Ideologische und realpolitische Kontexte des Stalinismus

thanepower

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Teil 1:
Vorbemerkung: Die Erwartung einer „Weltrevolution“ hatten sich für Lenin bis 1923 nicht erfüllt und somit mußte er aus diesem Scheitern heraus eine neue historische Mission für die KP formulieren, die sich in der Zielvorgabe des „Sozialismus in einem Lande“

Ohne jedoch die Idee aufzugeben, dass man via Comintern eine Destabilisierung der „kapitalistischen Welt“ intendierte. Und gleichzeitig, vor allem während der dreißiger Jahre, durch das Außenministerium – vor allem durch Litwinow - der Versuch unternommen wurde, sich als Partner für ein kollektives Sicherheitssystem in Europa anzubieten.

Die bolschewistische Oktober-Revolution von 1917 war entsprechend den Vorstellungen von Marx weder prognostizierbar, noch hätte sie stattfinden dürfen. Es fehlte u.a. das historische revolutionäre Subjekt einer ausgeformten Arbeiterklasse, da die Industrialisierung nicht das von Marx als notwendig angenommene Niveau in Russland erreicht hatte.

Vielmehr fand die Revolution als Coup d´etat in den großen Städten statt, organisiert durch die gekaderten Bolschewiken und gestützt auf Teile des russisch-nationalistisch gesinnten Militärs und einer ähnlich mental gestimmten zaristischen Bürokratie , und als parallele Massenbewegung, als Revolte der Bauern, auf dem Land. Theoretisch gab es für beide Ereignisse aus der Sicht der ökonomisierten Theorie der „Diktatur des Proletariats“, also der demokratisch definierten Herrschaft der Vielen [Arbeiter] über die Wenigen [Kapitalisten] wie oben beschrieben, keine „marxistische Blaupause“ für Russland.

Die revolutionäre Entwicklung auf dem Lande, die sich primär um Landreformen drehte, war für die Bolschewiken bis weit in die zwanziger Jahre ein Phänomen, das sie nicht theoretisch in einen Bezug zur Rolle des Proletariats bringen konnten, wie z.B. spätere Arbeiten von Moore oder Skocpol (als Übersicht über die vorhandenen Arbeiten) das versucht haben.

Aus dieser Situation resultierte u.a. das realpolitische Problem einer Entfremdung von Stadt und Land und bewirkte gravierende Legitimationsprobleme der KP auf dem Land undist eine der Gründe für die „Wagenburgmentalität“ der KP während der stalinistischen Periode. Und wurde verstärkt durch die weitgehende theoretische Exklusion der Bauern aus dem ideologischen Weltbild der KP seit den zwanziger Jahren (vgl. z.B. Bukharin, S. 178ff)

Allerdings, das Verständnis der revolutionären Ereignisse in Russland durch die Bolschewiken durchlief eine Reihe von Phase der theoretischen Anpassung. So weist beispielsweise Cohen (1980, S. 87 ff) darauf hin, dass das wichtige theoretische Werk zur Umgestaltung von Russland von Bukharin, „The Politics and Economics of the Transition Period“, zu einer sozialistischen Gesellschaft geprägt war von den teils visionären – und auch unrealistischen - Vorstellungen des „Kriegskommunismus“. In diesem Buch formuliert er die Forderung nach einem radikalen Umbau sämtlicher ökonomischer Strukturen und Netzwerke, auch um den Preis eines deutlichen Rückgangs der Produktivität.

Die Kombination aus der materiellen Ermattung durch den Krieg und der radikalen Umgestaltung in Richtung auf eine sozialistische Gesellschaft überforderte das Land, das zusätzlich unter den Wirkungen des Bürgerkriegs litt. Mit der Gefahr des Kollaps der staatlichen Strukturen am Ende des Bürgerkriegs konfrontiert, sollte durch Einführung des „New Economic Programs“ durch Lenin die überforderte staatliche Planung zur Regelung von Märkten kompensiert werden. Und läutete in Teilen der Partei ein Umdenken ein, das sich von radikalen Vorstellungen aus der Phase des Kriegskommunismus distanzierte und die sowjetische Wirtschaft aus einem staatlich kontrollierten Bereich und einem privatwirtschaftlichen Bereich zusammensetzte. Eine Entscheidung, die für die nächsten 10 Jahre deutliche innerparteiliche Fraktionierungen nach sich ziehen sollte und wechselnden Koalitionen.

Besonders deutlich wird es an der Position von Bukharin, der zunächst ein vehementer Verfechter einer dogmatischen Umsetzung marxistischer Vorstellungen im Rahmen des Kriegskommunismus war und sich nach der Einführung von NEP, nach dem Tod von Lenin (1924), zum vehementesten Verfechter dieses Weges entwickelte, wie Cohen es u.a. in „Bukharin, NEP, and the Idea of an Alternative to Stalinism“ (1980, S-. 160-212¸1986, S. 71ff) ausführt. Dabei verteidigte er das Konzept, zusammen mit dem „Triumvirat“ (Zinoviev, Kamenev und Stalin) nach 1924 gegen die „Linke“ um Trotzki, wobei sich Bukharin eine starke Eigenständigkeit bewarte und eher eine Rolle als Vermittler einnahm (Cohen, 1980,S. 123-157).

Im Kern stand die Frage, wie die sowjetische Wirtschaft eine forcierte Modernisierung durchlaufen sollte im Rahmen einer „Hyper-Industrialisierung“ und wie die notwendigen Mittel beschafft werden, für die Finanzierung.

Die „Linke“ um Preobrazhenskii und Piatakov „was to accuse the leadership of lacking a long-term industrial policy and to demand an energetic and planned development of industry more or less independent of the current rural market.“ (Cohen, 1980, S. 156)

Demgegenüber vertrat Bukharin seit 1922 die These, dass jedes Land, basierend auf seinen spezifischen historischen Voraussetzungen: „different types of socialist societies were tob e expected because socialism is built on the material which exist,“ (zitiert in Cohen, 1980, S. 159) Vor diesem Hintergrund propagierte er die Idee von einer „zwei Klassen Gesellschaft“, die sich evolutionär während der „Übergangsperiode“ entwickelte. In dieser zwei Klassen Gesellschaft gestand er dem privaten Sektor eine eigenständige Position zu, wobei der Staat die zentralen Schlüssel- bzw. Großindustrien verwaltete. In diesem Kontext war ihm die private Initiative ebenfalls wichtig, indem er 1925 Preobrazhenskii an die Bauern die berühmte Losung“: „Enrich yourself“ ausgab (Davies, 2008, S. 183)

Die Mittelbeschaffung für die Hyper-Industrialisierung sollte, entsprechend den theoretischen Annahmen von Preobrazhenskii, durch den Agrarsektor finanziert werden. Dem Staat wurde das Ankaufsmonopol für Getreide übertragen in Kombination mit dem Monopol der Preisfestsetzung. Allerdings, so Gregory zutreffend: „He [Preobrazhenskii] failed to answer the most important questtion: If peasants are offered low prices, what will motivate them to deliver their products to the state?“ (Gregory, 2004,S. 30 ff)

Die politische Seite der Moral faßt Gregor wie folgt zusammen: „The NEP implicit contract was , in effect: „As long as you do not oppose us, you can be one of us.“ (Gregory, 2004, S. 53) Und diese Prämisse kam nach 1926 zunehmend unter Druck.

Die Idee, Getreide zu einem geringen Preis zu kaufen und auf dem Binnenmarkt teuer zu verkaufen bzw. durch Export den Ankauf von Industrieanlagen zu finanzieren ist der Kerngedanke der „einfachen sozialistischen Akkumulation“. Dabei wird der Agrarsektor als „interne Kolonie“ behandelt, der die Transferleistung erzeugt, die für die Hyper-Industrialisierung notwendig ist.

Von 1926/27 bis 1928/29 reduzierte sich die die staatliche Menge an angekauften Getreide und bewirkte, dass dass Russland das erste Mal in der Geschichte, Getreide importieren mußte (Gregory, 2004, S. 32). In diesem Kontext referierte Stalin 1928 ein Schaubild, dass die Erzeugung das Vorkriegsniveau erreicht hatte, aber dem staatlichen Monopol nur ca. die Hälfte angeboten worden ist. Stalin zog daraus die Schlussfolgerung, dass solange die Bauern als freie Marktteilnehmer agieren können, sie eine nicht kalkulierbare Gefahr für die staatliche Hyper-Iindustrialisierungsstrategie darstellen würden

Getreidebeschaffungskrise 1928
https://en.wikipedia.org/wiki/Soviet_grain_procurement_crisis_of_1928

Einfache sozialistische Akkumulation formuliert Mitte der 20er durch Preobrazhenskii
https://en.wikipedia.org/wiki/Primitive_socialist_accumulation

Aus dieser Situation wurde zum einen der Schluss gezogen, dass ein Versagen der Interaktion zwischen privatem und staatlichem Sektor, die Lösung auf der Durchsetzung mit Gewalt basierte. Und es eine grundsätzliche Lösung zu geben hätte, um die Hyper-Industrialisierung so schnell wie möglich durchzusetzen. (Gregory 2004, S. 31-40).

In diesem Sinne: „Collectivization was an institutional mechanism to control grain collection.“ (Gregoy, 2004, S. 39)
 
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Teil 2
Auf die komplexen Verschiebungen der politischen Macht auf der Ebene des PB vom Triumvirat zum Duumvirat und der einsetzenden alleinigen Diktatur im Verlauf der dreißiger Jahre sei nur kursorisch hingewiesen (vgl. Fitzpatrick 2015 zum Endpunkt). Insgesamt wird die Phase der drei Fünfjahres-Pläne vor dem Krieg als die eigentliche stalinistische Revolution bezeichnet (vgl. Davies u.a. Pos. 180)

Das Ende von NEP und der Kampf gegen die „Kulaken“ parallel zur Durchsetzung der Kollektivierung der landwirtschaftlichen Betriebe (Kolkhoz) bewirkte eine massive Binnenmigration in der UdSSR. Diese speiste sich aus drei unterschiedlichen Quellen. Zum einen gehörten die Bauern dazu, ihr Land verloren hatten und in die Städte zogen. Zum anderen die Bauern, die sich durch eine Abwanderung in die Stadt der zwangsweisen Umsiedlung entzogen haben. Und zum dritten betraf es den Kreis, der verfolgt wurde und umgesiedel wurde bzw. zur Arbeit in den Gulags herangezogen wurde (vgl. Fitzpatrick 1993, S. 15)

Relevant ist, dass während der Phase des ersten Fünfjahres-Plans Millionen von Bauern auf den Arbeitsmarkt gelangten und so die „Großbauten des Sozialismus“ (Schlogel, S. 118) wie das Stalingrad der Traktorenwerke, oder das mit Henry Fords errichtete Autowerk von Nishni Nowgorod, die Lagerstädte von Kataganda und Norilsk, den Staudamm von Dnjeprogres oder Nowo-Kusnezk oder die Kanalbauten, die die Wolga mit der Moskwa und dem Don verbunden haben. Aber am wichtigsten das Industriezentrum im Ural, Magnitogorsk, auf der grünen Wiese errichtet haben (vgl. dazu Harris oder als Grundlagenstudie Kotkin)

Von 1928 bis 1932 war ein sehr deutlicher Zustrom in die Ballungszentren zu verzeichnen und über diesen Zeitraum ergab sich ein Zuwachs der urbanen Bevölkerung von 11.9 Mio Personen (Fitzpatrick, 1993, S. 22). Den deutlichsten Zuwachs erzielte dabei Magnitogorsk, wo das weltgrößte Stahlwerk der Welt errichtet werden sollte. Schlögel faßt diesen Prozess sehr präzise zusammen: „ Die Baustelle am Magnetberg ist eines der Schlachtfelder, auf denen das bäuerliche Russland vernichtet und umgeschmidet wird.“ (S. 123)

Die Binnenmigration veränderte ebenfalls auch die Städte, in ihren Entwicklung und die schnelle Zunahme prägte ebenfalls die soziale Identität der Bevölkerung (vgl. Hoffmann). Gezielt sollten die „proletarischen Massen“ im Sinne der stalinistischen Werte erzogen werden.

Das Tempo der Hyper-Industrialisierung wurde durch zwei Flaschenhälse limitiert. Zum einen durch die Quantität der Zur Verfügung stehenden Arbeitskraft und zum anderen durch die Menge an transportierten Tonnen. Folgt man der Darstellung bei Westwood (S. 164) dann gab es nach 1933 einen deutlichen Anstieg bei der Menge an transportierten Tonnen in kombination mit einem leichten und kontinuierlichen Anstieg des Streckennetztes.

Zusammenfassend resümiert er: „ On the whole the transport system that emerged from industrialisatio was powerful, but badly tuned.“ Ebd. S. 181) Und führte zu einem Ausbau bis Ende des WW2, das im Prinzip die Bedürfnisse der sowjetischen Industrie befriedigte. Im Kern steht dabei die Kombination aus Schienen- und Wasserwegetransport. Eine der primären Aufgaben der Entwicklung im Rahmen der Verkehrspolitik war die verkehrspolitische Integration der Rohstoffvorkommen wie z.B. in der Ukraine (Donezk-Becken etc.) und den neuen großen auf der grünen Wiese geplanten Industriezentren, wie Magnitogorsk.

Anfang der dreißiger Jahre verschärfte sich die internationale Situation und wirkte massiv zurück auf das Tempo und die Durchsetzung der Hyper-Industriealisierung. Nicht zuletzt, da Stalin in 1931 prognostizierte, dass in den nächsten 10 jahren ein massiver Krieg bevorstand. Ein Diktum, das das interne Selbstverständnis einer kriegsorientierten Industriepolitik im Umfeld des ZK und des PB deutlich illustriert.

Die deutliche Zuspitzung der internationalen Situation durch den Einmarsch der japanischen Kwantung Armee in die Mandschurei bedrohte die UdSSR im Osten (vgl. z.B. Link). Und ist der Auslöser für ein massives Aufrüstungsprogramm und der damit zusammenhängenden massiven Förderung der militärisch orientierten Schwerindustrie-Projekte, inklusiver der entsprechenden Infrastruktur wie Energiegewinnung und Transport .

http://www.geschichtsforum.de/thema...itspolitik-der-udssr-von-1927-bis-1938.39517/

http://www.geschichtsforum.de/thema...estungspolitik-der-udssr-1927-bis-1937.39596/

Es gab aber auch entsprechende Rückwirkungen auf die russische Wirtschaft, die Holzman (S. 303-306) dahingehend zusammen fasst, dass die russische Wirtschaft sich in Richtung einer zunehmenden Autarkie bewegte und damit die Bedingungen einer „Kriegswirtschaft“ im Frieden bereits vorwegnahm. Eine Entwicklung, die Schlögel in „Terror und Traum“ als mentale Disposition für Mitte der dreißiger Jahre, im Kontext des spanischen Bürgerkriegs, hervorragend beschrieben hat.

Und ebenfalls den Kontext für die brutalen und massiven Verfolgungen und Exekutierung der innerparteilichen Opposition durch Stalin bildete.

Bukharin, Nikolaĭ (1985): The politics and economics of the transition period. Edited with an Introduction by Kenneth J. Tarbuck. London, Boston and Henley: Routledge & Kegan Paul.
Cohen, Stephen F. (1980): Bukharin and the Bolshevik Revolution. A political biography, 1888-1938. Oxford, New York: Oxford University Press.
Cohen, Stephen F. (1986): Rethinking the Soviet experience. Politics and history since 1917. New York, Oxford: Oxford University Press
Davies, R. W. (1994): Industry. In: Robert William Davies, Mark Harrison und S. G. Wheatcroft (Hg.): The economic transformation of the Soviet Union, l9l3-45. Cambridge: Cambridge University Press, S. 131–157.
Davies, R. W. (2008): Grain, Class and Politics during NEP. The Politburo Meeting of December 10, 1925. In: Paul Gregory und Norman Naimark (Hg.): Lost Politburo Transcripts. From collective Rule to Stalin`s Dictatorship. New Haven, London: Yale Univ Press, S. 181–198.
Davies, R. W.; Khlevniuk, Oleg. V.; Rees, E. A.; Kosheleva, Lliudmilla. P.; Rogovaya, L. A.; Shabad, S. (Hg.) (2008): The Stalin-Kaganovich Correspondence, 1931-36: Yale University
Fitzpatrick, Sheila (1993): The Great Departure: Rural Migration in the the Soviet Union, 1929.1933. In: William G. Rosenberg und Lewis H. Siegelbaum (Hg.): Social dimensions of Soviet industrialization. Bloomington: Indiana University Press, S. 15–40.
Fitzpatrick, Sheila (2015): On Stalin's team. The years of living dangerously in Soviet politics. Princeton: Princeton University Press.
Gregory, Paul R. (2004): The Political economy of Stalinism. Evidence from the Soviet secret archives. Cambridge, New York: Cambridge University Press.
Harris, James R. (1999): The Great Urals. Regionalism and the evolution of the Soviet system. Ithaca, N.Y.: Cornell University Press.
Hoffmann, David L. (1994): Peasant metropolis. Social identities in Moscow, 1929-1941. Ithaca: Cornell University Press
Holzman, Franklyn D. (1963): Foreign Trade. In: Abram Bergson und Simon Kuznets (Hg.): Economic trends in the Soviet Union. Cambridge: Harvard University Press, S. 283–332.
Kotkin, Stephen (1997): Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization. London: University of California Press.
Moore, Barrington (1993): Social origins of dictatorship and democracy. Lord and peasant in the making of the modern world. Boston: Beacon Press.
Nove, Alec (1992): An economic history of the USSR 1917-1991. 3rd ed. London: Arkana (Penguin economics).
Schlögel, Karl (2018): Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt. 2. Aufl. München: C. H. Beck (Edition der Carl Friedrich von Siemens Stiftung).
Skocpol, Theda (1994): Social revolutions to the modern world. Cambridge: Cambridge University Press , hier besonders Kap. 9 „What makes Peasants revolutionary“, S. 213-239
Stalin, I.; Kaganovich, L. M.; Davies, R. W. (2003): The Stalin-Kaganovich correspondence, 1931-1936. New Haven, Conn., London: Yale University Press
Stalin, Joseph (1996): Stalin's Letters to Molotov. Hg. v. Lars T. Lih, Oleg Khlevniuk und Oleg V. Naumov. New Haven: Yale University Press
Westwood, J. N. (1994): Transport. In: Robert William Davies, Mark Harrison und S. G. Wheatcroft (Hg.): The economic transformation of the Soviet Union, l9l3-45. Cambridge: Cambridge University Press, S. 158–181.
 
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Das ist eine hevorragende Zusammenstellung der politischen Strömungen, die zu den Kausalketten führten, die in den katastrophalen Hungersnöten mündeten.

Einen Einflussfaktor würde ich betonen: die Erfahrungen des Bürgerkrieges mit ausländischen Interventionen, die militär-industrielle Denken in der SU, sozusagen eingekreist von potenziellen Aggressoren, entscheidend für die 20er und 30er prägten.

Die (Schwer-)Industrialisierung um im Wortsinn "jeden Preis" folgte auch militärischer Logik, als Masterplan für den unausweichlichen Endkrieg. Geschwindigkeit im Durchpeitschen traf auf Planungschaos.
 
Zunächstmal danke ich sehr für die äußerßt umfangreichen und gut belegten Ausführungen.


Was den 1. Teil betrifft, scheine ich mich etwas missverständlich ausgedrückt zu haben: Der Hergang der Verhältnisse in Russland 1917 und folgend ist mir durchaus bewusst.
Ebenso, dass das, was unter dem Begriff "Oktoberrevolution" firmiert mit dem theoretischen Marxismus selbst herzlich wenig zu tun hat.

Meine Einlassung sollte viel mehr in die folgende Richtung zielen:

Von Seiten Lenin-Trotzki, ist im Hinblick auf das Theoriegebäude der permanenten Revolution ja mehrfach das Argument vorgetragen worden dass sie im Bezug auf Marxens theoretische Ansätze folgende Problematiken sahen:

- Die Entwicklung der kapitalistischen Länder und ihres expandierenden Handels verhinderten durch übermächtigen Konkurrenzdruck die Entwicklung der noch nicht industrialisierten Länder.
- Durch den Umstand, dass Technologie zur Verbesserung der Produktivkräfte nicht mehr neu erfunden werden muss, sondern in anderen Ländern bereits existiert sei in den nachziehenden Ländern die Industrialisierung selbst in weiten Teilen daher nicht eine Sache der sich zur Bourgeoisie aufschwingenden bürgerlichen Intelligenz, sondern der alten Eliten, die sich diese Produktivkräfte auch ohne besondere eigene Leistung aneignen könnten.


Ich bitte jetzt inständig darum den folgenden Gedankengang als eine rein hypothetische Disskussion über die ideologischen Konsequenzen, die daraus gezogen werden könnten/müssten zu betrachten und keineswegs als irgendeine pesönliche weltanschauliche Einlassung:

Alles was darauf aufbaut, ist wie ich das sehe ein ziemlich paradoxes Flechtwerk aus orthodoxem Marxismus, im Gestalt der Revolutionstheorie als Solcher und einer Ergänzung/ein Wiederspruch dazu in der Idee eines gesellschaftlichen Sonderweges der nicht-westeuropäischen Gesellschaften, der sich selbst damit legitimiert, dass der theoretische Marxismus zwar den Stand wiederspiegele, der zu Marxens Lebzeiten wohl zu registireren war, aber nicht die folgende Entwicklung und die Konsequenzen für die Entwicklungsprämissen der nicht zur ersten Welle der industrialsierten Gesellschaften, in ausreichender Weise würdigt.

Insofern war die "Oktoberrevolution" sicherlich alles andere als die Konsequenz von Marx antizipierter Entwicklungen und das ohne Frage. Dennoch ist mindestens bei den Altbolschewiki das gesellschaftliche Entwicklungsmodell eine grundsätzlich dem theoretischen Marxismus entlehnte Angelegenheit, mit der Konsequenz aus dem theoretischen Rahmen fallender Handlungsweisen, die auf eine (mindestens von den Akteuren so wahrgenommenen) von der Theorie nicht antizipierten Ausgangssituation beruhen.

Geht man nun davon aus (und mindestens bei den theoretischen Köpfen der Altbolschewiki halte ich das für berechtigt), dass die Entwicklungstheorie möglicherweise Ergänzungen bedarf grundsätzlich aber funktioniere, dann ist die Akzeptanz des zeitlichen "Vorziehens" der Revolution folgerichtig, weil man die vorrangestellen Prämissen vorrausgesetzt davon ausgehen müsste in einer entwicklungstechnischen Sackgasse zu stecken, da die Bourgeoisie aus sich selbst heraus nicht mächtig genug werden kann, die alten aristokratischen Klassen vom Thron zu stoßen und zur bürgerlichen Phase der Gesellschaft überzugehen.

Stellt man sich aber auf diesen Standpunkt unter der grundsätzlichen Beibehaltung des marx'schen Entwicklungsmodells ist damit auch klar, das im Fall einer zeitlich asymetrischen, sprich vogezogenen Revolution der sozialistischen Phase die Aufgaben der Bürgerlichen zufallen müssten.
D.h. im Wesentlichen die Entwicklung der Produktivkräfte, die aber, sofern man sich wiederrum an Marx hält (und mindestens Lenin tat das in diesem Punkt) nicht von der tendenziellen Proletarisierung der bäuerlichen Bevölkerung und weiter Teile des Kleingewerbes zu trennen ist.

Will heißen, wenn man das Ideologisch ernst nimmt, dürfte man die Entwicklung der NEP und der damit zusammenhängenden sozialen Differenzierung und die Existenz von "Ausbeutung" und "Kapitalismus" (wobei "Kulackentum" als kapitalistisch zu bezeichnen tatsächlich einen originären Bruch mit dem theoretischen Marxismus darstellt, da der "Kulak" in der Realität ja selbst von der Verkonsumierung seiner eigenen Arbeitskraft lebte und nicht von einer ausschließlichen wirtschaftlichen Tätigkeit als "Kapitalist" und "Rentier", womit er in marxschen Kategorien nicht dem Begriff des "kapitalistischen Bourgeois" sondern viel mehr dem des "Kleinmeisters", jedenfalls nach Band I des "Kapitals" zuzuordnen wäre), eigentlich keineswegs als Problem ansehen, sondern als eine absolut notwendige Angelegenheit. Jedenfalls dann, wenn man die "permanente Revolution" als ideologisches, innenpolitisches Phänomen nicht dahingehend versteht, dass damit die brügerlich-kapitalistische Gesellschaftsphase vollkommen übersprungen werden, sollte, sondern dahingehend, dass der Schritt der vorgezogenen Revolution notwendig sei um wieder beim marxschen Modell der Entwicklung von Gesellschaft und Produktivkräften anzukommen, die durch die "ungleichmäßige/ungleichzeitige" Entwicklung blockiert wurde. In dem Fall wäre die Existenz von freier Wirtschaft und Privateigentum an Produktionsmitteln, wie die NEP das zeitweise mindestens in Teilen zuließ nicht etwa ein Widerspruch, sondern mindestens auf Zeit logische Konsequenz.


Daher die Frage, ob die NEP und die sich daraus ergebenden innenpolitischen Entwicklungen zwangsweise ein ideologisches Problem für den ML darstellten. Das täten sie meines Erachtens nur dann, wenn der ML auf einen vollständigen Bruch mit dem theoretischen Marxismus abstellte und postulierte, dass es einer weiteren Entwicklung der Produktivkräfte gar nicht weiter bedrüfe oder aber diese ohne jede proletarisierung der alten Berufsstände vonstatten gehen könnte (aber wer geht dann in die Städte und beginnt sich als Industriearbeiter zu betätigen, wenn eine Proletarisierung des Kleinbauerntums ausbleibt?). Versteht man die Sache so, dass der ML nicht auf einen vollständigen Bruch mit dem Entwicklungsmodell nach Marx abzielt, sondern auf eine Graduelle Modifikation dessen um die Möglichkeit der Gesamtentwicklung gemäß des Modells zu wahren, sehe ich da nämlich kein immanentes ideologisches Problem, jedenfalls nicht auf abstrakter theoretischer Ebene.

Das die Konfrontation der Bevölkerung damit zum Problem hätte führen können, setzte vorraus, dass diese Bevölkerung in der Mehrheit aus überzeugten orthodoxen Marxisten bestanden hätte. Hätte sie das getan, Lenin hätte den Bauern keine Landzuteilungen versprechen müssen um sie auf seine Seite zu ziehen, somit ist das Problem, wenn man es nur Basis des ideologischen Moments betrachten möchte sicherlich primär ein internes der KP-Eliten.



Im Hinblick auf die außenpolitische Entwicklung, ist Lenin mit seiner Prognose der anstehenden "Weltrevolution" zwar sicherlich gescheitert, dass aber in zweifacher Hinsicht. Es blieb ja nicht nur die "Weltrevolution" aus, sondern auch die "Weltkonterrevolution", denn auch wenn die Entente-Mächte es im Bürgerkrieg sicher eher mit den "Weißen" hielten, bliebt doch die prognostizierte Zusammenrottung der kapitalistischen Staaten zur Beseitigung des Bolschewismus ebenfalls aus, die tatsächlichen Beziehungen zu Deutschland waren im Gefolge der Konferenz von Genua sogar einigermaßen gut.

Insofern konnte man Lenins Denkweise sicherlich mit Recht eine Fehlprognose unterstellen, nur eben wenn man konsequent ist gleich eine doppelte, so dass die fatalistischen Konsequenzen die der einfachen Fehlprognose immanent gefolgt wären ebenfalls ausblieben, insofern entsprach die reale Situation der Sowjetunion zwar nicht der lenin'schen Ideenwelt, war aber wohl durchaus tragbar und hätte von dem her auch eine andere Entwicklung zugelassen.

Demnach gab es mit dem Scheitern von Lenins Konzeptionen betreffs "Weltrevolution" zwar ein gewisses theoretisches Vakuum, aber darin eine besondere Triebfeder für den Übergang zu Stalins Politik zu sehen erscheint mir etwas überdeterminiert. Dagegen erscheinen mir im Besonderen die völlige Fehlbeurteilung der außenpolitischen Situation und die für Stalin bestehende Notwendigkeit der Diskreditierung der früheren Köpfe der KP zur Sicherung der eigenen Macht bei der Darstellung etwas unterrepräsentiert.
 
Teil 2
Auf die komplexen Verschiebungen der politischen Macht auf der Ebene des PB vom Triumvirat zum Duumvirat und der einsetzenden alleinigen Diktatur im Verlauf der dreißiger Jahre sei nur kursorisch hingewiesen (vgl. Fitzpatrick 2015 zum Endpunkt). Insgesamt wird die Phase der drei Fünfjahres-Pläne vor dem Krieg als die eigentliche stalinistische Revolution bezeichnet (vgl. Davies u.a. Pos. 180)

Das Ende von NEP und der Kampf gegen die „Kulaken“ parallel zur Durchsetzung der Kollektivierung der landwirtschaftlichen Betriebe (Kolkhoz) bewirkte eine massive Binnenmigration in der UdSSR. Diese speiste sich aus drei unterschiedlichen Quellen. Zum einen gehörten die Bauern dazu, ihr Land verloren hatten und in die Städte zogen. Zum anderen die Bauern, die sich durch eine Abwanderung in die Stadt der zwangsweisen Umsiedlung entzogen haben. Und zum dritten betraf es den Kreis, der verfolgt wurde und umgesiedel wurde bzw. zur Arbeit in den Gulags herangezogen wurde (vgl. Fitzpatrick 1993, S. 15)

Genau hierauf stellte ich im wesentlichen ab. Es ist in diesem Faden eine Menge grundsätzliches zum Holodomor erörtert worden. Gezielte Mordaktion oder schlicht katastrophale Fehlentwicklung etc.

Die Diskussionen "Völkermord" und "gezielt provozierte Mordaktion/Katastrophe" sollten, meine ich hinreiched geklärt worden sein, dahingehend, dass diese Bewertungen vollständig (Genozid) oder mindestens teilweise (bewusst provozierte katastrophe) weitgehend fehlgehen.

Insofern und auf der Prämisse, dass man zwar von einer unter erheblicher Mitwirkung fehlgeleiteter Politik, aber letztendlich unabsichtich provozierten Katastrophe, kommt mir dieser Aspekt in den meisten Werken zum Thema etwas zu kurz.
Es wird in der Regel ja doch eher mit den direkten Folgen der Zwangskollektivierung im Hinblick auf sinkende Produktionsmengen bei gleichzeitigem Export landwirtschaftlicher Erzeugnisse, als mit den indirekten Folgen in Form der daraus resultierenden Binnenmigration und der vollkommenen Überforderung der städte und ihrer Infrastruktur, die damit verbundenen Massen an "Landflüchtigen" aufzunehmen.
Insofern müsste, meine ich, wenn man über die Ursachen Redet nicht nur auf die direkten Folgen für die Landwirtschaft hinweisen und die Verantwortbarkeit der Zwangskollektivierung vor dem Hintergund der Moral und der landwirtschaftlichen Effizienz diskutieren sondern auch im Hinblick auf die sowjetische Stadtplanung.
Das Kollektivierung, Enteignung und Industrialisierung zu einer weitgehenden Proletarisierung der ländlichen Bevölkerung führen musste, war vorrauszusehen und in weiten Teilen sicherlich auch ganz genau so beabsichtigt.
Wenn man das aber beabsichtigte, hätte man das, den moralischen Standpunkt einmal außen vor gelassen in irgendeiner Weise so steuern können müssen, dass die Binnenmigration in einem Rahmen verläuft, dass die Aufnehmenden Städte und Fabriken überhaupt ausreichend Kapazitäten aufweisen um diese proletarisierten Ex-Bauern aufzunehmen, zu beschäftigen und zu versorgen.

Auch da sehe ich ein durchaus großes Maß an Verfehlungen der sowjetischen Politik dass dann möglicher Weise dazu in der Lage war der katastrophalen Entwicklung noch einmal eine ganz andere Dimension zu geben.
In diesem Sinne müsste man, wie ich meine die Diskussion um die Verantwortlichkeit nicht vor allem zentriert auf den agrarischen Sektor und die Entwicklung der Produktionsmengen und deren Vertrieb ins Ausland sehen sondern auch in einer planlosen Asymetrie in der Umsetzung der Industrialisierung dahingehend, dass das Tempo möglicherweise so weit außer Kontrolle geriet, dass ein Anwachsen der Versorgungsschwierigkeiten der Metropolregionen, was in der Ukraine mindestens Kiew und den Donbass betrifft das Versorgungsschwierigkeiten ganz allgemein die logische konsequenz daraus sein mussten, die durch die Zwangskollektivierung einfach nur in erheblichem Maße gesteigert wurden.

Sollte das der Fall gewesen sein, müsste man, wie ich dass sehe den Holodomor auf zwei verschiedenen Ebenen sehen:

- Als versehentlich durch fehlgeleitete Politik mitproduzierte katastrophale Entwicklung, die aber mit Sicherheit nicht grundsätzliches Ziel der stalinistischen Politik war.
- Als versehentlich, aber auch entgegen besseren Wissens mit herbeigeführte Katastrophe, für die möglicherweise in ihren Ursachen die Zwangskollektivierung für sich gar nicht so entscheidend ist, sondern das Tempo und der flächengreifende Umfang in dem diese, ablief (auch wenn das etwas zynisch klingen mag).
 
Daher die Frage, ob die NEP und die sich daraus ergebenden innenpolitischen Entwicklungen zwangsweise ein ideologisches Problem für den ML darstellten.

Zur Beantwortung wurde die Sicht von Bukharin formuliert, der als zentraler Parteitheoretiker diese Idee entwickelt hatte. Und bei ihm wird deutlich, dass die Sicht vom theoretischen Verständnis des Kriegskommunismus sich deutlich in Richtung einer neuartigen Konzeption entwickelt. Eine Idee, an die dann beispielsweise die Reformer um Dubcek im Rahmen des "Prager Frühling" anknüofen sollten.

Und deswegen auch mein Verweis auf die nur rudimentäre Entwicklung theoretischer Aussagen von Marx selber zur revolutionären Rolle der Bauern und ihrem Agieren im Rahmen der Entwicklung zu einer sozialistischen Gesellschaft.

Der Verweis auf die "reine Lehre" des Marxismus als Antwort auf alle Fragen gehört zum ideologischen Repertoir der Kader der K-Parteinen im ehemaligen Ostblock. Allein er geht am Problem komplett vorbei. Es ist gerade der zentrale Imperativ des Historischen Materialismus für jede Generation und für jede neue historische Situation eine objektive Bestandsaufnahme zu machen. Und aus dieser Bestandsaufnahme die entsprechenden Strategien auch im Rahmen der Übergangsgesellschaft abzuleiten.

Und genau dieses haben Lenin und Bukharin mit NEP getan, auch gegen den Widerstand von Teilen der Partei. Es ist dabei nicht eindeutig zu definieren, in welchem Umfang damit zunächst eine "taktische Defensive" zum Ausdruck kam, die bei Bukharin zu einer theoretischen Weiterentwicklung führte, während Stalin in 1928, unter dem lauten Beifall der linken und jungen Bolschewiken, ein Ende der taktischen Defensive verkündete.

Folgt man Cohen (S. 60ff) dann ergaben sich zwischen der Befürwortung von NEP zwischen Trotzki und Bukharin keine gravierenden Unterschiede. Auch Trotzki befürwortete NEP, um den sozialen Frieden in der UdSSR zu erhalten. Die Planungen für den ersten Fünfjahresplan 1927, den Bukharin vorgelegt hatte, waren ein Amalgam aus Ideen der Parteifraktionen um Bukharin und Trotzki. Und wurden durch Stalin nach 1, Jahren gekippt und durch einen neuen Plan ersetzt.

"When Stalin abandoned that program a year and a half later, he abandoned mainstream Bolshevik thinkin about economic and social change." (ebd. S. 31).

Wobei die ökonomischen Vorstellungen, die Trotzki im Exil enwickelte, sich noch stärker an Bukharin anpaßten (ebd. S. 31).

Und Cohen sieht in der Revolution von Stalin, "der großen Veränderung", den eigentlichen Bruch zwischen der ursprünglichen bolschewistischen politischen Sicht, die keine gewaltsame Kollektivierung vorsah und die auch keine forcierte Hyper-Industrialisierung propagierte, und dem neuen Stil im Rahmen des sich entwickelnden nationalistischen Staatssozialismus stalnistischer Prägung.

Mit seiner Revolution verband Stalin nicht primär utopische oder idealistische sozialrevolutionären Ambitionen, sondern sie war geprägt durch eine sozialdarwinistische, realpolitische Sicht, die in der historischen Frage gipfelte, ob das Land reif ist, seine sozialistische politische Ordnung zu verteidigen. Und sein Weltbild war fundiert durch die Analyse von Lenin zum "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" und unter dieser Perspektive betrachtete er die Entwicklung der UdSSR.

Machiavelli wäre vermutlich begeistert gewesen und Stalins großes Vorbild "Bismark" hätte ihm vermutlich als Lenker der Geschicke der UdSSR ebenfalls bescheinigt, ein fähiger Politiker zu sein.

Cohen, Stephen F. (1985): Rethinking the Soviet experience. Politics and history since 1917. New York, Oxford: Oxford University Press
 
Die Position von Stalin zu NEP und zur anschließenden Phase der Hyper-Industrialisierung ist für ihn nicht ideologisch ausgerichtet gewesen. Deswegen hat sich die Frage für Stalin auch nicht gestellt, weder in Bezug auf die Existenz von privaten Farmen, einem freien Markt und damit zusammenhängender Lohnarbeit. Und hat sogar explizit jegliche Form des Klassenkampfes auf dem Lande gegen die "Kulaken" als unsozialistisch - bis 1929 - verdammt.

Noch 1929, zu einer Zeit als Bukharin bereits von ihm angegriffen worden ist, hat er sich für die Beibehaltung von Farmen im Privatbesitz ausgesprochen (vgl. Stalin: Problems of Leninism, S. 267). Um dann ein paar Monate später die forcierte Kollektivierung umzusetzen. (Deutscher, S. 319). Und damit - vordergründig - ideologische Positionen zu bedienen, die er bis dahin massiv abgelehnt hat und deren Repräsentanten auch weiterhin massiv bekämpfte.

Deswegen der Versuch einer Einordnung des Stalinismus in den Kontext des Marxismus, wie er primär durch Marx, Engels und durch Kautsky - und viele andere - als "westliche" Fundierung an die russische KP herangetragen worden ist. Dabei werden zum Beispiel - nur um die Begrenztheit der Auflistung zu unterstreichen - die starken anarchistischen Einflüsse komplett ausgeblendet.

Ree gibt eine Literaturschau über die unterschiedlichen Einschätzungen der Ideologie des "Stalinismus". Unabhängig davon, dass er Stalin als Theoretiker für noch nicht "ausgeforscht" einschätzt, gibt er folgende Einschätzung zur Kontinuität des Stalinismus vor dem Hintergrund der ideologischen Tradition, in die der Stalinismus eingebettet ist:

"These caveats aside, we are left with the paradox that Stalinist ideology contain little that was not prefigured in the Western revolutionary movement; but was at the same time perfectly adapted to Russian traditions of authoritarianism, bureaucratic etatism, and patriotism. For all its lack of originality, it did at the same time represent a typically Russian Marxism. .....And this selection [unterschiedlicher sozialistischer und auch marxistischer Ansätze mit der historischen russischen politischen Kultur] did produce a remarkable construct. I know of no other ideology preserving both Marxism and radical patriotism in almost unalloyed form and combining them boldly into a new, almost incoherent whole. This was a "national bolshevism" in the full sense of the word." (Ree, S. 180)

Und letztlich wird wohl jeder, der sich ausreichend mit dem Thema beschäftigt hat, für sich ein Narrativ entwickeln müssen, den Stalinismus in seinen historischen Voraussetzungen und seinen ideologischen Ausprägungen korrekt einzuschätzen.

Deutscher, Isaac (1990): Stalin. A political biography. Rev. ed. London: Penguin Books.
van Ree, Erik Ree (2005): Stalin as Marxist: the Western roots of Stalin`s russification of Marxism. In: Sarah Davies und James R. Harris (Hg.): Stalin. A new history. Cambridge: Cambridge University Press, S. 159–180.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Position von Stalin zu NEP und zur anschließenden Phase der Hyper-Industrialisierung ist für ihn nicht ideologisch ausgerichtet gewesen. Deswegen hat sich die Frage für Stalin auch nicht gestellt, weder in Bezug auf die Existenz von privaten Farmen, einem freien Markt und damit zusammenhängender Lohnarbeit. Und hat sogar explizit jegliche Form des Klassenkampfes auf dem Lande gegen die "Kulaken" als unsozialistisch - bis 1929 - verdammt.

Das kommt wohl ganz darauf an, ob der Begriff "ideologisch" den Bereich der Verschwörungstheorie mit einbezieht oder nicht. betrachtet man die axiomatische Annahme einer Koalition der kapitalistischen Länder gegen die Sowjetunion, der sich diese erwehren müsse als ein ideologisches Moment, hat das eben sehr wohl etwas mit Ideologie zu tun.
Diese Vorstellung hatte ja seinerzeit durchaus nicht nur Stalin alleine sondern sie war ja auch vor dem hintergrund der Intervention der Entente- und assoziierten Mächte im Rahmen des Bürgerkrieges zunächstmal durchaus Gemeingut der blschewistischen Führungsriege, so dass man das schwerlich als einfach als einen Auswuchs spezifisch stalinscher Paranoia abtun kann, sondern wenn dann handelt es sich um ideologisch bedingte kollektive Paranoia der KP, die bei Stalin sicherlich eine besondere Ausprägung erreicht, aber auch bei den meisten anderen Exponenten des politischen Systems durchaus eine Rolle spielte.

Die
Noch 1929, zu einer Zeit als Bukharin bereits von ihm angegriffen worden ist, hat er sich für die Beibehaltung von Farmen im Privatbesitz ausgesprochen (vgl. Stalin: Problems of Leninism, S. 267). Um dann ein paar Monate später die forcierte Kollektivierung umzusetzen. (Deutscher, S. 319). Und damit - vordergründig - ideologische Positionen zu bedienen, die er bis dahin massiv abgelehnt hat und deren Repräsentanten auch weiterhin massiv bekämpfte.

Und daher meinerseits auch die Einlassung dahingehend, den Ansatz aufzugreifen, inwie weit das Durchexerzieren des kompletten Bruchs mit der NEP auch einfach ein notwendiges moment zur vollständigen Entmachtung der politischen Widersacher Stalins in den Parteiorganen darstellte, neben der fatal falschen Einschätzung der außenpolitischen Situation.


Die
Deswegen der Versuch einer Einordnung des Stalinismus in den Kontext des Marxismus, wie er primär durch Marx, Engels und durch Kautsky - und viele andere - als "westliche" Fundierung an die russische KP herangetragen worden ist. Dabei werden zum Beispiel - nur um die Begrenztheit der Auflistung zu unterstreichen - die starken anarchistischen Einflüsse komplett ausgeblendet.

Ree gibt eine Literaturschau über die unterschiedlichen Einschätzungen der Ideologie des "Stalinismus". Unabhängig davon, dass er Stalin als Theoretiker für noch nicht "ausgeforscht" einschätzt, gibt er folgende Einschätzung zur Kontinuität des Stalinismus vor dem Hintergrund der ideologischen Tradition, in die der Stalinismus eingebettet ist:

"These caveats aside, we are left with the paradox that Stalinist ideology contain little that was not prefigured in the Western revolutionary movement
; but was at the same time perfectly adapted to Russian traditions of authoritarianism, bureaucratic etatism, and patriotism. For all its lack of originality, it did at the same time represent a typically Russian Marxism. .....And this selection [unterschiedlicher sozialistischer und auch marxistischer Ansätze mit der historischen russischen politischen Kultur] did produce a remarkable construct. I know of no other ideology preserving both Marxism and radical patriotism in almost unalloyed form and combining them boldly into a new, almost incoherent whole. This was a "national bolshevism" in the full sense of the word." (Ree, S. 180)

Das ist grundsätzlich zwar zutreffend, lässt, wie ich meine aber doch etwas den Zeithorizont außer acht. natürlich hat es diese Phänomene auch im Westen gegeben, im besonderen dann, wenn man die soziale Bewegung über den theoreitschen marxismus hinaus bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts betrachtet und damit die frühsozialistischen Bewegungen, in denen auch durchaus anarchische und autokratische Ideen durchaus eine Rolle spielten (Koenen greift es in seinem "Die Farbe Rot, Ursprünge und Geschichte des Kommunismus" durchaus auf.
Das miteinander zu kombinieren hat im Hinblick auf den ideologischen Standpunkt, bzw. dessen Klassifikation aber eben das Problem, dass es einen originären Bruch mit dem historischen Materialismus bedeutet. Es findetet eine Adaption oder Neuerfindung von Versatzsstücken dessen statt, was der Westen bereits kannte, aber durchaus kein import einer wie auch immer gearteten kohärenten Systematik in der Sache.
Ob gemäß der Anschauung des historischen Materialismus, wie du das selbst Lenin und Bucharin attestierst (ich schließe mich dem durchaus an), eine Reflektion der eigenen Ausgangslage bei Stalin noch stattfindet und die daraus folgenden Konsequenzen denn auch darauf beruhen oder aber vor allem auf der außenpolitischen Fehlbeurteilung der Situation und dem Bedürfniss der Machtfestigung im Inneren halte ich für fraglich.

Ich kann mich nach wie vor nur für die gehaltvollen Beiträge bedanken.
Muss leider aber ebenfalls konstatieren, dass ich im Moment so überhaupt keine Idee haben, warum wir offenbar dermaßen aneinander vorbei schreiben.
 
Die Benennung des Thread trifft präzise das Problem. Und es st die Frage zu beantworten, in welchem Umfang die ideologischen Vorgaben handlungsleitend für die praktische Umsetzung in der sowjetischen Realplitik gewesen sind.

Dabei stellt sich zunächst die Frage, welche unterschiedliche Rollen die "Ideologie" zu erfüllen hatte. Zumal alle Funktionen im konkreten Fall der UdSSR zu erkennen sind.

1. Mobilisierung der Partei
- historische Konstanz der eigenen philosophischen Position in Deckung zu Marx und Lenin
Alle Theoretiker der KP haben auf Marx und Lenin referenziert. Im Fall von Trotzki ergab sich zusätzlich die Nähe zu Hegel. Diese gewollte Nähe ergab sich frühzeitig aus den Konflikten mit den "Menschewiki", die als eine Variante der russischen Sozialdemokratie angesehen werden können. Und aus dieser kampforientierten Abgrenzung resultiert der Zwang, jegliche Nähe zu den Menschewiki zu unterlassen. Besonders anfällig für derartige Denunziationen war naturgemäß Trotzki.

- Sie diente im Kontext des Ausbaus der Partei Grundlage für die Mobilisierung von "Genossen". Entscheidender war aber die Mobilisierung der Delegierten auf den jeweiligen Parteitagen. Die Mobilisierung erfolgte zum einen entlang der Überzeugungsfähigkeit der dargestellten Positionen und im Fall von Stalin als Generalsekretär entlang der Netzwerke, die er in den zwanziger Jahren durch eine gezielte Personalpolitik aufgebaut hatte

- Sie war das entscheidende Kampffeld für die innerparteiliche Ausrichtung. Die politische Ausrichtung an sich war dabei nach dem Tod von Lenin zunehmen das Instrument, über das sich die divergierenden Parteiflügel ausrichteten. Parallel zur Ausrichtung erfolgte dabei die Exklusion der politischen Strömungen, die als Rivale die eigene Machtbasis gefährden konnten. Wie es dann konkret auf dem Parteitag 1927 mit der Entmachtung des "linken Flügels" passierte und der Exilierung von Trotzki.

2. Mobilisierung der Bevölkerung
Um den sozialen Zusammenhalt eines Landes jenseits des permanenten Einsatzes repressiver Mittel zu gewährleisten fungierte die Ideologie des Marxismus-Leninismus auch als Instrument, um Zustimmung zum politischen System zu erzeugen.

Und damit wurde die Ideologie auch das Instrument, um angebliche "Abweichung" von den kollektiven Zielen in der UdSSR zu stigmatisieren und dadurch einen Ausgrenzung bzw. Repression zu öffnen.

Allerdings waren an vielen Punkten, nicht zuletzt durch den massiven stalinistischen Terror in den dreißiger Jahren, der Gewinnung von Zustimmung durch ideologische Indoktrination auch Grenzen gesetzt. Zu massiv fiel der Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit aus (vgl. Brandenberger)

3. Überzeugung der Weltöffentlichkeit
In den zwanziger und dreißiger Jahren wurde massiv von Seiten der UdSSR versucht, die eigene Entwicklung als die humanistische Antwort der zynischen Verfehlungen des Kapitalismus im Rahmen der Anzettelung des WW1 hinzustellen.

Bereits frühzeitig hatte ein J. Reed, mit "10 Tage, die die Welt erschütterten", für das Lenin bereits 1919 für die amerikanische Ausgabe das Vorwort geschrieben hatte, ein positives Bild zeichnen wollen. Und nicht wenige Intellektuelle waren positiv gegenüber der UdSSR eingestellt. Eine Entwicklung, die sich im Rahmen der "Internationalen Brigaden" im Spanischen Bürgerkrieg manifestieren sollte, inklusive massiver Ernüchterung und Entfremdung.

Allerdings ista auch anzumerken, dass sich viele K-Parteien in der Welt nur sehr widerstrebend im Rahmen der von Mokaus gesteuerten "Comintern-Strategie" anpassen wollten (vgl. Carr, S. 3-28)

Die Anerkennung der UdSSR als Handelspartner war aus der Sicht der KP eine überlebenswichtige Voraussetzung, um die Industrialisierung des Landes in der kürzest mögllichen Zeit zu realisieren.

Diese Rollen konnte die "Ideologie" mehr oder minder sinnvoll ausfüllen. Für zwei zentrale Richtungsentscheidungen in der sowjetischen Politik, der Entscheidung für NEP und für den Einstieg in die Hyper-Industrialisierung nach 1928 hat sie keine stringente Argumentation bereit stellen können. Es waren in beiden Fällen pragmatische Überlegungen, die in unterschiedlichen historischen Situationen, das Überleben sicher stellen sollten.

Brandenberger, David (2011): Propaganda State in Crisis: Soviet Ideology, Indoctrination, and Terror Under Stalin, 1927-1941. New Haven, London: Yale University Press.
Carr, Edward Hallett (1983): Twilight of the Comintern, 1930-1935. New York: Pantheon Books.
 
Aus dieser Situation resultierte u.a. das realpolitische Problem einer Entfremdung von Stadt und Land und bewirkte gravierende Legitimationsprobleme der KP auf dem Land und ist einer der Gründe für die „Wagenburgmentalität“ der KP während der stalinistischen Periode.
Aber ist das nicht bereits vor der stalinistischen Periode der Fall gewesen? Ich denke da an die blutige Niederschlagung der vormals mit der RA verbündeten anarchistischen Machno-Bewegung durch den noch nicht in Ungnade gefallenen Trotzki.
 
Aber ist das nicht bereits vor der stalinistischen Periode der Fall gewesen? Ich denke da an die blutige Niederschlagung der vormals mit der RA verbündeten anarchistischen Machno-Bewegung durch den noch nicht in Ungnade gefallenen Trotzki.

Richtig. Allerdings wurde diese Entfremdung nicht eingeebnet, wie es als Konsequenz aus NEP möglich gewesen wäre, sondern durch die Ausbeutung der "internen Kolonie" - dem Agrarsektor - noch zusätzlich verschärft.

Das Beispiel betrifft allerdings die Ukraine und hat damit einerseits eine politische Konfliktlinie zum Anarchismus und andererseits einen nationalistischen Aspekt, der auch die intensive politische Diskussion über die Eigenständigkeit von Sowjetrepubliken betraf, die davor und parallel zwischen Lenin, Trotzki und Stalin - als "Volkskommisar für Nationalitätenfragen" gelaufen ist.

Insgesamt, so zumindest mein Kenntnisstand, wird der hohe Grad der Entfremdung zwischen der Stadt und dem Land betont, seit dem Beginn der Oktoberrevolution. U.a. betont Hoffmann (S. 158 ff) im Kapitel "Offical Culture and Peasaat Culture", dass die versuchte Durchdringung des Agrarbereichs in den zwanziger Jahren mit den "revolutionären Ideologien bzw. Werten" der KP spätestens Anfang der 30 er Jahre zum erliegen kam und die politischen Eliten zunehmend wieder traditionelle russische Werte bemühten. Inklusive einer Verstärkung der Religiösität auf dem Lande.

Insgesamt hat sich die KP auch schwer getan, auf dem Lande PG zu rekrutieren und Anfang der dreißiger Jahre ist die Anzahl sogar wieder rückläufig.

Hoffmann, David L. (1994): Peasant metropolis. Social identities in Moscow, 1929-1941. Ithaca: Cornell University Press (Studies of the Harriman Institute).
 
Dazu dann zwei Fragen:

1. für wie plausibel und sachlich begründbar hältst Du die die Unterscheidung zwischen der Stadt-/Land-Entfremdung in der stalinistischen Epoche und in den Jahrzehnten davor inkl. Zarenzeit? Gibt es dazu eine Bemessungsgröße (eine empirisch fundierte Begründung)?

2. ist eine Unterscheidung zwischen dem Industrialisierungs"tempo" der letzten zwei zaristischen Dekaden und 1928/41 empirisch begründet/nachweisbar? Anhand welcher volkswirtschaftlichen Aggregate? Mit Hilfe welcher Kennzahlen?

[Mit der Frages 2. schiebe ich auch meine Skepsis über die sozialistische "Praxis" makroökonomischer Gesamtrechnung (und Statistik) beiseite. Die Zahlenbasen als (halbwegs) korrekt unterstellt: welche Indikatoren sollen das belegen?]
 
zu 1. Nötzold weist auf eine Studie von Postnikow (1891) zur Ukraine hin, die stellvertretend für Russland den Überschuss an Arbeitskräften in der Landwirtschaft konstatiert, der trotz einer arbeitsintensiven, wenig effiziente, Landwirtschaft, nicht genutzt werden konnte. "Das ist die Hauptursache der ökonomischen Armut Russlands." "Diese wirtschaftliche Schwäche und Rückständigkeit Russlands zu überwinden, das war das Ziel von Witte und Stolypin mit jeweils verschiedenen Konzepten zu erreichen versuchten." (Nötzold, S. 230).

Das strukturelle Merkmal der Schwäche war dabei die hochgradig parzellierte Aufteilung der Felder, die die Einführung der modernen Fruchtfolge verhinderte. Figes beschreibt es an einem konkreten Konflikt zwischen Modernisierern und Traditionalisten: Semjonow:"Mir einen eigenen Einzelhof mit Siebenfelderwirtschaft einzurichten, ohne die Probleme der vielen Ackerstreifen - das ist mein Traum." (Figes, S. 255)

Und die Reformabsichten eines Stolypin finden in der Sichtweise des innovativen Bauern Semjonow den idealen Umsetzer.

In der Umsetzungsphase ergeben sich massive Konflikte zwischen den Traditionalisten und den innovativen Bauern. Von den insgesamt genehmigten Zusammenlegungen von Felderstreifen mußten ca. zwei Drittel durch die zaristischen Behörden gegen den Widerstand der ländlichen Bevölkerung durchgesetzt werden. In der Regel durch den massiven Einsatz von Militär, da es ansonsten keine funktionsfähigen exekutiven Strukturen auf dem Lande gab. (Figes, S. 258)

"Die Regierung versuchte ohne jeden realen politischen Einfluß auf dem Land, die Lebensweise der Bauern zu ändern. (Figes, S. 261) ....Unterdessen gab es auf Dorfebene überhaupt keine staatliche Administration , obgleich man gerechterweise sagen muss, dass Stolypin versucht hatte, ein Bezirkssemstwo zu schaffen, .....Ohne die Demokratisierung der lokalen Verwaltung [die von den adeligen Großgrundbesitzern dominiert wurden] waren Stolypins Reformen zum Scheitern verurteilt." (Figes, S. 262)

Und beschreibt Pipes (S. 281 ff) auch für das zaristische Russland die Entwicklung der exekutiven - polizeilichen - Strukturen relativ ausführlich und erkennt in ihnen einen "Prototyp" in Richtung einer Veränderung zum "Polizei-Staat", dann betrifft es im wesentlichen die Städte, in denen politisches Leben stattgefunden hat. Das Diffundieren in der ländlichen Regionen hat nicht eingesetzt und führte nicht zur Durchdringung des ländlichen Raum durch eine staatliche Administration bzw. Exekutive.

Die gegenseitigen Abstoßungsverhältnisse zwischen Stadt und Land waren in beiden Perioden zunächst durch den Lebensstil definiert, der sich in unterschiedlichen Kapitalsorten (Bourdieu) niederschlug.
Und man mag die - auch auf militärischer Gewalt beruhende Intervention - des zaristischen Staates im Rahmen seiner Modernisierungspolitik unter Stolypin als "Blaupause" interpretieren für die Modernisierungsanstrengungen der Bolschewiken, zunächst u.a. unproduktive kleine Höfe in größere Einheiten zu überführen.

Den Grad der Entfremdung zwischen Stadt und Land, hätte man m.E. nur über die Analyse der "Einstellungen" messen bzw. dann auch quantifizieren können, wie es Bourdieu (Die feinen Unterschiede) beispielsweise im Rahmen der französischen Gesellschaft vorgenommen hat.

Es setzt aber während der Phase des Stalinismus eine administrative Durchdringung des ländlichen Raums ein, um sicher zu stellen, dass es keine Regionen in der UdSSR gibt, die sich der zentralen Planung und Kontrolle entziehen können.

Eine interessante Tabelle präsentiert Edele (S. 113)

Numbers of higher-level administrators
............................1926....................1937
Rural region......93.........................636
Towns................218.......................677
(in thousands)

zu 2. Mir liegen keine Zeitreihen vor, die derart lang sind. Bei Nove (S. 89) beginnt eine Zeitreihe zur industriellen Produktion im Jahr 1913 und geht bis 1926.

Ansonsten bemühen sich die Beiträge in Bergson und Kuznets darum, eine korrekte Berechnung vorzunehmen, allerdings bieten sie lediglich lange Zeitreihen nur für die USA an.

Das ist mein bescheidener Kenntnisstand zu dem Thema

Bergson, Abram; Kuznets, Simon (Hg.) (1963): Economic trends in the Soviet Union. Cambridge: Harvard University Press.
Edele, Mark (2011): Stalinist society, 1928-1953. Oxford: Oxford University Press
Figes, Orlando (1998): Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der Russischen Revolution 1891 bis 1924. Berlin: Berlin-Verl.
Nötzold, Jürgen (1975): Agrarfrage und Industrialisierung am Vorabend des Ersen Weltkriegs. In: Dietrich Geyer (Hg.): Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Russland. Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 228–251.
Nove, Alec (1992): An economic history of the USSR 1917-1991. 3rd ed. London: Arkana
Pipes, Richard (2005): Russia under the old regime. London u.a.: Penguin Books
 
Zuletzt bearbeitet:
"Diese wirtschaftliche Schwäche und Rückständigkeit Russlands zu überwinden, das war das Ziel von Witte und Stolypin mit jeweils verschiedenen Konzepten zu erreichen versuchten." (Nötzold, S. 230).


Der Witte schreibt in seinen Memoiren* über den Stolypin, dass dieser ungewöhnlich rücksichtslos gegen das Leben der Bevölkerung vorgegangen sei.
(Stolypin wird Ministerpräsident; als Wittes Stern rasch sinkt und ein Rollback seiner Reformen stattfindet)
„When Stolypin formed his Cabinet.. , he introduced field-court martial, which set the hands of the
administration entirely free in application of capital punishment”.
Nicht nur das.
Stolypins Gesetz, gemäß Witte, verlangte auch, dass Richter durch Offiziere ersetzt werden konnten.

Und schließlich das veränderte Strafgesetz ein Mittel bereitstellte staatlich veranlasste Morde durchzuführen.
„The Goverment began to execute people right and left
at the discretion of the administration, Capital punishment, in fact, has become an act of assassination by the Governmental authorities.
Es habe, so Witte, schließlich eine Orgie der Hinrichtungen stattgefunden.
(„orgy of executions“)

Bei der Wahl der Mittel waren Stalin und Stolypin wohl ähnlich gesonnen.

we are left with the paradox that Stalinist ideology contain little that was not prefigured in the Western revolutionary movement; but was at the same time perfectly adapted to Russian traditions of authoritarianism, bureaucratic etatism, and patriotism. For all its lack of originality, it did at the same time represent a typically Russian Marxism.

Diesen Gedanken arbeitet auch Arch Getty – Practicing Stalinism Bolsheviks, Boyars, And The Persistence Of Tradition – überzeugend heraus. (Danke für die Buchempfehlung!)

Was ich mich in diesem Zusammenhang frage:
Kann man eine Traditionslinie von den Semstwos zu den späteren Kollektiven ziehen?

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*Memoirs of Count Witte – Doubleday, Page & Company 1921, Seite 371
The memoirs of Count Witte : Witte, Sergei IUl'evich, graf, 1849-1915 : Free Download, Borrow, and Streaming : Internet Archive
 
Bei der Wahl der Mittel waren Stalin und Stolypin wohl ähnlich gesonnen..........
Was ich mich in diesem Zusammenhang frage:
Kann man eine Traditionslinie von den Semstwos zu den späteren Kollektiven ziehen?

Eine schwierige Antwort, auch weil sie extrem Komplex ist und viele "Traditionslinien" ausblendet, wie beispielweise das Nachwirken der reformorientierten "Dekabristen", um nur einen Aspekt zu nennen.

Zu 1. Sie standen beide vor ähnlichen Herausforderungen, die sie unter hohem inneren und auch äußerem Druck lösen mußten. Ansonsten ist die spezifische gewaltbereite Persönlichkeit, als Grundlage der Erklärung für die massive Anwendung von politischer Gewalt und Exterminierung, nur ein Faktor in einer Erklärung.

Zu 2. Eine mögliche Traditionslinie ergibt sich m.E. aus dem Fortbestehen der politischen bzw. geographischen Situation für das zaristische Reiche nach 1900 und für die Sowjetunion von Stalin, da die Problem ähnlich waren.

Im einzelnen wäre m.E. folgende Faktoren relevant (ohne Anspruch auf Vollständigkeit), die kurz präzisiert werden sollen:

1. Landesspezifische Tradition, nationale Kultur und "nationale Identität"
- Gewalt als Teil der ländlichen Kultur: Die Rolle von Fatalismus und Gewalt spielte im agrarisch geprägten Russland eine bedeutsame Rolle und wirkten bis in die Periode der Sowjetunion hinein.

Man hatte als einfacher Bauer, noch in der mentalen Tradition der Leibeigenen, sein Schicksal so zu akzeptieren wie es war. „Manche führten die Schicksalsergebenheit der Bauern auf einen an die Leibeigenen erinnernden Fatalismus zurück, für den Tod Befreiung von einem leidvollen Leben war. Wenn die Bauern über ihr Los sprachen, bezeichneten sie das Jenseits häufig als „Reich der Freiheit“, in dem ihre Vorfahren nun in glücklicher Ungezwungenheit lebten.“ (Figes, 2003, S. 374)

Figes vermutet, dass das universelle Vorhandensein von Gewalt, die Disposition der Bevölkerung für Gewalt beeinflußt hat. „ Die Gewalt und die Grausamkeit, die das alte Regime gegen die Bauern übte, verwandelte sich in eine Gewalt der Bauern, die nicht nur das alltägliche Dorfleben entstellte, sondern auch in der furchtbaren Gewalt der Revolution auf das Regime zurückschlug.“ (Figes, 1998, S. 110). Und greift dabei u.a. einen Essay von Gorki „Vom russischen Bauern“ (1922) auf, „ob nicht die Revolution in Wirklichkeit nur die beispiellose Grausamkeit des russischen Volkes …..zum Vorschein brachte.“ (ebd. S. 110).

Das Einüben der Gewalt, so Figes erfolgte u.a. im dörflichen Leben: „Das war eine Kultur, in der das Leben nichts wert war, und wie immer man die Ursprünge dieser Gewalt erklärt, sie sollte in der Revolution eine wichtige Rolle spielen.“ (ebd. S. 111).

Hinzu kam die Erfahrung der russischen Soldaten mit Tod, Gewalt, Elend und Perspektivlosigkeit. Eine Erfahrung, die sie mit den Soldaten anderer Nationen teilte, die jedoch nach ihrer Heimkehr in den „normalen Kontext“ der Aufrechterhaltung wieder zurückkehren Konnten. Und sieht man von den Soldaten der „Freikorps“ ab, die sich der Integration widersetzten, wurden Millionen von Soldaten nach 1918 wieder in die Zivilgesellschaft reintegriert.

Es ergibt sich somit ein spezifischer Stellenwert von historisch angelegter entgrenzter Gewaltausübung, der aber natürlich nicht zwangsläufig in den Stalinismus hätte führen müssen. Aber die Ähnlichkeit des gewaltorientierten Handlungsrepertoirs der Regierung ansatzweise erklärt.

2. individuelle Sozialisation von Stalin
- Aufwachsen im Widerstand: Betrachtet man die Entwicklung von Stalin seit der Kindheit, dann ist seine politische Sozialisation durch eine permanente Konfrontation mit dem zaristischen Regime gekennzeichnet. Durch den Kampf gegen das Regime und der Repression, Verhaftung etc., seiner Person.

- Gewalterfahrung im Bürgerkrieg: Während des Bürgerkriegs war Stalin politischer Kommissar bei der 1. Roten Reiterarmee. Ein wichtiger Aspekt für sein späteres politisches Wirken, da sehr viele, die er in dieser Phase kennen lernte, zu langjährigen „Vertrauten“ und „Kampfgenossen“ werden. Und wie Fitzpatrick schreibt, sich als persönliches Netzwerk durch einen extremen machohaften Verhaltensstil auszeichneten.

https://de.wikipedia.org/wiki/1._Rote_Reiterarmee

Die Heftigkeit des Bürgerkriegs bedeutete für die Beteiligten den Zwang zum Sieg. Eine militärische Niederlage der Bolschewiken hätte für viele ebenfalls gravierende Konsequenzen gehabt, da es den meisen wohl das Leben gekostet hätte. Dieser Aspekt hat sich sicherlich intensivierend auf die generelle Akzeptanz von Gewalt und dem Vernichten des „Gegners“ ausgewirkt.

- Exterminierender politische Konflikt: Die Bolschewiken sind in einem Lande und zu einem Zeitpunkt an die Macht gekommen als zu befürchten war, dass die zentrifugalen Kräfte das russische Imperium in einzelne Länder aufspalten könnte. U.a. durch die Etablierung dezentraler „Machtzentren“ konnte die Situation stabilisiert werden. Daraus resultierte aber ein fragiles Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Machtzentren in der UdSSR, das sich u.a. auch an der Frage der Durchsetzung des „Zentrums“ gegenüber der „Peripherie“ im Rahmen der großen politischen Verfolgungen der 30er Jahre entlud (vgl. Arch Getty)

In der Art wie Stalin den Kampf gegen seine politischen Gegner führte, wich er dabei vom bis dahin geltenden parteiinternen Diskurs ab und homogenisierte die ideologischen Sichten auf eine einzige „wahre“ Sicht.

In diesem Vorgehen von Stalin nach 1927 kommt vermutlich die Art seiner politischen Sozialisation und vermutlich auch seine Persönlichkeitsmerkmale am deutlichsten zum Ausdruck. Und damit hat er wohl einerseits ein gemeinsames „Erbe“ mit Stolypin in Bezug auf sein Handlungsrepertoir, aber andererseits auch gravierende abweichende Erfahrungen, die ihn deutlich radikaler in seiner Gewaltbereitschaft auftreten lassen.

3. Modernisierungsstau, externe Rivalität und Überdehnung
Die Modernisierung von Ländern wird in der Regel als "sozialer Wandel" beschrieben. Russland hat wie beispielsweise Ö-U ein nicht so rasches Innovationstempo gezeigt, sich den veränderten globalen Bedingungen anzupassen. Und ein wesentlicher Faktor vor 1914 war dabei die konservierende Sicht der Adelsschicht bzw. der Dynastien, die durch den Wandel im Rahmen der Industrialisierung einen Schub in Richtung auf eine sozialistische Umgestaltung durch das parallel anwachsende Proletariat befürchtet haben.

Je länger der politische und soziale Anpassungsdruck dabei ignoriert wird, desto wahrscheinlich war der "entfesselte Modernisierungsschub" im Rahmen von revolutionären Umgestaltungen.

In diesem Sinne kann man die Bolschewiken, aber auch die Faschisten als eine mögliche Antwort interpretieren, den notwendigen politischen und sozialen Modernisierungsschub eines Landes nach 1918 voranzubringen.

Es wird damit aber auch deutlich, dass offene demokratische Gesellschaften, die die Forderungen der unterschiedlichen Anspruchsgruppen im demokratischen Diskurs aushandeln, trotz der Notwendigkeit der Kompromissfindung, eine deutlich höheres evolutionäres Potential aufweisen, sozialen Wandel erfolgreich zu steuern. Und manche Politikerin dabei – fast nebenher – einen neuen Politikstil eines „evolutionären Konservatismus“ praktiziert.


Figes, Orlando (1998): Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der Russischen Revolution 1891 bis 1924. Berlin: Berlin-Verlag
Figes, Orlando (2003): Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands. Berlin: Berlin-Verlag
Fitzpatrick, Sheila (2017): On Stalin's team. The years of living dangerously in Soviet politics. First paperback. Princeton, Oxford: Princeton University Press.
Getty, J. Arch (2013): Practicing Stalinism. Bolsheviks, boyars, and the persistence of tradition. New Haven: Yale University Press.
Tucker, Robert C. (1974): Stalin as revolutionary, 1879-1929. A study in history and personality. New York: Norton
 
Ansonsten: Die emotionale Aufladung durch die Vermutung, ob Stalin an "Größenwahn" oder an "Sadismus" gelitten hat, ist genauso wenig zielführend wie Diskussion über Hitler und angebliche pathologische Defekte.

Aussagen über Größenwahn und Sadismus haben nichts mit "emotionaler Aufladung" zu tun und können, falls zutreffend, durchaus "zielführend" sein. Und was gibt es beim Thema Stalin, der zusammen mit Mao und Hitler die Top 3 der größten Massenmörder aller Zeiten bildet, überhaupt noch "aufzuladen"?

N.M. Naimark, Uni Stanford, ´Stalin und der Genozid´, Abschnitt III:

Stalin trieb gern ein Katz-und-Maus-Spiel, indem er vor seinen Untergebenen die tödlichen Aussichten von Deportation, Leben im GULag, Folter und Exekution gegeneinander abwog. Er beobachtete, wie sie auf seine Stänkereien, Sticheleien und den sadistischen Humor reagierten. Manchmal machte er ihnen etwas vor, überwachte ihre Verhaftung, ließ sie auf Begnadigung hoffen und dann abführen, verhören, foltern und erschießen.

Jörg Baberowski, Humboldt-Universität:

- Die Unerträglichkeit des grenzenlos Bösen

Wir müssen uns Stalin als einen glücklichen Menschen vorstellen, der sich an den Seelenqualen seiner Opfer erfreute…..Für Sadisten und manche Psychopathen ist der Ausnahmezustand das Paradies (...) Stalin war ein solcher Psychopath.


Massenmord: Stalin und der sadistische Macho-Kult des Tötens - WELT

Baberowski attestiert Stalin alle Kriterien eines typischen Psychopathen: Gefühlskälte, Gewissenlosigkeit, ein manipulatives Verhältnis zur Umwelt und die Unfähigkeit, Reue oder Mitgefühl mit anderen Menschen zu empfinden. Es ist diese psychopathische Grundstruktur, die zur Entfesselung destruktiver Kräfte führt und andere Psychopathen und Sadisten an ihn bindet – Gewaltmenschen, "die den Macholkult des Tötens" öffentlich inszenieren, sich mit den Insignien militärischer Gewalt, mit Militärstiefeln, Uniformen und Pistolenhalftern umgeben und Mitleid ebenso wie Toleranz verachten.

Erich Fromm, ´Anatomie der menschlichen Destruktivität´, 333 ff.:

Eines der deutlichsten historischen Beispiele sowohl für den seelischen als auch für den physischen Sadismus war Stalin. Sein Verhalten ist geradezu ein Lehrbuch für den nichtsexuellen Sadismus, wie es die Romane des Marquis de Sade für den sexuellen Sadismus waren. Er war es, der als erster seit dem Beginn der Revolution anordnete, politische Gefangene zu foltern, eine Maßnahme, vor der die russischen Revolutionäre zurückgeschreckt waren, bis er den Befehl gab (R. A. Medwedew, 1973). Unter Stalin haben die vom NKWD angewandten Methoden an Raffinement und Grausamkeit alles übertroffen, was die zaristische Polizei sich je ausgedacht hatte. Manchmal traf er selbst die Anordnungen, welche Art der Folterung bei einem Gefangenen anzuwenden wäre. Er bediente sich dabei hauptsächlich des seelischen Sadismus, wofür ich einige Beispiele anführen möchte. Eine spezielle Form, die Stalin besonders liebte,war, dass er den Betreffenden versicherte, sie seien völlig sicher, um sie dann ein oder zwei Tage später verhaften zu lassen. Natürlich traf diese Verhaftung das Opfer umso härter, weil es sich ja besonders sicher gefühlt hattte. Außerdem hatte Stalin ein sadistisches Vergnügen daran, dass er selbst genau wusste, was dem Betreffenden tatsächlich bevorstand, während er ihn noch seiner Gunst versicherte. Gibt es eine größere Überlegenheit und eine vollkommenere Herrschaft über einen anderen Menschen?

Hier sind einige von Medwedew angeführte Beispiele:

(beim Copypaste sind einige Anfangsbuchstaben verschwunden, ein paar habe ich ersetzt)

Kurz bevor man den Bürgerkriegshelden D. F. Serdich verhaftete, brachte Stalin bei einem Empfang einen Trinkspruch auf ihn aus und trug ihm die rüderschaft an. Wenige Tage vor der Liquidierung Blüchers sprach Stalin auf iner Versammlung noch in den herzlichsten Tönen von ihm. Bei einer rmenischen Delegation erkundigte er sich nach dem Befinden des Dichters scharenz und versicherte, ihm dürfe nichts geschehen, doch wenige Monate päter war Tscharenz erschossen.
Die Frau von Ordshonikidses Stellvertreter, A. Serebrowskij, berichtet von inem unerwarteten Telefonanruf Stalins eines Abends im Jahre 1937: „Wie ich höre, gehen Sie zu Fuß umher“, sagte Stalin. „Das taugt nichts. Die Leute enken gleich dummes Zeug. Solange Ihr Wagen in der Reparatur ist, schicke ch Ihnen einen anderen.“ Und wirklich, am nächsten Morgen stellte der Kreml Frau Serebrowskij einen Wagen zur Verfügung. Aber zwei Tage darauf wurde ihr Mann noch im Krankenhaus verhaftet.
Den berühmten Historiker und Publizisten J. Steklow verstörten die zahllosen erhaftungen so sehr, dass er sich bei Stalin anmeldete. „Aber gerne“, sagte ieser, „kommen Sie doch herüber." Und als er eintraf, beruhigte Stalin ihn.
„Was haben Sie denn nur? Die Partei kennt Sie und vertraut Ihnen, Sie haben nichts zu befürchten.“ Steklow kehrte heim zu seinen Freunden und Verwandten und wurde am gleichen Abend noch vom NKWD abgeholt.
Selbstverständlich war der erste Gedanke dieser Freunde und Verwandten, ich an Stalin zu wenden, der doch offenbar keine Ahnung von dem hatte, was orging. Es war viel leichter, daran zu glauben, dass Stalin nichts wusste, als aran, dass er ein raffinierter Bösewicht war. 1938 stürzte I. A. Akulow, hemals Prokurator der UdSSR und später Sekretär des ZK, beim chlittschuhlaufen so schwer, dass er sich eine lebensgefährliche ehirnerschütterung zuzog. Stalin sorgte dafür, dass hervorragende usländische Chirurgen zugezogen wurden, die ihm das Leben retteten.
Akulow kehrte nach langer, mühseliger Genesung an die Arbeit zurück, worauf an ihn erschoss. (R. A. Medwedew, 1973, S. 323)

(...)
Eine andere Form, in der Stalins Sadismus sich äußerte, war, dass sein Verhalten nie vorauszusagen war. Es gibt Fälle, in denen Leute, deren Verhaftung er angeordnet hatte, nach ihrer Folterung und strengen Verurteilung nach ein paar Monaten oder wieder freigelassen und in hohe Ämter eingesetzt wurden – und dies oft ohne Erklärung.

 
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Leider ist mir zu spät eingefallen, dass ich meine Antwort an Thane an den Stalin-Thread hätte anhängen sollen, weil sie im Machiavelli-Thread OT ist, so wie mein Machiavelli-Artikel von dort verschoben wurde, weil er dort OT ist. Vielleicht kann die Moderation das ja einrichten.
 
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