votum abweichen können. Vor einigen Jahren wurde das in der Presse nochmal diskutiert.

Heute ist das natürlich obsolet. Jeder kann sich genügend informieren. Und wer Clinton oder Trump gewählt hat, wusste wen er wählte. Interessant wird es, wenn Wahlmänner für einen Kandidaten gewählt werden, der als Dritter keine Chance hat, auf dessen Wahlmännerstimmen es aber ankommt. Dies hätte bei dieser Wahl durchaus passieren können. Eine solche Situation ist auch oft als Argument für ein indirektes Wahlrecht angeführt worden, da die Wähler des dritten Kandidaten so nicht unter den Tisch fallen.

Also wenn ich es in dem hier geposteten Wikipediaartikel richtig entnehme, wardies nicht der primäre Grund, oder sehe ich das falsch?
 
Welchen Wikipedia-Artikel meinst du? Die einzigen in diesem Thread, die ich finde, beschäftigen sich mit Fällen aus dem 20. Jh., dass Prinzip des Electoral College wurde aber im 18. Jh. installiert.

Neben dem, was Riothamus und steffen04 geschrieben haben, muss man bedenken, dass in der Frühphase der USA die Einzelstatten als Bezugspunkte für die politische Identität ein sehr viel größere Rolle spielten als später, bzw heutzutage. Diese einzelnen Staaten bildeten einen viel wichtigeren Bezugsrahmen für die Wähler, die Bekanntheit der dort am politischen Prozeß beteiligten war also nicht nur wegen der schlechteren Informations-/Infrastruktur wesentlich größer, sondern auch, weil das politische Geschehen im heimischen Staat für die einzelnen Wähler eine viel größere Rolle spielte, als das im fernen Washington; oder in irgendwelchen anderen Staaten, aus denen evtl die Präsidentschaftskandidaten kamen.
 
Also wenn ich es in dem hier geposteten Wikipediaartikel richtig entnehme, wardies nicht der primäre Grund, oder sehe ich das falsch?

Ohne das jetzt mit Wikipedia (mit welchem Artikel?) abzugleichen, erklärt die gewöhnlich zuverlässige Encyclopedia of the US Constitution das so:

"The Constitutional Convention in 1787 had difficulty reaching closure on how to choose the president. After rejecting a variety of methods ranging from popular vote to selection by Congress, the delegates finally determined that the president should be chosen by a group of electors. This decision is often explained in terms of the limited political knowledge of the average citizen of 1787. A more plausible motivation was the need to win support of the small states for the Constitution. The creation of a Senate with equal representation of states, an early small state victory, became the foundation for an electoral college that gives the small states a numerical advantage."
Artikel: Electoral College.

Ein früher Konsens und Verfassungs-Kompromiss im nation-building.
Und dazu ist die "Reihenfolge" weiter von Bedeutung:

"Other than the addition of these amendments [1804], the electoral college technically functions as conceived by the framers. However, in actuality, it was transformed early in its history by the emergence of political parties, the decision by states to choose electors by popular vote, the appearance of partisan lists of electors pledged to a particular candidate, and the appearance of the “winner- take-all” rule (currently used in all states except Maine and Nebraska) in which the candidate winning the popular vote in a state receives all of that state’s electoral votes."
 
Zuletzt bearbeitet:
Steffen007 hat das Beispiel Wyoming angeführt, welches 3 Wahlmänner stellt - in Relation zur Einwohnerzahl dürfte Kalifornien eigentlich 196 Wahlmänner stellen, statt der realen 55.

Was ist der historische Hintergrund für diese Ungleichgewichtung in den Staaten? Tatsächlich, wie Steffen bemerkt, ein Wahlmänner-Bonus für die kleinen bzw. einwohnerschwachen Bundesstaaten der USA bei den bundesweiten Wahlen? Der wäre dann wirklich ziemlich ausgeprägt.

Viele Grüße,

Andreas
 
Steffen007 hat das Beispiel Wyoming angeführt, welches 3 Wahlmänner stellt - in Relation zur Einwohnerzahl dürfte Kalifornien eigentlich 196 Wahlmänner stellen, statt der realen 55.

Was ist der historische Hintergrund für diese Ungleichgewichtung in den Staaten? Tatsächlich, wie Steffen bemerkt, ein Wahlmänner-Bonus für die kleinen bzw. einwohnerschwachen Bundesstaaten der USA bei den bundesweiten Wahlen? Der wäre dann wirklich ziemlich ausgeprägt.

Viele Grüße,

Andreas

Silesia hat die Antwort oben schon gegeben
 
Steffen007 hat das Beispiel Wyoming angeführt, welches 3 Wahlmänner stellt - in Relation zur Einwohnerzahl dürfte Kalifornien eigentlich 196 Wahlmänner stellen, statt der realen 55.

Die Zahl der Mitglieder des Repräsentantenhauses ist auf 435 begrenzt.
Diese werden nach Bevölkerungszahl verteilt, zuletzt 2012.
Kalifornien hat mit 38 Mio. Einwohner anteilig 53 Wahlmänner (von 435 aus dem RH), zuzüglich die 2 Zählstellen aus dem Senat, also 55.

Wyoming hat anteilig 1 Zählstelle gemäß Verteilung Repräsentantenhaus, plus zwei Zählstellen aus den Senatssitzen. Die krasse Ungleichverteilung kommt also iW durch das Verfahren zustande, den Senat pro Bundesstaat unabhängig vom Gewicht, Geografie, Population mit 2 Sitzen zu versehen (Summe 100) was zu zwei Wahlmännern führt, zuzüglich "Stellen" aus dem bevölkerungsgewichteten Repräsentantenhaus. Ergebnis: Wyoming = 3.

Ursache ist also, wie oben angerissen, der Verhandlungserfolg der kleinen Staaten bei der Sitzregelung für den Senat in der Constitution. Dieser wiederum, als Kompromiss, wird auch so dargestellt, dass die Wahl von Washington durch Mitwirkung der "Kleinen" gesichert werden sollte, während sich die Parteienwelt und das Winner-Prinzip erst herausbildeten.
 
Also wenn ich es in dem hier geposteten Wikipediaartikel richtig entnehme, wardies nicht der primäre Grund, oder sehe ich das falsch?

In der Tat. Aber beim Threadthema ging es um die Abstimmungsfreiheit der Wahlmänner. Und das sind historisch benutzte Argumente für indirekte Wahlen. Übrigens auch in deutschen Staaten.

Zur Entwicklung des Amerikanischen Systems ist mittlerweile schon einiges gesagt.
 
Mein Fehler, ich habe fälschlicherweise angenommen, dass der Wikipediaartikel hier gepostet worden ist. Ich bin aber über Riothamus' Links zu dem gekommen.

Danke für die Erklärungen.
 
Macht ja nichts, hatte ich schon verstanden.

Die links waren auch eigentlich nur zur Illustration gedacht, weil der SC-Fall schon wegen der Frage der rechtmäßigen Vereidigung außergewöhnlich ist, und auch der Beispielfall des "Abweichlers" interessant ist. So etwas ist verdeckt oder offen oder - bemerkenswert! - durch Enthaltung auch schon mehrfach vorgekommen, allerdings nie mit Auswirkung auf den Wahlausgang.

Bzgl. der Nachweise kam es mir ohnehin mehr auf die beiden Enzyklopedien an.
 
Diese Verfahrensweise war Gegenstand von Ray ./. Blair vor dem Supreme Court...
Wobei sich dieses Verfahren »auf die Vorwahl eines Elektors ... [bezog], der sich geweigert hatte, sich auf den offiziellen Parteikandidaten zu verpflichten, und nicht auf einen gewählten Elektor selbst«. [1] In dem schon erwähnten Verfassungszusatz (amendment) XII ist von der Verpflichtung (pledge) eines Elektors oder auch nur von der Möglichkeit dazu übrigens nicht die Rede.

Was noch nicht gefragt wurde: Ist die Stimmabgabe im Wahlmänner-Gremium (Electoral College), d.h. die formelle Präsidentenwahl, offen oder geheim? Wäre sie geheim, liefe ja die Verpflichtung samt Vereidigung im Zweifelsfall leer.

Die »Winner-take-all«-Regel wurde schon erwähnt. Die Konsequenzen der einheitlichen Stimmabgabe (unit vote) für das politische System sind gravierend: Die Regelung ist »zuvorkommend für die Gewinner-Partei, hart für die zweite Partei und kommt fast einem Ausschluß von Dritten gleich. ... Viele Gelehrte glauben, dass das amerikanische Zwei-Parteien-System seine Wurzeln in der einheitlichen Stimmabgabe hat und seine Pfahlwurzel [taproot] im Wahlkollegium« [2].


[1] Karl Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten (1959), S. 286; vgl. Levy (Ed.). Encyclopedia of the American Constitution (2nd Ed. 2000), S. 1942
[2] Encyclopedia, S. 867; eig. Übers.
 
Wyoming hat anteilig 1 Zählstelle gemäß Verteilung Repräsentantenhaus, plus zwei Zählstellen aus den Senatssitzen. Die krasse Ungleichverteilung kommt also iW durch das Verfahren zustande, den Senat pro Bundesstaat unabhängig vom Gewicht, Geografie, Population mit 2 Sitzen zu versehen (Summe 100) was zu zwei Wahlmännern führt, zuzüglich "Stellen" aus dem bevölkerungsgewichteten Repräsentantenhaus. Ergebnis: Wyoming = 3.

Danke, Silesa, dieses entscheidende Detail war mir weiter oben entgangen und mir bisher sowieso unbekannt.

Das Verfahren zeigt zugleich, dass (theoretisch) die Mitglieder - presidential electors - des electoral college "abweichend" zum state-Votum stimmen oder sich enthalten könnten (was bei der Bush jr. Wahl auch durch Enthaltung passiert ist: https://en.m.wikipedia.org/wiki/Barbara_Lett-Simmons

Ihre Stimmenthaltung betraf also den damaligen Kandidaten der Demokraten, Al Gore, und war als Protest gegen den Status von D.C. gedacht.

Der Wiki-Artikel Electoral College ist übrigens detailliert und ausführlich - ich hatte bei Lett-Simmons bzw. der notwendigen absoluten Mehrheit der Wahlmänner für die gültige Präsidentenwahl gleich daran gedacht, was geschieht, wenn kein Präsidenten-Kandidat die notwendige absolute Stimmenmehrheit von 270 Wahlmänner-Stimmen erhält (2000 hat Bush jr. alle republikanischen Wählmänner-Stimmen von 271 Stimmen erhalten, 2 Stimmenenthaltungen und er hätte die absolute Mehrheit verfehlt).

Schaut man sich die Wahlmänner-Verteilung für die Kandidaten der weiter zurück liegenden US-Präsidentschaftswahlen - Nixon 1972 oder Reagan 1980 - an, staunt man doch über die teils enorm schwankenden Relationen der Wahlmänner der beiden Kandidaten im Verhältnis zu den Resultaten der Popular Votes.

Viele Grüße,

Andreas
 
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