Grenzen der Aufklärung - Emile ou de l'eduction von Jean-Jacques Rousseaus

guttermouth

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Hallo liebe Forengemeiden,

wir lesen zur Zeit im Geschichtsunterricht verschiedene Schriften von Aufklärungsphilosophen. Letzte Stunde haben wir uns mit der Schrift "Emile ou de l'eduction" von Jean-Jacques Rousseaus beschäftigt. Dieser Text wurde mit der Überschrift Grenzen der Aufklärung betitelt. Leider ist der Text sehr kompliziert geschrieben und mir stellt sich die Frage, worin Rousseau die Grenzen in der Aufklärung gesehen hat. Er geht ziemlich stark auf das Thema Erziehung ein und sagt, dass man schon in frühester Kindheit durch eine unsinnige Erziehung zur Brillianz geschult und die Urteilskraft verdorben wird. Außerdem behauptet er, dass Falsches in unendlich vielen Kombinationen auftreten kann, die Wahrheit aber hat nur eine Form.
Wie soll man diesen Text von Rousseaus verstehen, in seinem anderem Text "Du Contrat social ou principes du droit politique" ist er doch regelrecht ein Aufklärungs vernatiger und fordert einen gemeinschaftlichen Willen, der gleichzeitig der Beste ist.

Meine Fragen:
Worin sieht Rousseaus die Grenzen der Aufklärung? Denkt er, dass Subjektivität, Bodenständigkeit, Bewusstsein und Meschlichkeit durch die Wissenschaft verloren gehen und dass man sich auch an seiner Kultur festhalten soll?
Und wie lässt sich dieser Ansatz auf die Gegenwart übertragen?
Hält er das Ratio immernoch für das Beste fordert aber ein wenig mehr Bauchgefühl, weil dieses Bauchgefühl häufig bei Entscheidungen außer Acht gelassen wird?


Es würde mich freuen, wenn mir jemand diese Grenzen von Rousseaus verstöndlich aufzeigen könnte. Unsere nächste Geschichtsstunde ist leider auch schon morgen.

Grüße

Guttermouth
 
Rousseau entwirft als Ausweg aus dem Dilemma der damaligen Gesellschaft zwei Utopien:

1. Den "Emile" - ein Knabe, der sich zunächst über die Sinne die Welt erschließt unter Ausschluss der Gefühls- und Fantasiewelt. Mutterliebe wird ersetzt durch die Unterwerfung unter die Naturgesetze und der Mensch ist nur abhängig von den Dingen. Der Staat, das Gemeinwesen, spielt für das Individuum keine Rolle.

2. Den "Contrat social" - das Prinzip der politischen Erziehung, der Erziehung zum Citoyen als Teil der Gesellschaft- ohne sie nicht fähig zu existieren.

Diese beiden Konzepte der Erziehung stehen bei Rousseau gleichwertig nebeneinander, sind aber- wie Du siehst- logisch nicht zu vereinbaren.

... Vielleicht kannst Du Deinen Text jetzt etwas besser verstehen und kannst Dir eine Antwort auf Deine Frage erschließen. ;)
 
Diese beiden Konzepte der Erziehung stehen bei Rousseau gleichwertig nebeneinander, sind aber- wie Du siehst- logisch nicht zu vereinbaren.

Natürlich sind beide Konzepte vereinbar, nämlich dann, wenn man den Emile nicht als Ratgeber für konkrete Erziehungsfragen liest, sondern als Gedankenexperiment, mit dem aufgezeigt werden soll, dass die Utopie des Gesellschaftsvertrages mit der menschlichen Natur (die nämlich nur durch die Erziehung Entfremdung erfahren hat) vereinbar ist.

Aber darum geht es an dieser Stelle ja nicht primär.

Worum es geht, sind die Grenzen von Rousseaus Aufklärungsgläubigkeit. Ehrlich gesagt verstehe ich aber nicht, wie man gerade den Emile zur Klärung dieser Frage heranziehen kann.

Vielleicht kann unser Gast ja die Stelle aus dem Emile einstellen. Diverse Ausgaben stehen ja online, so dass das per Copy+Paste leicht gehen sollte. Auch wenn die Stunde bereits morgen ist...
 
Natürlich sind beide Konzepte vereinbar, nämlich dann, wenn man den Emile nicht als Ratgeber für konkrete Erziehungsfragen liest, sondern als Gedankenexperiment, mit dem aufgezeigt werden soll, dass die Utopie des Gesellschaftsvertrages mit der menschlichen Natur (die nämlich nur durch die Erziehung Entfremdung erfahren hat) vereinbar ist.
Nicht nur ich sehe die beiden Konzepte als nicht vereinbar an. Auch nach Rousseau ließen sie sich nicht vereinbaren (vgl. M. Rang: Rousseaus Lehre vom Menschen, Göttingen 1959, S.154... trotz des Alters immer noch ein Standardwerk).
 
Hallo,

leider handelt es sich bei unserem Text nicht um einen Auszug aus der Emile. Es handelt sich um einen Auszug aus: Jean-Jacques Rousseau, Preisschriften und Erziehungsplan, Bad Heilbrunn 1967, S26f.

Ich habe mich jetzt etwas länger mit diesem Text beschäftigt und mir wichtige Stellen markiert. Nun würde ich euch gerne meine Interpretation von Jean Jacques Rousseaus Einstellung ggü. der Aufklärung darlegen.

Ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass Jean Jacques Rousseaus die Grenzen in der Aufkärung in folgenden Dingen sieht.

-Es gibt mehr Irrwege in der Forschung/Wissenschaft als letzendlich die Wahrheit nützlich ist. Jean Jacques Rousseaus möchte nicht ausschließlich auf das Ratio des Menschen vertrauen, sondern behauptet, dass man Entscheidungen aus einer Mischung aus Ratio und Bauchgefühl zusammensetzen sollte --> Die Wissenschaft kann auch manchmal etwas schlechtes sein, da sie kulturelle Aspekte außenvor lässt.

-Unsinnige Erziehung schult den Geist zur Brillianz verdirbt aber unser Urteilsvermögen. Überall gibt es großartige Lehranstalten, in denen man unter hohem Kostenaufwand die Jugend erzieht, um sie alles Mögliche zu lehren nur nicht was ihre Pflichten sind. Kinder werden ihre eigene Sprache nicht kennen, aber sie werden andere Sprachen sprechen, die nirgendwo Gebrauch finden... Sie werden aber nicht wissen, was die Begriffe: Menschlichkeit, Mut, Mäßigung, Großmut und Gerechtigkeit sind.
Die Wissenschaft also nicht immer das Beste, bei der Erziehung sollte man auch auf nicht vernünftige Elemente setzen.


Im Großen und Ganzen sieht Rousseaus die Aufklärung für wichtig, aber sie sollte nicht an Bodenständigkeit verlieren. Das Bauchgefühl ist auch sehr wichtig, da zu jeder Entscheidung nicht nur die Vernunft gehört, sondern auch ein bisschen Gefühl.

Grüße

guttermouth

PS: Ich hoffe meine Gedankengänge sind richtig.
 
@hulda:

Das kommt darauf an, wie man Rousseau interpretiert. Ich zitiere auch einmal einen Klassiker, nämlich Ernst Cassirer, der sagt dass
"Rousseau das Wort und den Begriff der `Gesellschaft´ von Anfang an in einem doppelten Sinn versteht. Er unterscheidet aufs bestimmteste zwischen der empirischen und der idealen Form der Gesellschaft - zwischen dem, was sie unter den gegenwärtigen Bedingungen ist und dem, was sie sein kann und was sie künftig sein soll. Rousseaus Erziehungsplan lehnt es keineswegs ab, Emile zum Bürger zu erziehen; - aber er erzieht in freilich ausschließlich `zum Bürger derer, welche kommen werden´. Die gegenwärtige Gesellschaft ist diesem Plan nicht reif. Sie will und sie muß sorgfältig ferngehalten werden, damit nicht ihre empirische `Wirklichkeit´ die ideellen Möglichkeiten verdunkelt, die es hier auszurichten und gegenüber der Skepsis des Jahrhunderts zu behaupten gilt. [...] Eben um der `humanitas´ willen schließt er daher die Mitwirkung der `societas´ aus.

Cassirer, Ernst: Das Problem Jean Jacques Rousseau (1932), Darmstadt 1970, S. 68f.
 
Zuletzt bearbeitet:
Im Großen und Ganzen sieht Rousseaus die Aufklärung für wichtig, aber sie sollte nicht an Bodenständigkeit verlieren. Das Bauchgefühl ist auch sehr wichtig, da zu jeder Entscheidung nicht nur die Vernunft gehört, sondern auch ein bisschen Gefühl.

Grüße

guttermouth

PS: Ich hoffe meine Gedankengänge sind richtig.

Das kann ich nicht beurteilen, weil ich die Textgrundlage nicht habe. Es wird sich aber aus einem Auszug aus dem Emile handeln, der mitunter mit "Erziehungsplan" betitelt worden ist. Letztlich sieht Rousseau aber - so verstehe ich deinen Gedankengang - keine Grenzen der Aufklärung (denn sie ist ja wichtig), sondern warnt nur vor einer falsch verstandenen Umsetzung. Klugscheißerei vielleicht, aber solch Feinheiten sind bei der Interpretation solcher Werke durchaus wichtig, wie ich finde.
 
Ich weiß nicht ob es auf Klugscheißerei hinausläuft. Ich glaube, dass Rousseau sagen möchte, dass man nicht immer nur nach den Fakten leben soll die einem die Wissenschaft bietet, sondern sich auch auf sein eigenes Gefühl bei Entscheidungen verlassen soll und sowohl subjektive(Bauchgefühl) als auch objektive (Wissenschaft) Elemente in Entscheidungen einfließen lassen soll. Deswegen sollte man nicht nur nach dem leben, was einem die Wissenschaft vorgaukelt.

Grüße,

Guttermouth
 
Deswegen sollte man nicht nur nach dem leben, was einem die Wissenschaft vorgaukelt.

Grüße,

Guttermouth

Jaja, das sagt er! Die Klugscheißerei war selbstironisch gemeint und nicht auf dich bezogen.

Cassirer schreibt an oben zitierter Stelle in seiner Interpretation:
Die Kraft, die die gegenwärtige Gesellschaft zusammenhält, ist keine andere als die der Konvention, der Gewohnheit und der natürlichen Trägheit. Diese Gesellschaft wird immer bleiben, was sie war, wenn ihr nicht ein kategorisches Sollen, ein unbedingter Wille zur Erneuerung entgegentritt - und wie könnte dieser Wille entstehen, wie könnte er geformt und gestärkt werden, solange der Einzelne sich ständig im Kreise der Gesellschaft bewegt und ihrer Sitte und ihrer Gewohnheiten, ihren Urteilen und Vorurteilen verfällt?

Hiernach offenbar sich R. natürlich auch als Kritiker der herrschenden Wissenschaften - ob er generell als Wissenschaftsskeptiker zu bezeichnen ist, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Er warnt m. E. (ich wiederhole mich) nur vor einer falsch verstandenen Wissenschaft.
 
Rousseau ist ein Befürworter von Freiheit und Bürgerrechten. Allerdings sieht er auch, dass Freiheit dann nicht mehr gut ist, wenn sie für das Gegenüber zur Unfreiheit wird.

Das Zitat "zurück zur Natur" meint einen freien Menschen, der frei ist von teilweise widerlichen Zwängen in Lehnswesen, Untertanentum, religiöser Manipulation, Ausbeutung der Arbeiter, etc..

Der Satz "zurück zur Natur" ist also mit Einschränkungen zu verstehen (die ich eingangs erwähnt habe).

Hier noch ein Link zum Thema:

Rousseaus "Emile" - oder der Beginn moderner Erziehungsreflexion
 
Das Zitat "zurück zur Natur" meint einen freien Menschen, der frei ist von teilweise widerlichen Zwängen in Lehnswesen, Untertanentum, religiöser Manipulation, Ausbeutung der Arbeiter, etc..

Der Satz "zurück zur Natur" ist also mit Einschränkungen zu verstehen (die ich eingangs erwähnt habe).

Und über diese Einschränkungen ist auch zu streiten. Rousseau wollte keineswegs den "Wilden" oder "edlen Wilden" zurück, wie ihm oft unterstellt worden ist, sondern er wollte die Frage stellen, wie der Mensch sei, der ohne Gesellschaft lebe, um eben von da aus den Boden für eine neue Gesellschaft bereiten zu können.

Muss der Mensch in der jetzigen Gesellschaft leben, wie er lebt, oder liegt nicht ein neuer, besserer Entwurf einer Gesellschaft in seiner Natur begründet, den es nur umzusetzen gilt?

Ich denke, dies war die zentrale Frage, um die R.s Gedanken in allen seinen Schriften kreisten.
 
Und über diese Einschränkungen ist auch zu streiten. Rousseau wollte keineswegs den "Wilden" oder "edlen Wilden" zurück, wie ihm oft unterstellt worden ist, sondern er wollte die Frage stellen, wie der Mensch sei, der ohne Gesellschaft lebe, um eben von da aus den Boden für eine neue Gesellschaft bereiten zu können.
Ich muss mal schauen, welcher Fürst es war, aber einer soll, laut Lehndorff seinen Sohn im Sinne Rousseaus erzogen haben, weshalb aus ihm ein rechter Esel geworden wäre.

Wie Du aber schon sagtest, er wird auch gern missverstanden - unser Rousseau.
Das ist aber grundsätzlich das Problem von Philosophen mit mehreren Werken, welche ihre eine Darstellung, dann auch gleich wieder einschränken. Wäre er ein One-Hit-Autor gewesen, so wäre unsere Vorstellung von seinen Wünschen präziser. Ihn misszuverstehen scheint mir auch leichter, als ihn zu verstehen.:still:

Den "edlen Wilden" wollte er sicherlich so wenig zurück wie Voltaire mit seinem "Naturkind", bloß ist in Voltaires Schriften immer jenes Augenzwinkern präsent, welche es leichter macht sie auch in ihrer Zweideutigkeit zu begreifen.
 
Ich kann nur unterstreichen, dass Rousseau eben nicht den Weg zurück in den Urzustand als Ausweg aus der von ihm so negativ beschriebenen gesellschaftlichen Situation will. Als Auswege entwirft er die schon eingangs erwähnten zwei Utopien: den "Emile" und den "Contrat Social".


Anmerkungen zu Rousseau:

Bei Rousseau wird der "bon sauvage" denaturiert zum vom Bösen geleiteten Gesellschaftsmenschen. Hier tritt er in Gegensatz zu Hobbes, der im Naturzustand den Krieg aller gegen alle annahm.

Rousseau lehnt- wie alle Aufklärer- das Erbsündendogma ab, das Böse wird bei ihm als genetisch im Laufe der Entwicklung der Gesellschaft gewachsen gesehen.

"Emile" hätte auf Grund seiner Erziehung die Chance gehabt, in der von Rousseau dargestellten negativen Gesellschaftssituation nicht zum Bösen zu denaturieren.
 
Zuletzt bearbeitet:
@ Hulda

Habe jetzt geschaut. Von der Zeit, als die Erziehung erfolgt ist, kann der Vater allerdings noch nicht nach Rousseaus Vorbild erzogen haben.
(Denkbar wäre freilich, dass das Lehndorff nicht wissen konnte und dennoch bei seiner Formulierung in seinem Tagebuch insgeheim an Rousseau dachte.)

Ich muss mal schauen, welcher Fürst es war, aber einer soll, laut Lehndorff seinen Sohn im Sinne Rousseaus erzogen haben, weshalb aus ihm ein rechter Esel geworden wäre.


"Bei der Königin großes Festessen; alle fremden Prinzen nehmen daran teil, unter anderem auch der Prinz Moritz von Anhalt, der ein eigentümlicher Kauz ist. Sein Vater hat ihn ganz nach der Natur aufwachsen lassen, ohne ihm den geringsten Unterricht zu geben. Demgemäß ist er ein Tölpel geworden, wie es kaum einen gegeben hat. ..."
Eintragung vom 24. Januar 1753*

Zumindest Rousseaus Abhandlung zur Frage "Le Rétablissement des sciences et des arts a-t-il contribué à épurer les mœurs?" dürfte bekannt gewesen sein. Sie sollte 1749/1750 Verbreitung gefunden haben.

* "Die Tagebücher des Grafen Lehndorff ..." Berlin Story Verlag - 2007 -Berlin
S. 62
 
Wobei das Beispiel "ganz nach Natur" genaugenommen fast dem heutigen "antiautoritär" entsprechen würde, womit der Wille des Kindes ausschlaggebend ist, ohne korrektiv einzuwirken.

Wo spricht sich Rousseau denn gegen jegliche Erziehung und Unterricht aus? Ich kann mich im Moment nicht daran erinnern. :grübel:
 
Wo spricht sich Rousseau denn gegen jegliche Erziehung und Unterricht aus? Ich kann mich im Moment nicht daran erinnern.
Tut er auch nicht. Wir finden ja genau in der Diskussion oben, dass er seine Ausführungen zu einer natürlichen Erziehung auch durchaus relativiert wissen wollte. Aber mir scheint, dass man im 18.Jh. das immer wieder platter sah und schlicht das "zurück zur Natur" als Quintessenz von Rousseaus Aussagen interpretierte. "Keine Erziehung" ist dann also eine Überspitzung. (Wobei das mit der "ohne geringsten Unterricht" natürlich auch eine halbe Vermutung/ halbe Gewissheit von Lehndorff gewesen sein könnte.)
 
Andererseits zeigen gerade auch die Aufklärer, vor allem Philosophen, Psychoanalytiker etc. die Diskrepanz zwischen ihren Theorien und selbst gelebter Praxis. Gerade Rousseau verschaffte seinen eigenen Kindern auch nicht gerade eine geliebte, unschädliche Kindheit. Auch wenn es durchaus üblich war, Kinder wegzugeben weil sie lästig waren, hätte er so nicht handeln müssen.

Das 18. Jahrhundert
Aufzeichnungen des Polizeipräfekten Lenoir, 1780 Paris:
- 21 000 Geburten, davon 1000 Kinder von den eigenen Müttern gestillt, 1000 von Hausammen, 19000 von Ammen, die auf dem Land zumeist als Bäuerinnen lebten –. Der Transport der Kinder aufs Land glich Viehtransporten, dicht an dicht in Körben wurden die Kinder auf offenen Karren oder in Sattelkörben auf dem Rücken von Eseln durch die Gegend geschüttelt. Die Säuglingssterblichkeit war hoch. Das führte zu einem Umdenken. Da es in den Städten kaum Frauen gab, die sich als Ammen anboten, entstand ein Markt für einen neuen Berufsstand: die Ammenverdingerin und der Ammenbesorger. Die Ammenverdingerin warb auf dem Land Frauen an und der Ammenbesorger, vermittelte diese in die Stadt, sobald die Ammenverbringerin einen Auftrag für das Stillen eines Säuglings erhalten hatte.

Ludwig der XIV. regelte das Geschäft der Ammen per Erlass. Amme durfte nur sein, wer vom Dorfpriester eine Identitäts- und Moralbescheinigung ausgestellt bekommen hatte. 1769 wurde in Paris ein Hauptamt für Ammenverdingung eingerichtet. Andere Städte in Europa folgten diesem Beispiel: Versailles, Lyon, Stockholm, Hamburg. Bevor eine Amme ihren Job beginnen konnte oder eben nicht, war es üblich, dass ein Arzt die Milch kostete und ein Attest ausstellte:

gekostet und angenommen oder gekostet und abgelehnt

Viele Eltern kümmerten sich bis zum zweiten oder dritten Lebensjahres ihres Kindes nicht ein einziges mal um dessen Wohlergehen, manche kamen nicht einmal zur Beerdigung. Nicht immer steckte Gleichgültigkeit dahinter, denn Frauen wie Männer mussten hart für den Unterhalt ihrer Familie arbeiten. Fürsorge und Erwerbstätigkeit ließ sich in vielen Fällen nicht vereinbaren. Manches Zeugnis über die Sorge der Eltern ist überliefert wie z. B. dieser Brief der Frau eines Pariser Handwerkers an den Bürgermeister des Heimatdorfes ihrer Amme:

„Verzeiht die Belästigung, doch Ihr hört eine Mutter, die in größter Sorge um ihr Kind ist, das am 18. November 1833 einer Amme, einer gewissen Guille, Frau des Holot, wohnhaft in Beaubray, anvertraut wurde. Sie hat am 5. Dezember geschrieben, daß mein Sohn sehr krank sei, und seither sind wir ohne Nachricht. Allmonatlich habe ich ihr Geld an das Amt bezahlt, doch nie hat sie mir den Erhalt bestätigt. Habt die Güte, mir zu antworten, Ihr erwieset damit einer zutiefst beunruhigten Mutter einen großen Dienst.“

Die Hausammen führten ein vergleichsweise sorgenfreies Leben, betrachtet man die reine Oberfläche. Auf die Ernährung der Ammen wurde streng geachtet. So wurde ihnen zartes, junges Fleisch z. B. von Lamm gegeben. Die Speisen durften nicht zu kräftig gewürzt sein. Zwiebeln, Knoblauch, Pfeffer, Minze oder Basilikum durften sie zur Vorbeugung von Blähungen beim Säugling nicht essen. Als milchfördernd galten Kohl, Fenchel, Anis und Kopfsalat. Sie war in der Hierarchie des Personals die Ranghöchste, ihr durfte nicht widersprochen werden aus Angst, dies könnte sich negativ auf ihre Milchbildung auswirken. Doch der Schein trügte. 1904 schrieb der Geburtshelfer Adolphe Pinard: „Sieht man auf den öffentlichen Sparzierwegen eine majestätische und wohlgenährte Amme, die einen Säugling auf dem Arm trägt, so darf man nicht vergessen, dass ihr eigenes armes Kleines oft leidet oder schon gestorben ist.“

Zufüttern
Im Mittelalter wie im 18. Jahrhundert war frühes Zufüttern bei den „Ammen-Kindern“ üblich. Ärzte empfahlen zwischen der 2. Lebenswoche und des. 2. Lebensmonats mit der Beikost zu beginnen. Kriterium für ein gut gedeihendes Kind war sein Gewicht - je fetter, desto gesünder. Ludwig der XIII. bekam beispielsweise seinen ersten Brei im Alter von 4 Wochen: Wasser oder Milch mit gekochtem Brot, manchmal zugesetzt mit Bier oder Wein. Auch Brotsuppe war sehr beliebt. Sie enthielt neben Brot, Butter und Fleischbrühe, manchmal auch Eier. Der Brei wurde vorgekaut, das Kind lutschte ihn vom Finger der Mutter, des Vaters oder der Amme.

Leopold Hugo, geboren 1823, Bruder von Victor, konnte von seiner schwer kranken Mutter nicht gestillt werden. Versuche mit Ammen blieben erfolglos. So besorgte sich die Familie schließlich eine Ziege. Leopold wurde direkt an ihr Euter angelegt und von ihr ernährt.

Eigentlich war Eselsmilch die Ersatzmilch erster Wahl. Nur Esel hatten einen großen Nachteil, sie waren für Städter zu „unhandlich“. Eselsmilch wurde von Ärzten empfohlen, da sie in ihrer Zusammensetzung der Muttermilch am ähnlichsten ist. Neben dem Kinderkrankenhaus der Pariser Fürsorge befand sich im Jahre 1881 ein Eselsstall. Eine Eselin ernährte pro Tag zwei Kinder. Für Waisenkinder, Frühgeburten, ausgesetzte oder syphiliskranke Kinder war die Tiermilch oft die einzige Überlebenschance. Die Kinder lagen im Schoß der Schwestern und saugten vom Euter der Esellinnen.

Ende des 17. Jahrhunderts wurde am englischen Hof statt Muttermilch, Tiermilch favorisiert als beste Säuglingsnahrung überhaupt. Ein Grund dafür war vermutlich der inzwischen schlechte Ruf der Ammen, denen unterstellt wurde, dass sie die ihnen anvertrauten Kinder aus Habgier töteten, z. B. durch absichtliches Erdrücken während der Nacht.
Quelle:Baby, Säugling, Wickelkind – Eine Kulturgeschichte –
Von Beatrice Fontanel, Claire d’Harcoourt
Bildband, Verlag Gerstenberg
 
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