Kriegsland im Osten

ursi

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Schon im Ersten Weltkrieg war die Eroberung und Kolonialisierung des Ostens eines der wichtigsten militärpolitischen Ziele Deutschlands. Wie reagierten die dort lebenden Völker auf diesen Herrschaftsanspruch, mit dem angeblich ein historisches Vermächtnis eingelöst und ein kultureller Auftrag erfüllt werden sollte? Und wie gingen die Besatzer mit den Reaktionen um? Indem Liulevicius Antworten auf beide Fragen gibt, zeigt er zugleich, wie auf deutscher Seite ein Bild vom Osten und seinen Bevölkerungen entstand, das sich, getragen und gefestigt durch bestimmte Mentalitäten und Ideologien, im nächsten Krieg auf so verhängnisvolle Weise auswirken sollte.

Wenn von der Ostfront die Rede ist, lässt das gewöhnlich an Begriffe, Bilder und Namen denken, die sich auf den Zweiten Weltkrieg beziehen. Vergessen wird häufig, dass auch der Erste Weltkrieg im Osten geführt wurde. Weite Teile der heutigen baltischen Staaten, Weißrusslands und der Ukraine sind schon damals von deutschen Soldaten besetzt worden, und die militärischen Erfolge prägten einen Blick auf diese Länder und ihre Bewohner, der nach Kriegsende in besonderem Maße die Entstehung und Akzeptanz weitreichender Eroberungs- und Siedlungspläne begünstigte.
Der vorliegenden Band beginnt mit einer Beschreibung der Eindrücke und Gefühle, die der erste Kontakt mit dem Osten für das Gros der deutschen Soldaten hervorrief. Das abweisende Klima, die Vielzahl und Verschiedenartigkeit der einheimischen Völker und deren überall konstatierte Rückständigkeit hatten einen doppelten Effekt, der während des Krieges in unterschiedlicher Intensität präsent bleiben sollte: Zum einen wurde die Krie

gführung den geänderten Umständen angepasst, denn einem angeblich regellos kämpfenden Feind gegenüber sah man sich selbst nicht mehr an die Kriegsregeln gebunden. Zum andern - und darauf legt Vejas Liulevicius in seiner Darstellung das Hauptgewicht - wurde mit dem Krieg eine Kulturmission verbunden, die den Menschen in den besetzten Gebieten die Überlegenheit deutscher Ordnung, Disziplin und Arbeit demonstrieren sollte. Den äußeren Rahmen dieser Mission und zugleich ein Garant für ihren Erfolg sollte ein Militärstaat nach den Vorstellungen Ludendorffs sein, ein Staat der totalen Erfassung und Kontrolle seiner Bewohner, in dem das als bedrohlich empfundene Fremde durch infrastrukturelle Maßnahmen und Kulturprogramme gemildert und zugleich beherrschbar gemacht werden sollte.
Das Projekt scheiterte. Wie der Autor an vielen Beispielen zeigt, stärkten die deutschen Bemühungen zur Festigung ihrer Dominanz lediglich den Widerstand im Besatzungsgebiet und förderten dort den Prozess der na

türlichen Identitätsfindung. Entscheidend aber war, dass gut sechs Monate nach dem Sieg an der Ostfront der Krieg im Westen verloren ging. Damit wurde auch der Friedensvertrag von Brest-Litowsk, Symbol für die deutsche Herrschaft über riesige Teile des Ostens, hinfällig.
Die Idee einer Ausweitung des deutschen Machtbereichs nach Osten blieb indes lebendig. Ihr sichtbarstes Zeichen war das von offiziellen Stellen halb geduldete, halb geförderte Wüten der Freikorps im Baltikum, in dem sich wie unter einem Brennglas die mythisch und mystisch aufgeladene Wahrnehmung des Ostens äußerte. Es markierte den deutlich sichtbaren Anfang eines Radikalisierungsprozesses, in dessen Verlauf aus einem ursprünglich ethnologisch-folkloristischen Interesse ein pseudo-wissenschaftliches Konzept von Raum und Rasse wurde. Was als angeblich historisch begründbare Kulturmission begonnen hatte, machte nun Vorstellungen von einem "Ostland" Platz, für dessen Bevölkerung nurmehr ein Helotendasein unter germanischer Herrschaft vorgesehen war.

Vejas Gabriel, Liulevicius • Kriegsland im Osten, Eroberung, Kolonialisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg • Hamburger Edition • 2002 • 400 Seiten


Rezension H-Soz-Kult
 

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Mit einiger Verspätung, denn ich besitze es noch nicht lange, möchte ich zu diesem Buch noch einen Kommentar abgeben.
Zwar habe ich bislang nur einige Abschnitte in den einzelnen Kapiteln gelesen, aber dennoch schon ein relativ abgerundetes Bild daraus gewonnen.

Der Autor hat dieses Buch original in den USA geschrieben, wobei sich aber zeigt, daß dies nicht unbedingt von Nachteil sein muß. Im Gegenteil: detailliert und sachlich geschrieben wird die Ostfrontthematik des Ersten Weltkrieges sehr gut erhellt.
An manchen Stellen kann Liulevicius zwar nicht verleugnen, welcher Nationalität er ist - denn der "lituanische" Blickwinkel auf historische Kontexte ist erkennbar -, doch bleibt er dabei stets in einer Betrachtung, wie sie einen Historiker auszeichnen muß: er legt die Fakten dar und charakterisiert, vermeidet jedoch anmaßende Werturteile u. dgl.
Auch nationalistisch eingefärbte Interpretationen o.ä. finden sich nicht, so daß dieses Buch jedem an der Thematik Interessierten unbedingt zu empfehlen ist.

Leider scheint es nicht gerade in großen Auflagen nachgefragt zu werden, so daß es durchaus einige Wochen dauern kann (bei mir waren es drei Wochen Wartezeit), bis man das Buch endlich in Händen hat. Die Lektüre allerdings entschädigt vollends für diese Wartezeit...
 
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