Mir geht es um die Wechselwirkungen von Kolonialismus und Medizin- und Heilkunde in den europäischen Kolonialmächten.
Dass im Zuge der späten kolonialen Ausdehnung Rückwirkungen zB auf die Tropenmedizin stattfanden, ist soweit klar.
Angesprochen ist aber ein anderer Aspekt. Inwiefern gab es wesentliche Rückwirkungen auf die medizinischen Erkenntnisse in europäischen Ländern durch die kolonialen Kontakte zB in Südostasien oder Amerika? Entstanden dadurch neben Opium (zB Importe durch England) "Märkte" für Medizin auch schon in der frühen Neuzeit in Europa?
Als Beispiel: Laurent Garcin, der wohl als Schiffsarzt (?) unterwegs war.
Garcin, Laurent (1683-1752) on JSTOR
Gab es nennenswerte "Importe" von pharmazeutischen Produkten oder was als solches angesehen wurde , oder Wissenstransfer?
Gibt es Literaturempfehlungen zum Gesamtüberblick?
Chinin wurde bereits genannt, und Opium war seit der Antike eines der wichtigsten Medikamente, allerdings auch ziemlich teuer. Thomas de Quincey, der wohl etwa um 1804 wegen neuralgischen Beschwerden das erste an einem regnerischen Sonntag das erste Mal mit Laudanum (Opiumtinktur) nahm, schrieb, dass ein Pfund indisches Opium seinerzeit 3 und türkisches 5 Guineen kostete. Durch die Aktivitäten der East India Company muss es aber stark im Preis gefallen sein, und in einem späteren Kapitel seiner Confessions berichtet er, dass in Manchester viele Apotheker am Wochenende kleine Portionen mit 1-2 Gran (1 Grain=ca 65 mg) reservierten und an Arbeiter verkauften. Opiumtinktur war billiger, als Gin und entwickelte sich zu einem Allroundmedikament, ähnlich wie heute Aspirin. Vor allem gegen Schmerzen, Husten und nicht zuletzt auch gegen Rhur fand es Verwendung. Schwerste Durchfallerkrankungen sind heute eigentlich das einzige, wogegen heute noch gelegentlich Opiumtinktur eingesetzt wird. Nachdem Sertürner 1804 oder 1806 Morphin erstmals isolierte, wurden viele Präparate auf den Markt gebracht, die Opiate enthielten. Neben Laudanum gab es noch ein milderes Mittel Paregoric, das 10 mal schwächer war und eigentlich eine Lösung aus Opium, Kampfer und anderen Heilpfllanzen war. In victorianischen Apotheken wurden eine Unzahl von Hustenbonbons, Sirups und anderen Präparaten angeboten, die als Hausmittel auch für Kinder verwendet wurden. Laudanum konnte aus Unwissenheit oder Unachtsamkeit leicht bei Kleinkindern zur Überdosis führen. Da unter der Arbeiterschaft kaum jemand einen Arzt rufen konnte, hatten diese Mittel trotzdem großen Nutzen und verschafften auch Erleichterung. Die Suchtgefahr wurde nur rudimentär gesehen, und der Gebrauch von Opiaten war nicht tabuisiert, während sich im 19. Jhd. in vielen Ländern Temperenzler-Bewegungen formierten. Neu waren Kokablätter, über die 1859 ein Arzt Paolo Mantegazza berichtete. Anscheinend kamen nur wenige auf den Markt oder verdarben leicht. 1860 aber gelang in Göttingen erstmals die Isolation von Kokain. Es stieß bei Ärzten und Militärs auf großes Interesse, ähnlich wie in den späten 1930ern und 1940ern Pervitin. Das bayrische Militär versprach sich viel davon, und Siegmund Freud experimentierte in den 1880ern damit, war geradezu euphorisch, drängte es seinen Patienten geradezu auf und empfahl sich seiner Verlobten als "wilder Mann mit Kokain im Leib". Freud Euphorie legte sich erst, als er seinen Freund, einen gewissen von Fleischl-Marxow, der Morphinist war, mit Kokain heilen wollte. Dieser starb an einer Kokain Überdosis. Aus Langeweile und um sich zu stimulieren konsumiert Sherlock Holmes, sehr zur Besorgnis seines Freundes Dr. Watson Kokain und Morphin. In "The Sign of the Four" gibt er sich 4 Kokaininjektionen täglich und Morphium.
Obwohl der Gebrauch von starken Alkaloiden aus heutiger Sicht fahrlässig erscheint, war die Entdeckung des Morphins dennoch ein Segen für die Medizin. Kokain war das erste Lokalanästhetikum und ersparte Patienten solche Qualen wie Thomas Buddenbrook bei seinem Zahnarzt Dr. Brecht, an deren Folgen der Senator stirbt.
Inzwischen entdeckt man den medizinischen Nutzen des Cannabis wieder, und auch das war in Apotheken in einer Vielzahl von Rezepturen erhältlich. gegen Menstruationsprobleme, Melancholie, Zahnschmerzen, etc. ,etc.,
Kokain war Bestandteil von Toniken wie Coca-Cola, das ein Drogist in Atlanta erfand. Der Wirkstoffgehalt war allerdings gering. Stärker war anscheinend ein Gemisch aus Wein und Kokain, der Vin Mariani, den der Korse Angelo Mariani erfunden hatte. Queen Victoria schätzte das Getränk, und Papst Leo XIII. verlieg Mariani ein Dankschreiben.
Man mag entsetzt oder begeistert sein von der viktorianischen Medizin, Die Serienherstellung von Chinin und Morphin war für die Tropenmedizin ein großer Fortschritt und Forscher wie Stanley, Livingstone, Rohlfs, Barth und andere waren reichlich damit ausgerüstet. Auch wenn der Umgang damit bedenklich erscheint und es sicher auch war, es gab weder Rezeptpflicht, noch eine Kennzeichnungspflicht der Bestandteile und Dosierung, so haben Morphin, Laudanum, Paregoric und Co nicht nur auf den Schlachtfeldern sondern auch in den Mietskasernen tausendfaches Leid gelindert. Bei der chronischen ärztlichen Unterversorgung und der Armut, war der Gang in die viktorianische Apotheke, in den Drug-Store oder die Drogerie von oft unwirksamen Hausmitteln die einzige Art, wirksame und erschwingliche Medikamente aufzutreiben. Ich habe im Moment keine Bibliothek zur Verfügung, werde aber zusehen, die erbetene Literaturliste zusammenzustellen.
Es ist daher kein selbstverliebter Cliffhanger, den keiner lesen will, wie El Quichote in einem anderen Thread anmerkte, wenn ich mit den Worten eines Forianers sage:
"In Bälde mehr"