"Als wir zum gehorsamen Dienst für das Heilige Land das Zeichen des Kreuzes angenommen hatten und unter Führung der Fortuna bis nach Griechenland gelangt waren, verbrachten wir dort einige Zeit beim Kaiser Griechenlands. Und weil wir mit ihm sehr vertraut waren und die Gunst der anderen Fürsten, der Bischöfe und Äbte, genossen, durften wir dort einen Schatz erwerben, der uns teurer ist als Gold und Topas, nämlich die Reliquien vieler Heiliger und reichen Kirchenschmuck. Wir führten ihn mit großer Freude mit uns und zogen weiter ins Heilige Land, das wir aufgrund unseres Gelübdes zu besuchen hatten. Und dort dienten wir eine gewisse Zeit lang unter dem Banner des Heiligen Kreuzes. Nachdem wir unser Gelübde erfüllt hatten, brachten wir das, was uns der Herr auf wundersame Weise geschenkt hatte, zu unserer Kirche, und zwar im Jahre der Fleischwerdung des Herrn 1205..." (aus dem Urkundenbuch des Hochstifts Halberstadt und seiner Bischöfe, 1. Teil bis 1236 - Anm. von mir zum Quellenverweis im Buch)
Mit diesen Worten berichtet der Halberstädter Bischof Konrad von Krosigk in einer im Sommer 1208 ausgestellten Urkunde, drei Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Heiligen Land, von seiner Teilnahme am Vierten Kreuzzug. Die offiziöse Darstellung verschleiert mehr als sie mitteilt, und Konrad blieb verschwiegen, wenn es über die Herkunft seines reichen Reliquien- und Kirchenschatzes zu sprechen galt. Drei Jahre zuvor, am 16. August 1205, war der Bischof feierlich in seine Kathedralstadt eingezogen... In seinem Gepäck brachte er eine außerordentlich wertvolle Sammlung von Reliquien aus dem Passionsgeschehen Jesu Christi, von der Gottesmutter Maria sowie zahlreiche Apostel- und Heiligengebeine, liturgische Gefäße aus Gold und Silber und kostbare Stoffe aus Byzanz mit. Auf welche Weise diese Kostbarkeiten in Konrads Hände gelangt waren, deutet die bischöfliche Erklärung nur an.
Mit seiner Kreuz- und Pilgerfahrt hatte sich Konrad von Krosigk an dem wohl umstrittensten Unternehmen in der Geschichte der Kreuzzüge beteiligt. Nicht gegen die muslimischen Fürsten im Nahen Osten wandten sich die Kreuzfahrer, sondern gegen die eigenen Glaubensbrüder in Griechenland; ihr Kampf diente nicht der Eroberung Jerusalems und der Heiligen Stätten, wie es ihrem Gelübde entsprochen hätte, sondern der Einnahme Konstantinopels, der Hauptstadt des Byzantinischen Reiches, einer der größten und reichsten Metropolen der Christenheit. Und unter den zahlreichen Kreuzfahrern und Pilgern, die sich im April 1204 während der tagelangen Plünderungen der Paläste, Häuser, Kirchen und Klöster in der gefallenen Hauptstadt bereicherten und zahlreiche Reliquien und Kirchenschätze als Beute mit in ihre heimat brachten, befanden sich auch Geistliche, Äbte und Prälaten. Konrads dürftige Mitteilungen über die Herkunft seiner Reliquienschenkung wirft deshalb weitreichende Fragen auf...
...
Konrad von Krosigk profitierte auf seine Weise vom Fall Konstantinopels. Als er die geplünderte und zum Teil in Trümmern liegende Stadt verließ, war jener umfangreiche Schatz in seine Hände gefallen, mit dem er im folgenden Jahr in seine Bischofsstadt zurückkehrte: insgesamt 55 Christus- und Marienreliquien und Heiligengebeine, die zum Teil in goldenen, silbernen und mit Edelsteinen besetzten Reliquiaren gefasst waren, darüber hinaus sieben weitere Gefäße aus Gold und Silber sowie 21 Tuche und vier Gewänder, die in der Liturgie verwendet wurden (nach dem Schatzverzeichnis der bischöflichen Schenkungsurkunde von 1208 - Anm. von mir zum Quellenverweis im Buch). Während der bischöfliche Chronist in Halberstadt ausführlich über die Reisestationen, seinen Aufenthalt im Heiligen Land, seine Rückkehr über Venedig und Rom und die Bestandteile der von ihm mitgeführten Reliquiensammlung berichtete, blieb er bei der Darstellung der Ereignisse in Konstantinopel zwischen Sommer 1203 und Frühjahr 1204 auffällig wortkarg. Kein Wort verlor er über die Plünderungen und die Gewalt in der griechischen Hauptstadt, kein Wort über die Herkunft des Schatzes, den sein Bischof mitgebracht hatte. Die eingangs zitierte Urkunde von 1208 gibt nur wenig mehr preis, ihre Darstellung beschränkt sich auf Andeutungen: Konrad habe aufgrund der Gunst des griechischen Kaisers und der Fürsten seinen Reliquien- und Kirchenschatz erwerben können. Ist diese Darstellung angesichts der Ereignisse im April 1204 glaubwürdig?
Tatsächlich könnte man in diesen Andeutungen einen Hinweis darauf vermuten, daß Konrad von Krosigk von dem im August 1203 zum Mitkaiser von Byzanz erhobenen Alexios IV. beschenkt worden ist. Denn die Nähe zum Stauferkönig Philipp von Schwaben verband die beiden Fürsten ebenso wie der gemeinsame Erfolg bei der Wiedereinsetzung Isaaks II. Allerdings währte die Regentschaft des byzantinischen Prinzen nur ein knappes halbes Jahr, und Zweifel erscheinen angebracht, ob Alexios während seiner kurzen und labilen Regierungszeit in der Lage gewesen wäre, die außerordentlich große und wertvolle Sammlung von Reliquien und Liturgica zusammenzubringen und dem Bischof von Halberstadt zu schenken. Völlig auszuschließen ist dies nicht, ebensowenig die Annahme, daß Konrad von dem im Mai 1204 zum Kaiser von Romania gekrönten Balduin von Flandern beschenkt wurde. Allerdings dürfte der Bischof von Halberstadt dem neuen Herrscher nicht sehr nahe gestanden haben, da der flandrische Graf als Kandidat der Venezianer in sein kaiserliches Amt gewählt wurde und Konrad von Krosigk als Parteigänger der Staufer bei der Kaiserwahl sehr wahrscheinlich Markgraf Bonifaz von Montferrat unterstützt hat. Will man der Darstellung der Halberstädter Urkunde von 1208 folgen, so ist es deshalb sehr viel wahrscheinlicher, daß der Bischof nach dem Ende der Aprilplünderungen in der Hauptstadt an der offiziellen Verteilung von Beutegut beteiligt worden ist und dabei mit Zustimmung Balduins und der neuen Machthaber die kostbare Sammlung erhalten hat. Die Bischofsurkunde nennt allerdings nicht den Namen des großzügigen Kaisers - offensichtlich ließ man die Darstellung der Vorgänge in Byzanz drei Jahre später in der Heimat bewußt im Ungefähren...
...
Während zahlreiche Venezianer und Kreuzfahrer in der byzantinischen Hauptstadt blieben, andere mit ihren jeweiligen Fürsten in die ihnen zugeteilten Besitzungen nach Griechenland und auf die ägäischen Inseln zogen oder aber in ihre Heimat zurückkehrten , brach der Halberstädter Bischof im August 1204 auf, um auf dem Seeweg nach Palästina zu reisen. Nach dem Bericht der Halberstädter Bistumschronik landete er Anfang Oktober in der Hafenstadt Tyrus und zog von dort nach Akkon, der provisorischen Hauptstadt des Königreiches Jerusalem. Dort erbat er von den beiden in der Stadt weilenden päpstlichen Legaten die Lösung von der Exkommunikation, die seit dem Frühjahr 1202, als Kardinal Guido von Praeneste ihn wegen seiner Parteinahme für König Philipp von Schwaben gebannt hatte, auf ihm lastete. Die päpstlichen Vertreter lösten den Bischof nicht nur von der Exkommunikation, sondern setzten ihn... zu ihrem Stellvertreter ein, da sie selbst nach Konstantinopel aufbrachen... So blieb der Halberstädter Bischof bis zum März des folgenden Jahres im Libanon, residierte im erzbischöflichen Palast in Tyrus und nahm zahlreiche Aufgaben wahr: Er ordnierte den neu gewählten Bischof von Sidon, unterstützte Pilger und Arme, verwendete sich für den Wiederaufbau der durch ein Erdbeben beschädigten Stadtmauern von Tyrus und unternahm eine Wallfahrt zur Marienkirche von Tortosa (nach der Halberstädter Bistumschronik, Gesta episcoporum Halberstadensium - Anm. von mir zum Quellenverweis im Buch)...
...
Nach einem herzlichen Empfang durch die Venezianer... und der Feier des Pfingstfestes in der Markusstadt, reiste Konrad nach Rom und unterwarf sich sich Papst Innozenz III., um sich die Befreiung vom Bann bestätigen zu lassen... (was auch erfolgreich war - Anm. von mir zur Kürzung des zitierten Textes; nach der Halberstädter Bistumschronik, Gesta episcoporum Halberstadensium - Anm. von mir zum Quellenverweis im Buch)...
...
... Der Vierte Kreuzzug, der aus heutiger Sicht als Inbegriff machtzynischer Instrumentalisierung des Kreuzzugsgedankens erscheint, war indes bereits unter Zeitgenossen höchst umstritten. Konrad von Halberstadt gehörte dabei zu jenen, die die Wendung des Zuges nach Konstantinopel rechtfertigten und als führende Teilnehmer der Expedition das Vorgehen untertsützten. Allerdings gehörte er auch zu jenen, die sich nicht damit zufriedengaben, in Konstantinopel als Kreuzfahrer gedient zu haben, sondern sich bemühten, auch das Heilige Land - das eigentliche Ziel des Kreuzzuges - aufzusuchen. Als Konrad nach über dreijähriger Reise an seinen Bischofssitz zurückkehrte, konnte er sich rühmen, sein Kreuzzugsgelübde erfüllt und seine Kirche mit dem Papst versöhnt zu haben. Er hatte Kontakte zu den Templern geknüpft, und mit ihrer Ansiedlung in Halberstadt nach 1205 gelang es ihm, Vertreter des ältesten Kreuzritterordens aus dem Heiligen Land (wiewohl das mit dem "ältesten Kreuzritterorden" so eine Sache ist, deren Diskussion hier jedoch vom Thema wegführt - Anm. von mir) in seine Diözese zu holen. Noch nach seinem Amtsverzicht übernahm er als Zisterzienser mehrfach päpstliche Predigtaufträge, um die Sache des Kreuzzugs zu propagieren. Darüber hinaus aber konnte er seine Kathedralkirche überreich beschenken: Mit der Übergabe zahlreicher Reliquien und Kirchenschätze aus dem geplünderten Konstantinopel verschaffte er seiner Kirche einen Anteil am einstigen Glanz der Metropole am Goldenen Horn - ein Akt des Kulturraubs, aber wohl auch ein Element ost-westlichen Kulturtransfers. Mit der Überführung und Schenkung gläubig verehrter Passions-, Marien- und Apostelreliquien brachte Konrad aber auch ein Stück Heiligen Landes selbst nach Halberstadt. Jedem Pilger, der die Kathedralkirche besuchte, eröffnete sich damit die Möglichkeit unmittelbaren Kontakts mit den authentischen Zeugnissen des Heilsgeschehens und damit frommer Begegnung mit Christus und den Heiligen selbst. Für Konrad und seine Zeitgenossen dürfte dies entscheidend gewesen sein, wenn es galt, die Erfahrungen des Vierten Kreuzzugs und des Falls von Konstantinopel zu bedenken.