Schon wieder so ein Missverständnis...
Das macht nichts; es sind noch einige weitere dazugekommen :fs:
Ich versuche nur mit diesen Beispielen klar zu machen, dass es in der Geisteswelt des Mittelalters durchaus Menschen gab, die es gewagt haben - und dazu gehörte durchaus eine Riesenportion Mut - über ihren Tellerrand hinauszuschauen.
Niemand hat etwas Gegenteiliges behauptet: nur ist die Frage, ob und inwieweit dies mit expliziten Frauenrechten zu tun hat oder aber eben z.B. mit theologischen und/oder kirchenrechtlichen Fragen, mit Geburtsständen, mit
pauperes christi vs. Amtskirche bzw. zu dieser konformen Sichtweisen etc. ...
Die nächste spannende Frage dazu wäre übrigens, von welchem "Tellerrand" wir dabei sprechen; zur Verdeutlichung einige andere Beispiele.
Wagte
Hughues de Payens, der Begründer des Templerordens, den Blick über den eigenen Tellerrand? Ja, denn er wollte die moralische Elite der Ritter in einer neuen Bruderschaft vereinen, und ebenso geht auf ihn die Zusammenführung des ritterlichen mit dem mönchischen Ideal zurück. Nein, denn letztendlich ließ er jeden ritterbürtigen Adligen als Ordensneumitglied zu, und ebenso spiegelte sich die Dreiteilung der Stände nahezu 1:1 in den Ordensprofessionen wider: Ritter, Priester, dienende Brüder.
Wagte
Raymond du Puy, der
de jure erste,
de facto zweite Meister des Johanniterordens, den Blick über den eigenen Tellerrand? Ja, denn unter ihm begann die Transformation des bestehenden Hospitalsordens durch die Ausweitung der Tätigkeit auf das Militärische. Nein, denn er stieß damit eine Entwicklung an, die eine Struktur analog der bei den Templern (vgl. oben) genannten Punkte verfestigte; es spiegelte sich die Dreiteilung der Stände nahezu 1:1 in den Ordensprofessionen wider: Ritter, Priester, dienende Brüder.
Das tat Hildegard nicht! Ihre feiertäglichen Feste, die sie und ihre Nonnen mit wallenden Haaren, blumengeschmückt, begingen, waren Feste adeliger Töchter und entsprachen nicht der von Paulus geforderten Schlichtheit (also - mit den Augen ihrer Zeit gesehen - nicht bibelgerecht und da hat sie Tenxwind - sorry für die Verschreiberli - zu Recht getadelt). Sie hat sich eher mehr als Mann in einem weiblichen "schwachen" Körper gesehen (so hat sie es nicht ausgedrückt - aber es ist so zu interpretieren)...
Und das zeigt was?
Daß sich nicht alle Menschen der damaligen Zeit incl. Kirchenleute an biblische insbes. neutestamentliche Aussagen hielten und daß es Leute gab, die dies zu Recht kritisierten?
Auch das hat nirgendwo jemand ernsthaft bestritten.
Es ist mir jedenfalls schleierhaft, wie daraus
... deshalb sind die vermuteten frühen "feministischen" Anklänge durchaus nicht als solche zu werten.
abzuleiten ist...
Dann frage ich Dich, was sind "häretische" Vorstellungen, als Abkömmling lutherischer "Häretiker" bin ich es gewohnt, auch einmal die schmaleren Gemsenstiege des Geistes zu gehen.
Wenn ich in mittelalterlichen Themen von "häretischen Vorstellungen", "Häretikern" und/oder "Häresien" spreche, dann hat das nichts mit meiner Meinung darüber zu tun o.ä., sondern es ist damit das gemeint, was die offizielle Lehrmeinung der Kirche - sofern wir dies für das Mittelalter so spezifizieren können - als "häretischen Vorstellungen", "Häretikern" und/oder "Häresien" betrachtete und bezeichnete (und was übrigens gemeinhin auch von Historikern dementsprechend klassifiziert wird).
Übrigens Tenxwinds Bruder war Richard von Springiersbach, sie war also durchaus adelig (wenn auch die Mutter Benigna aus einem Geschlecht unfreier Dienstmannen stammte, das in den Adel aufgegangen war) als Nichtadelige hätte sie es wohl kaum zur Meisterin des Marienklosters Andernach gebracht, sondern höchstens als Konverse für die adeligen Nonnen arbeiten dürfen.
Ich hatte die adlige Herkunft der
Tenxwind nirgendwo bestritten, sondern darauf hingewiesen, daß sie mit der
pauperes christi Bewegung aufgewachsen war. Und das ist dabei nun einmal keine Randbedingung, sondern essentiell wichtig und bedeutsam!
Dann darf man nicht vergessen, dass Hildegard Benediktinerin war, eine entscheidende Benediktsregel lautet (Cap. 2) der Abt "mache im Kloster keinen Unterschied der Person, ob Sklave, oder freier Mann, in Christus sind wir alle eins" (n. Eph 6,8). Deshalb war Tenxwinds Tadel auch aus der Sicht der Benediktiner angebracht.
Natürlich war die Kritik berechtigt - bestreitet auch wiederum niemand -, nur sind hinsichtlich der Benediktiner(innen) einerseits zeitliche Entwicklungen zu beachten (daß es immer wieder - insbesondere auch im 11. Jh. - innerkirchliche Reformbewegungen gab, hat seine Gründe), während da nun auch wieder nur ein Bezug zum Ständischen etc. gegeben ist und nichts mit expliziten Frauenrechten o. dgl. zu tun hat.
Weiterhin spielt es sehr wohl eine Rolle wie die Situation der Frauen allgemein damals war und dass sie ihr Heil oft in der Flucht in ein Kloster suchten, weil gerade in den Frauenklöstern mehr Freiheit für sie zu finden war und die Mitgift - für das eigene Seelenheil und dem der Familie an das Kloster gegeben - nicht von einem Ehemann sinnlos verschwendet wurde. Wenn man so will, sind allgemein in den Frauenklöstern der damaligen Zeit gewisse Ansätze eines frühen Feminismus zu finden, dies ist nicht Hildegard-spezifisch. Zur Unterstreichung das Gebet ewiger Dankbarkeit der Mystikerin und Kartäusernonne Margarete d'Oingt (+1310): "Süßer Herr, wenn du mir keine andere Gnade erwiesen hättest, als die, dass du nicht erlaubt hast, dass ich in der Knechtschaft und Unterwerfung durch einen Mann lebe, so hast du mir schon genug getan".
Wie die Stimmung um 1300 herum war, hilft uns nun zur Beurteilung einer Frau, die um 1100 herum lebte und wirkte, kaum weiter, aber daran ziehe ich mich jetzt nicht auf.
Was auch hier wieder einmal gilt: Dem unterstrichenen Satz kann ich bedenkenlos zustimmen, denn ich habe nirgendwo etwas Gegenteiliges behauptet. Und auch den anderen genannten Punkten und Aspekten hatte ich nirgendwo widersprochen...
Hildegard selbst würde es sehr wahrscheinlich ablehnen, mit dem Begriff "Feminismus" überhaupt in Verbindung gebracht zu werden. Sie steht für das rechte Maß in allen Dingen - in der seelischen und leiblichen Verbindung (auch in der Sexualität) - und das ist immer gültig, insbesondere gerade auch in unserer Zeit. Sie war eine der fleißigsten Arbeiterinnen im "Weinberg des Herrn". Ihre Verdienste sind nicht genug zu schätzen, da braucht`s auch nicht im Ansatz den Versuch "einer feministischen Hagiographie"...
... den ich weder unternommen habe noch unternehmen will - siehe meinen ersten Beitrag in diesem Thread. Mir erscheinen nur die Begründungen, weswegen Du diesen Ansatz ablehnst, eben nicht schlüssig genug.
Ich hoffe, lieber Timotheus, ich konnte halbwegs verständlich machen, was ich meine - und sei versichert, durch meine privaten Arbeiten bin ich oft zu sehr gezwungen in der Geisteswelt des Mittelalters zu leben, als dass ich Hildegard nur mit "modernen" Augen sehen könnte.
Interessant; ich bin jetzt seit etwa 10 Jahren in der
Living History unterwegs - und verfolge dies in Verbindung mit akribischen Recherchen, soweit sie einem Hobbyhistoriker möglich sind - und bin mit jedem weiteren Rechercheschritt mehr und mehr zur Erkenntnis gelangt, daß wir heutzutage
bestenfalls versuchen können, die Geisteswelt des Mittelalters zu verstehen, aber niemals zu wirklichem Verstehen dessen in der Lage sind - geschweige denn, daß wir in der Geisteswelt des Mittelalters leben könnten.