Gedichte zur Geschichte

Ein Gebet:

Lieber Gott mach mich stumm,
dass ich nicht nach Dachau kumm.
Lieber Gott mach mich taub,
dass ich nicht am Radio schraub.
Lieber Gott mach mich blind,
dass ich alles herrlich find.
Bin ich taub und stumm und blind,
bin ich Adolfs liebstes Kind.
 
Dieses "Gebet" findet "aktualisiert" auch in anderen Diktaturen seinen Adressaten:

Hier das Beispiel eines Leuna-Arbeiters, der 1963 wegen folgender Umdichtung eines Kindergebets zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt wurde:

Lieber Gott, mach mich blind,
dass ich nicht die Mauer find'.
Lieber Gott, mach mich taub,
dass ich nicht dem RIAS glaub'.
Lieber Gott, mach mich stumm,
dass ich nicht ins Zuchthaus kumm.
Bin dann ich taub, stumm und blind,
bin ich Ulbrichts liebstes Kind.


http://www.mdr.de/damals-in-der-ddr/lexikon/1777952.html

Am Anfang steht ein Kindergebet:

Lieber Gott, mach mich fromm,
dass ich in den Himmel komm.
 
ein karnevalsschlager aus 1947/48, manche meinen, es hätte eine schöne nationalhymne werden können, gerüchten zu folge soll es sogar manchmal anstatt einer hymne verwendet worden sein.


Mein lieber Freund, mein lieber Freund,
die alten Zeiten sind vorbei,
ob man da lacht, ob man da weint,
die Welt geht weiter, eins, zwei, drei.
Ein kleines Häuflein Diplomaten
macht heut` die große Politik,
sie schaffen Zonen, ändern Staaten.
Und was ist hier mit uns im Augenblick?

Wir sind die Eingebornen von Trizonesien,
Hei-di-tschimela tschimela-tschimela-tschimela-bumm!
Wir haben Mägdlein mit feurig wilden Wesen,
Hei-di-tschimela tschimela-bumm!
Wir sind zwar keine Menschenfresser,
doch wir küssen um so besser.
Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien,
Hei-di-tschimela tschimela-tschimela-tschimela-bumm!

Doch, fremder Mann damit du´s weißt,
ein Trizonesier hat Humor,
er hat Kultur, er hat auch Geist,
darin macht keiner ihm was vor.
Selbst Goethe stammt aus Trizonesien
Beethovens Wiege ist bekannt.
Nein, so was gibt´s nicht in Chinesien,
darum sind wir auch stolz auf unser Land.


Text und Musik: Karl Berbuer [1947/1948]

ich find es schon ein wenig beklemmend, mit welch heiterer unbefangenheit man bereits 1947 die jüngste vergangenheit komentierte.

"ob man da lacht, ob man da weint", egal, denn "wir sind kein menschenfresser."

ponzelar
 
Angeblich wurde der Song auch für den deutschen Sieger bei einem internationalen Radrennen 1949 in Köln gespielt. Die anwesenden alliierten Offiziere salutieren.(1)

(1) Becker, Hannelore: "Et jeht als widder los", in: Grafe, Peter / Hombach, Bodo / Grätz, R. (Hrsg.): "Der Lokomotive in voller Fahrt die Räder wechseln", Berlin / Bonn
 
kabaretistischer rückblick aus dem jahr 1958:

Die Straßen haben Einsamkeitsgefühle
Und fährt ein Auto, ist es sehr antik
Nur ab und zu mal klappert eine Mühle
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg
Aus Pappe und aus Holz sind die Gardinen
Den Zaun bedeckt ein Zettelmosaik
Wer rauchen will, der muss sich selbst bedienen
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg

Einst waren wir mal frei
Nun sind wir besetzt
Das Land ist entzwei
Was machen wir jetzt?
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt gibt´s im Laden Karbonaden schon und Räucherflunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Jetzt kommt das Wirtschaftswunder
Der deutsche Bauch erholt sich auch und ist schon sehr viel runder
Jetzt schmeckt das Eisbein wieder in Aspik
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg

Man muss beim Autofahren nicht mehr mit Brennstoff sparen
Wer Sorgen hat, hat auch Likör und gleich in hellen Scharen
Die Läden offenbaren uns wieder Luxuswaren
Die ersten Nazis schreiben fleißig ihre Memoiren
Denn den Verlegern fehlt es an Kritik
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg

Wenn wir auch ein armes Land sind
Und so ziemlich abgebrannt sind
Zeigen wir, dass wir imposant sind
Weil wir etwas überspannt sind
Wieder haun' wir auf die Pauke
Wir leben hoch hoch hoch hoch hoch höher hoch

Das ist das Wirtschaftswunder
Das ist das Wirtschaftswunder

Zwar gibt es Leut, die leben heut noch zwischen Dreck und Plunder
Doch für die Naziknaben, die das verschuldet haben
Hat unser Staat viel Geld parat und spendet Monatsgaben
Wir sind ne ungelernte Republik
Ist ja kein Wunder ist ja kein Wunder
Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg


Musik: Franz Grothe / Text: Günter Neumann / Gesang: Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller(1958)

ponzelar
 
und aus schrecklichen Zeiten:

Zehn kleine Meckerlein

Zehn kleine Meckerlein, die saßen einst beim Wein.
Der eine machte Goebbels nach, da warens nur noch neun.

Neun kleine Meckerlein, die hatten was gedacht.
Dem einen hat man's angemerkt, da waren's nur noch acht.

Acht kleine Meckerlein, die hatten was geschrieben.
Dem einen hat man's Haus durchsucht, da waren's nur noch sieben.

Sieben kleine Meckerlein, die fragten einmal: "Schmeckt's?"
Der eine sagte: "Schlangenfraß!". Da waren's nur noch sechs.

Sechs kleine Meckerlein, die schimpfen auf die Pimpfe.
Der eine sagte: "Lausepack!". Da waren's nur noch fünfe.

Fünf kleine Meckerlein, die saßen am Klavier.
Der eine spielte Mendelson, da waren's nur noch vier.

Vier kleine Meckerlein, die kannten Dr. Ley.
Der eine wusste was von ihm, da waren's nur noch drei.

Drei kleine Meckerlein, die nannten Mythos "Dreck".
Da holte Pg Rosenberg gleich zwei von ihnen weg.

Ein kleines Meckerlein ließ dies Gedicht mal sehn.
Man brachte es nach Dachau hin. Da waren's wieder - zehn.

http://www.jtf.de/camouflage/rkn/rkn99-text.htm
 
Der Revoluzzer

Gewidmet der deutschen Sozialdemokratie

War ein mal ein Revoluzzer
im Zivilstand Lampenputzer;
ging im Revoluzzerschritt
mit den Revoluzzern mit.

Und er schrie: "Ich revolüzze!"
Und die Revoluzzermütze
schob er auf das linke ohr,
kam sich höchst gefährlich vor.

Doch die Revoluzzer schritten
mitten in der Straßen Mitten,
wo er sonsten unverdrutzt
alle Gaslaternen putzt.

Sie vom Boden zu entfernen,
rupfte man die Gaslaternen
aus dem Straßenpflaster aus.
zwecks des Barrikadenbaus.

Aber unser Revoluzzer
schrie: "Ich bin der Lampenputzer
dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!

Wenn wir ihn' das Licht ausdrehn,
kann kein Bürger nichts mehr sehen.
Laßt die Lampen stehn, ich bitt! -
Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!"

Doch die Revoluzzer lachten,
und die Gaslaternen krachten,
und der Lampenputzer schlich
fort und weinte bitterlich.

Dann ist er zu Haus geblieben
und hat dort ein Buch geschrieben:
nämlich, wie man revoluzzt
und dabei doch Lampen putzt.

Erich Mühsam

ermordet am 10. 7. 1934 im Konzentrationslager Oranienburg.
 
Hallo Mercy,

leider weiß ich nicht mehr genau, woher ich dieses "Gebet" habe, bin aber doch ziemlich sicher, dass ich es aus den Tagebüchern Klemperers habe.

Gedichte zur Geschichte.... es ist Schillerjahr... hatten wir Hoffnung schon?

Hoffnung

Es reden und träumen die Menschen viel.
Von bessern künftigen Tagen;
Nach einem glücklichen, goldnen Ziel
Sieht man sie rennen und jagen
Die Welt wird alt und wird wieder jung,
Doch der Mensch hofft immer Verbesserung. Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein,
Sie umflattert den fröhlichen Knaben,
Den Jüngling locket ihr Zauberschein,
Sie wird mit dem Greis nicht begraben;
Denn beschließt er im Grabe den müden Lauf
Noch am Grabe pflanzt er die Hoffnung auf.

Es ist kein leerer, schmeichelnder Wahn,
Erzeugt im Gehirn des Toren;
Im Herzen kündigt es laut sich an:
Zu was Besserem sind wir geboren;
Und was die innere Stimme spricht,
Das täuscht die hoffende Seele nicht.


Ansonsten empfehle ich Heines Romanzero und zwar die Historien und die Lamentationen.


El Quijote
 
El Quijote schrieb:
Hallo Mercy,

leider weiß ich nicht mehr genau, woher ich dieses "Gebet" habe, bin aber doch ziemlich sicher, dass ich es aus den Tagebüchern Klemperers habe.
Gut möglich; aber da gibt es x Varianten.

Carla Meyer-Raschs zitierte es als Spottvers aus Süddeutschland

"Lieber Gott mach mich stumm,
dass ich nicht nach Dachau kumm!
Lieber Gott mach mich taub,
dass ich all den Schwindel glaub!
Lieber Gott mach mich blind,
dass ich Goebbels arisch find!
Bin ich taub, stumm, blind zugleich,
pass ich gut fürs dritte Reich!"

http://www.celle-im-nationalsozialismus.de/Texte/BertraM_CMR.html
 
Eine echte Trouvaille für eine heutige Generation wäre da zum Beispiel der "Hamburger Bericht" von Brecht und Dessau aus dem Jahr 1951, in dem in agitpropagandistischer Spielform gestaltet wurde, wie Zehntausende junger Westdeutscher 1950 zum Deutschlandtreffen nach (Ost-)Berlin gekommen waren und auf der Heimreise in der Nähe von Lauenburg von der westdeutschen Polizei zerniert wurden, nur weil sie "von Deutschland nach Deutschland" gegangen waren.
war 20.09.1977 im Magazin der Berliner Zeitung zu lesen (wobei der "Hamburger Bericht" in der nächsten Magazin-Nr. in Herrnburger Bericht korrigiert wurde).

Berliner Zeitung

BERTOLT BRECHT

Spottlied

Hoch zu Bonn am Rheine sitzen zwei kleine
Böse alte Männer, die die Welt nicht mehr versteh'n.
Zwei böse Greise, listig und leise,
Möchten gern das Rad der Zeit nochmals nach rückwärts drehn.

Schumacher, Schumacher, dein Schuh ist zu klein.
In den kommt ja Deutschland gar nicht hinein.
Adenauer, Adenauer, zeig deine Hand,
um dreißig Silberlinge verkaufst du unser Land.

Hoch zu Bonn am Rheine träumen zwei kleine
Böse alte Männer einen Traum von Blut und Stahl.
Zwei böse Greise, listig und leise
Kochten gern ihr Süpplein am Weltbrand noch einmal.
Schumacher, Schumacher, dein Schuh ist zu klein.
In den kommt ja Deutschland gar nicht hinein.
Adenauer, Adenauer, zeig deine Hand,
um dreißig Silberlinge verkaufst du unser Land.


[In: Herrnburger Bericht. Textausgabe von Bertolt Brecht u. Paul Dessau. Hrsg. vom Zentralrat d. Freien Deutschen Jugend/Zentrale Kulturkommission zur Vorbereitung der III. Weltfestspiele der Jugend u. Studenten für den Frieden 1951 in Berlin, S. 30]

zitiert nach: Albrecht Schöne, Über Politische Lyrik im 20. Jahrhundert, Göttingen. 3. Aufl. 1972
 
Hallo miteinander,

erst einmal möchte ich sagen, daß ich dieses Thema sehr interessant finde :hoch:
Ich erlaube mir, in die Zeit der Kreuzzüge zu springen und einen authentischen Text einzustellen, welcher u.a. die damalige Stimmung widerspiegelt - und es wundert mich, das dies noch keiner vorher getan hat :grübel:
Der Text ist - natürlich - in Mittelhochdeutsch (wenngleich die PC Tastatur keine exakte Schreibweise zuläßt); die Übertragung habe ich danach angefügt... ;)

Das Palästinalied

Allererst lebe ich mir werde,
sit min sündic ouge siht
Daz reine lant und ouch die erde
den man so vil eren giht.
Mirst geschehen des ich ie bat,
ich bin komen an die stat
da got mennischlichen trat.

Schoeniu lant rich unde here,
swaz ich der noch han gesehen,
So bist duz ir aller ere.
waz ist wunders hie geschehen!
Daz ein magt ein kint gebar
herre über aller engel schar,
was daz niht ein wunder gar?

Hie liez er sich reine toufen,
daz der mensche reine si.
Sit liez er sich hie verkoufen,
daz wir eigen wurden fri.
Anders waeren wir verlorn.
wol dir, sper kriuz unde dorn!
we dir, heiden! deist dir zorn.

Hinnen fuor der sun zer helle
von dem grabe, da'r inne lac.
Des was ie der vater geselle,
und der geist, den niemen mac
Sunder scheiden: est al ein,
sleht und ebener danne ein zein,
als er Abrahame erschein.

Do er den tiuvel do geschande,
daz nie keiser baz gestreit,
Do fuor er her wider ze lande.
do huob sich der juden leit,
Daz er herre ir huote brach,
und man in sit lebendic sach,
den ihr hant sluoc unde stach.

In diz lant hat er gesprochen
einen angeslichen tac,
Da diu witwe wirt gerochen
und der weise klagen mac
Und der arme den gewalt
der da wirt an ime gestalt.
wol im dort, der hie vergalt!

Kristen juden unde heiden
jehent daz diz ir erbe si:
Got müez ez ze rehte scheiden
durch die sine namen dri.
Al diu welt diu stritet her:
wir sin an der rehten ger,
reht ist daz er uns gewer.

Walther von der Vogelweide (um 1220/28)

Jetzt erst erfahre ich mein Leben als wesentlich,
da mein sündiges Auge
das heilige Land erblickt und die Erde,
die man so verehrend preist.
Mir ist geworden, worum ich immer gebeten habe,
ich bin an die Stätte gekommen,
da Gott in menschlicher Gestalt wandelte.

Schöne Lande, reich und herrlich,
wie viele von ihnen auch ich gesehen habe,
du bist doch ihrer aller Krone!
Welch Wunder ist hier geschehen!
Daß eine Jungfrau ein Kind gebar,
Herr über das Heer aller Engel,
war das nicht das Wunder aller Wunder?

Hier ließ er, der Reine, sich taufen,
auf daß auch der Mensch rein sei.
Dann ließ er sich verraten und binden,
damit wir Eigenleute frei würden,
sonst wären wir verloren gewesen.
Dank Dir, Lanze, Kreuz und Dornenkrone!
Weh dir, Heidenschaft, du empörst dich darob!

Von hier fuhr der Sohn zur Hölle
aus dem Grab, in dem er gelegen hatte.
Dabei war immer der Vater sein Gefährte
und der Geist, den niemand
sonderlich scheiden kann: es ist ganz eines,
glatt und ebener als ein Pfeilschaft,
so wie er Abraham erschien.

Als er den Teufel dann zu Schanden gemacht hatte
- besser als je ein Kaiser gekämpft hat -,
kam er zurück auf die Erde.
Da geschah, was den Juden schmerzte:
daß er, der Herr, ihre Bewachung brach,
und man ihn seither als Lebenden erblickte,
den ihre Hand geschlagen und gestochen hatte.

In dieses Land hat er anberaumt
den Tag des letzten Gerichtes,
da die Witwe gerächt wird
und die Waisen Klage erheben können
und die Armen wider die Gewalt,
die sich an ihnen ausläßt.
Wohl ihm dort, der in diesem Leben seine Schuld beglichen hat!

Christen, Juden und Heiden
behaupten, dies sei ihr Erbland.
Gott möge es rechtlich schlichten
im Namen seiner Dreieinigkeit.
Die ganze Welt macht ihre Ansprüche hierher geltend.
Wir allein verlangen es rechtens.
Gerecht ist, daß er uns stattgibt.

Übertragung von Peter Wapnewski auf Basis von Lachmann-Kraus (1962)

Anm.: Wer den Wortlaut als militant und/oder intolerant empfindet, halte sich bitte vor Augen, daß das Lied aus dem 13. Jahrhundert ist!
 
Persönlich finde ich Texte interessant, welche historische Ereignisse ihrer Zeit zum Inhalt haben.
Hier ein Auszug aus einer zypriotischen Ballade des späten 16. Jahrhunderts, welche die siegreiche Abwehr der osmanischen Belagerung durch die Malteserritter im Jahr 1565 thematisiert.
Hintergrund: Die Osmanen versuchten im Jahr 1565, die Insel Malta zu erobern - mit zwei Zielen, nämlich dem endgültigen Sieg über den Malteserorden und dem Gewinn eines strategisch wichtigen Punktes im Mittelmeerraum, welchen sie nicht vollständig kontrollierten. Ein Invasionsheer von 40000 Leuten mit 200 Schiffen landete auf Malta, wurde aber letztlich von knapp 700 Rittern des Ordens und den 9000 Einwohnern Maltas abgewehrt. Hätte Malta der Belagerung nicht standgehalten, wäre die europäische Geschichte wohl anders verlaufen.

Von draußen rief man ihr zu;
von den Wällen kam die Antwort.
"Goldenes, silbernes Malta,
Malta aus edlem Metall,
Malta, wir werden dich nicht erobern,
selbst wenn du nur eine Melone wärest,
selbst wenn dich nur die Schale einer Zwiebel schützte."
"Ich bin es,
welche die Galeeren des Großtürken dahinraffte,
all die Tapferen
aus Konstantinopel und Galatien."


Auch diese Ballade kann natürlich nur im Kontext ihrer Zeit verstanden werden.
 
Dem 31. Oktober 1817

Dem 31. Oktober 1817

Dreihundert Jahre hat sich schon
Der Protestant erwiesen,
Daß ihn von Pabst- und Türkenthron
Befehle baß verdrießen.
Was auch der Pfaffe sinnt und schleicht,
Der Prediger steht zur Wache,
Und daß der Erbfeind nichts erreicht,
Ist aller Deutschen Sache.

Auch ich soll gottgegebene Kraft
Nicht ungenützt verlieren,
Und will in Kunst und Wissenschaft
Wie immer protestieren.

Johann Wolfgang von Goethe
 
O ihr Wissenden

wusstet ihr, dass Hunger die Augen glänzen lässt
dass Durst sie trübt




O ihr Wissenden

wusstet ihr, dass man seine Mutter tot sehen und keine
Tränen haben kann


O ihr Wissenden

wusstet ihr, dass man morgens sterben will und abends
Angst hat



O ihr Wissenden

wusstet ihr, dass ein Tag länger dauert als ein Jahr
eine Minute länger als ein Leben



O ihr Wissenden

wusstet ihr, dass Beine zerbrechlicher sind als Augen
Nerven härter als Knochen
das Herz widerstandsfähiger als Stahl
Wusstet ihr, dass die Steine am Weg nicht weinen,
dass es nur ein Wort für Entsetzen gibt
nur ein Wort für Angst
Wusstet ihr, dass das Leiden keine Schranke kennt
der Schrecken keine Grenze



Wusstet ihr es
ihr Wissenden



(Charlotte Delbo)
 
Zur Autorin dieses Gedichtes der biografische Hintergrund:

Charlotte Delbo wurde am 10. August 1913 in Vigneux-sur-Seine geboren. Sie wird Mitglied der kommunistischen Jugend und Assistentin von Louis Jouvet, einem damals berühmten Schauspieler. Nach der Besetzung Frankreichs durch die deutschen tritt sie der Widerstandsvereinigung bei und wird am 12. März 1942 zusammen mit ihrem Mann verhaftet. Ihr Mann wird am 23. Mai 1942 von den Nazis erschossen. Charlotte wird zunächst in das Gefängnis la Sante gesperrt und am 24. Januar 1943 mit 230 anderen Frauen nach Auschwitz deportiert. Sie ist eine von 49 Frauen des Transports, die Auschwitz überleben. Für den Rest des Lebens hat sie die Nummer 31661 auf den Unterarmen eintätowiert. Nach der Befreiung arbeitet sie für die UNO und beginnt zu schreiben. Sie stirbt am 1. März 1985.

Charlotte Delbo
 
Todesfuge

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne und er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor lässt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr anderen singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr andern spielt weiter zum Tanz auf

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland

dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith

(paul celan, 1948)
 
DIE JOHANNITER
Die Ritter des Spitals zu Jerusalem

Herrlich kleidet sie Euch, des Kreuzes furchtbare Rüstung,
Wenn ihr, Löwen der Schlacht, Akkon und Rhodos beschützt,
Durch die syrische Wüste den bangen Pilgrim geleitet,
Und mit der Cherubim Schwert steht vor dem Heiligen Grab.
Wenn ihr, Löwen der Schlacht, Söhne des edelsten Stamms,
Dient an des Kranken Bett, dem Lechzenden Labung bereitet,
Und die niedrige Pflicht christlicher Milde vollbringt.
Religion des Kreuzes, nur du verknüpftest, in einem Kranze,
der Demut und Kraft doppelte Palme zugleich!

aus Friedrich Schiller "Gedankengedichte" (1795)
 
„Sisi, komm!“

Theodor Fontane

"Sisi, komm!" oder Die Ischler Verlobung

Tief im stillen Bayernlande,
Wo das Schlößchen Possenhofen
Weich in Starnbergs See sich spiegelt,
Wuchs des Reiches wilde Rose
Kräftig auf, die zweite Tochter
Ihrer Mutter Ludovica
Und des Herzogs Max in Bayern,
Lebensfrohen Privatiers -
Wittelsbach'sche Nebenlinie.

Sisi hieß sie. „Sisi, komm!“
Hört' man es im Garten schallen,
Wenn sie mit Gespielen tobte,
Quick und munter, ein Naturkind,
Wie sie wohl der Herzog nannte,
Ihre kapriziöse Laune
Väterlichen Herzens duldend.
Zahlreich war des Mannes Nachwuchs
In- und außerhalb des Schlosses.

Von den Plänen ihrer Mutter,
Fürsorglich in Wien betrieben,
Wußte unsre Sisi wenig,
Galten sie doch auch der Schwester,
Der gebildeten Helene,
Die dereinst den Thron von Östreich
Neu mit Bayern zu verbinden
Schien geeignet - Vetter Franz,
Kaiser, ging auf Freiersfüßen.

Ihm zu seinem Wiegenfeste
Fristgerecht zu gratulieren,
Wie Familiensinn es eingibt,
Brach zu dritt man auf nach Ischl,
Ludovica und die Töchter
(Herzog Max schien nicht recht passend).
Sisi ward zur Camouflage
Mitgeführt, doch kaum beachtet,
Ein Naturkind, leise schmollend.

Welch ein Fest! Der junge Kaiser,
Schlank, im weißen Waffenrocke,
Goldnes Vließ und rote Hosen,
War bezaubernd, - aber Sisi,
Ganz Natur, war noch viel schöner,
Und des Fürsten Neigung wandte
Jäh sich ihr zu, nicht Helenen.
Ein verliebter Österreicher
Kennet Türe nicht noch Riegel.

Einem Kaiser gibt man keinen
Korb, so rät die kluge Mutter.
Sicherlich ist Franz der Richt'ge,
Sieht gut aus und ist von Adel,
Seine Stammburg, teils Ruine,
Meint der Vater, liegt im Aargau.
Nun fehlt nur noch das Gelöbnis,
Das der Ringtausch festlich ausdrückt,
Vielgefeiert, kaum verstanden.

Wünschen wir dem edlen Paare,
Das so zeitig sich versprochen,
Alles Glück! Es scheint gegründet.
Glanz umgibt die Bayerntochter
Und die Liebe ihres Mannes.
Selten sind an Fürstenhöfen
Glanz und Liebe so verbunden.
Nur im Park von Possenhofen
Tönt es leise: „Sisi, komm!“

Fontane weilte 1856 ein paar Tage in München. Kaiser Franz Josephs vielbeachtete Verlobung mit der wittelsbachischen Prinzessin Elisabeth, Herzogin in Bayern, lag damals erst drei Jahre, die Hochzeit erst zwei Jahre zurück.
Wer denkt bei der Schlußzeile nicht an das berühmtere: „Effi, komm!“?
 
Schlachtgesänge

Die Schlacht bei Bronzell

Nicht weit von Bonifatius stillem Grabe,
Bei Bronzell stand die Heeresmacht bereit.
Das Blut des Feindes schien uns kühle Labe,
Zu lange währte schon die Friedenszeit.
|:Noch weckt die Wunde, die man „Olmütz“ nennt,
Die Kampfeslust im zehnten Regiment.:|

Wir rückten vor, die Bayern retirierten,
Dann rief ein streng' Kommando uns zurück.
Als wir Husaren heimwärts galoppierten,
Da jauchzt' der Feind und wähnte sich im Glück.
|:Bis jäh ein Schimmel das Signal verkennt,
Das schönste Pferd im zehnten Regiment.:|

Ganz ohne Reiter trabt's dem Feind entgegen,
Man will es fangen, doch das duldet's nicht.
Und wiehert unverzagt im Kugelregen,
Als sucht's den Ehrenplatz im Kriegsbericht.
|:Bis heiß ein Streifschuß ihm den Schweif verbrennt,
Da kehrt es heim zum zehnten Regiment:|

Theodor Fontane

Bronzell, so erfahren wir in Meyers Konversationslexikon von 1888, ist ein
Dorf im preuß. Regierungsbezirk Kassel, südlich bei Fulda, mit 240 Einw., bekannt geworden durch die sogen. Schlacht von B.
Als 1850 bei dem kurhessischen Verfassungsstreit bayrische Exekutionstruppen in Hessen einrückten, schien Preußen diesen bewaffneten Widerstand entgegensetzen zu wollen und ließ Truppen unter General Gröben einrücken, welche Kassel besetzten und sich Fulda näherten. Die gegenseitigen Vortruppen stießen 8. Nov. bei B. aufeinander und wechselten einige Schüsse, wobei ein Trompeterpferd (der vielgenannte "Schimmel von B. ") als einziges Opfer gefallen sein soll.


Hier schreckte Fontane nicht davor zurück, fremde Dichtungen schonungslos zu persiflieren: So verbindet er ein einst populäres Lied von Julius Mosen aus dem polnischen Freiheitskampf mit einer militärischen Begebenheit, die jeglichen Ernstes entbehrt:


Julius Mosen

Die letzten Zehn vom vierten Regiment

In Warschau schwuren Tausend auf den Knien:
Kein Schuß im heil'gen Kampfe sei gethan,
Tambour, schlag' an! Zum Blachfeld laß' uns ziehen!
Wir greifen nur mit Bajonetten an!
Und ewig kennt das Vaterland und nennt
Mit stillem Schmerz sein viertes Regiment.

Und als wir dort Praga blutig rangen,
Kein Kamerad hat einen Schuß gethan,
Und als wird dort den argen Todfeind zwangen,
Mit Bajonetten ging es d'rauf und d'ran!
Fragt Praga, das die treuen Polen kennt!
Wir waren dort das vierte Regiment.

Drang auch der Feind mit tausend Feuerschlünden
Bei Ostrolenka grimmig auf uns an;
Doch wußten wir sein tückisch Herz zu finden,
Mit Bajonetten brachen wir die Bahn!
Fragt Ostrolenka, das uns blutend nennt!
Wir waren dort das vierte Regiment.

Und ob viel wack're Männerherzen brachen;
Doch griffen wir mit Bajonetten an,
Und ob wir auch dem Schicksal unterlagen;
Doch hatte Keiner einen Schuß gethan!
Wo blutigroth zum Meer die Weichsel rennt,
Dort blutete das vierte Regiment!

O weh! das heil'ge Vaterland verloren!
Ach, fraget nicht: wer uns dies Leid gethan?
Weh Allen, die in Polenland geboren!
Die Wunden fangen frisch zu bluten an; –
Doch fragt ihr: wo die tiefste Wunde brennt?
Ach, Polen kennt sein viertes Regiment!

Ade, ihr Brüder, die zu Tod getroffen
An unsrer Seite dort wir stürzen sah'n!
Wir leben noch, die Wunden stehen offen,
Und um die Heimat ewig ist's gethan;
Herr Gott im Himmel, schenk' ein gnädig End'
Uns letzten noch vom vierten Regiment! –

Von Polen her im Nebelgrauen rücken
Zehn Grenadiere in das Preußenland
Mit düst'rem Schweigen, gramumwölkten Blicken;
Ein »Wer da?« schallt, sie stehen festgebannt,
Und Einer spricht: »Vom Vaterland getrennt
Uns letzten Zehn vom vierten Regiment!«


Zu Fontanes unbekannten bayerischen Balladen vgl.
Fontane: Bayerische Balladen
 
Andreas Hofer

Nach der Niederlage in der 4. Bergisel-Schlacht am 1. 11. 1809 mußte Andreas Hofer fliehen. In einer hochgelegenen Alm im heimatlichen Passeiertal versteckte er sich von Ende November bis zu seiner Gefangennahme. Nach Verrat wurde Hofer nach Mantua transportiert. Napoleon hatte inzwischen den Befehl gegeben, Hofer nach einer formellen Kriegsgerichtsverhandlung standrechtlich zu erschießen. Am 20. Februar 1810 wurde Andreas Hofer in Mantua erschossen.


Andreas Hofers Tod

Treu hingst du deinem alten Fürsten an,
Treu wolltest du dein altes Gut erfechten;
Der Freiheit ihren ew'gen Bund zu flechten,
Betratst du kühn die große Heldenbahn,

Und treu kam auch dein Volk zu dir heran,
Ob sie der Väter Glück erkämpfen möchten.
Ach! wer vermag's, mit Gottes Spruch zu rechten?
Der schöne Glaube war - ein schöner Wahn.

Es fangen dich die Sklaven des Tyrannen;
Doch wie zum Siege blickst du himmelwärts.
Der Freiheit Weg geht durch des Todes Schmerz!

Und ruhig siehst du ihre Büchsen spannen.
Sie schlagen an, die Kugel trifft ins Herz,
Und deine freie Seele fliegt von dannen


Theodor Körner (1812)

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Andreas Hofer

Als der Sandwirt von Passeier
Innsbruck hat mit Sturm genommen,
Die Studenten, ihm zur Feier,
Mit den Geigen mittags kommen,
Laufen alle aus der Lehre,
Ihm ein Hochvivat zu bringen,
Wollen ihm zu seiner Ehre
Seine Heldentaten singen.

Doch der Held gebietet Stille,
Spricht dann ernst: »Legt hin die Geigen!
Ernst ist Gottes Kriegeswille.
Wir sind all' dem Tode eigen.
Ich ließ nicht um lust'ge Spiele
Weib und Kind in Tränen liegen;
Weil ich nach dem Himmel ziele,
Kann ich ird'sche Feind' besiegen.

Kniet bei euren Rosenkränzen!
Dies sind meine frohsten Geigen;
Wenn die Augen betend glänzen,
Wird sich Gott der Herr drein zeigen.
Betet leise für mich Armen,
Betet laut für unsern Kaiser,
Dies ist mir das liebste Karmen:
Gott schütz' edle Fürstenhäuser!

Ich hab' keine Zeit zum Beten,
Sagt dem Herrn der Welt, wie's stehe,
Wie viel Leichen wir hier säten
In dem Tal und auf der Höhe,
Wie wir hungern, wie wir wachen,
Und wie viele brave Schützen
Nicht mehr schießen, nicht mehr lachen –
Gott allein kann uns beschützen!«

Max von Schenkendorf 1813

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Noch heute bekannt:

Hofers Tod

Zu Mantua in Banden
Der treue Hofer war.
In Mantua zum Tode
Führt ihn der Feinde Schar;
Es blutete der Brüder Herz,
Ganz Deutschland, ach, in Schmach und Schmerz!
Mit ihm das Land Tyrol.

Die Hände auf dem Rücken,
Andreas Hofer ging
Mit ruhig festen Schritten,
Ihm schien der Tod gering;
Der Tod, den er so manchesmal
Vom Iselberg geschickt ins Thal
Im heil'gen Land Tyrol.

Doch als aus Kerkergittern
Im festen Mantua
Die treuen Waffenbrüder
Die Händ' er strecken sah,
Da rief er aus: »Gott sei mit euch,
Mit dem verrathnen deutschen Reich,
Und mit dem Land Tyrol!«

Dem Tambour will der Wirbel
Nicht unter'm Schlägel vor,
Als nun Andreas Hofer
Schritt durch das finst're Thor; –
Andreas noch in Banden frei,
Dort stand er fest auf der Bastei,
Der Mann vom Land Tyrol.

Dort soll er niederknien.
Er sprach: »Das thu ich nit!
Will sterben, wie ich stehe,
Will sterben, wie ich stritt!
So wie ich steh auf dieser Schanz';
Es leb' mein guter Kaiser Franz,
Mit ihm sein Land Tirol!«

Und von der Hand die Binde
Nimmt ihm der Korporal;
Andreas Hofer betet
Allhier zum letzten Mal.
Dann ruft er: »Nun, so trefft mich recht!
Gebt Feuer! ach, wie schießt ihr schlecht!
Ade, mein Land Tyrol!«

Julius Mosen

Das Andreas-Hofer-Lied ist seit 1948 Tiroler Landeshymne. Am Bergisel erinnern eine Bronzestatue und ein gewaltiges Gemälde an den Freiheitskämpfer gegen die napoleonische Herrschaft, am Sandhof in Passeier (Südtirol) ein Hofer-Museum.

http://de.geocities.com/ahbund/200_geburt_mosen.htm
 
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