Jemand wollte mir letztens verklickern, der Historismus sei "die" heutige Geschichtswissenschaft.
Na das ist eine starke These und es wären konkrete Argumente interessant. Vielleicht lese ich einmal bei Schnädelbach nach...
Schnädebach unterscheidet verschiedene Begriffe von "Historismus":
1. in wissenschaftspraktischer Hinsicht ist Historismus der "Positivismus der Geschichtswissenschaften: die wertfreie Stoff- und Faktenhuberei ohne Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem, die aber gleichwohl mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität auftritt" (1983, 51); dieser "praktisch geisteswissenschaftliche Positivismus" läßt sich auch als eine Haltung charakterisieren, "die sich ausschließlich an das positiv Gegebene hält und allem mißtraut, was interpretierend darüber hinausginge." (1974, S.20)
2. in philosophischer Hinsicht eine "Position, die die Gültigkeit von Begriffen und Normen selbst nur als etwas historisch Gegebenes aufzufassen bereit ist: sie vertritt einen durchgängigen historischen Relativismus im Bereich der Erkenntnis und der Moral." (S.20f) Als "theoretische" (1983, S.51) oder "philosophische Rechtfertigung" des Historismus 1 möchte ihn Schnädelbach (1974) auch als "geisteswissenschtlichen Positivismus im Sinne einer philosophischen Position bezeichnen" (S.22)
3. eine Position, die "die Geschichte zum Prinzip macht" (1983, S.52), die Schnädelbach als die Auffassung charakterisiert, "daß alle kulturellen Phänomene als historische zu sehen, zu verstehen und zu erklären seien. Er ist eine wesentlich kulturalistische Position, die sich dem Naturalismus entgegenstellt." (S.52)
Etwas verwirrend finde ich, daß Schnädelbach seine Begriffsdefinition nicht historisch aufbaut, denn historisch entstand das, was er als Historismus 3 bezeichnet, eben schon "gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der Opposition gegen den angeblich ahistorischen Rationalismus der Aufklärungsphilosophie." (1983, S.52) Wenn man diese Orientierung dann in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts verfolgt, kommt ein politischer Einsatz hinzu, den Schnädelbach als "konservativen[n], ja traditionalistische[n] Zug des Historismus 3" (S.53) identifiziert, "der ihn dann lange nach seiner Entstehung unter Bedingungen einer nachrevolutionären Situation in Deutschland zur führenden Bewußtseinsform werden ließ." (ebd.) Paradoxerweise wäre in eine Schule der historischen Aufklärung etwa auch Hegel einzureihen und das macht es ein wenig kompliziert. Also schaue ich einmal in einem Artikel
Über historische Aufklärung dazu nach; darin heißt es zur "Hegelschen Einheit der Geschichtlichkeit der Vernunft mit der Vernünftigkeit der Geschichte": "Hegels Position ist doppelsinnig. Daß die Vernunft geschichtlich sei, ist eine deskriptive These, zu deren Erhärtung der Historismus [...] unübersehbares Material bereitgestellt hat. Daß die Geschichte vernünftig sei, ist hingegen eine normative These" (S.39), die der Historimus hingegen nicht zu rechtfertigen vermochte, aber in einem gewissen Kurzschluß wurde anscheinend "die Geschichte selbst zum normativen Maßstab" (S.40) genommen; in seinem Artikel hebt Schnädelbach hier insbesondere auf eine Kritik des Marxismus ab, aber das ist - wenn auch nur mit Einschränkung - ein anderes Thema oder macht das Verständnis des Historismus auch nicht unbedingt einfacher, insbesondere wenn als Vertreter einer kulturalistischen Position im 20. Jh. von Schnädelbach an anderer Stelle auch Horkheimer & Adorno, die mit ihrerm Program einer kritischen Theorie bekanntermaßen auch am Systemgedanken im Sinne Hegels festgehalten haben, genannt werden; immerhin kann dann der Historismus 3 (=Kulturalismus) nicht als maßgeblich für die heutige Geschichtswissenschaft angesehen werden (wenn ich persönlich übrigens auch das Gegenteil für wünschenswert halte). Wie dem auch sei, nach dem Zusammenbruch des idealistischen Systems Hegels mußte "auch Synthesis von rationalistischer und historischer Aufklärung, d. h. von abstrakter Vernünftigkeit und historischer Wirklichkeit notwendig wieder zerfallen" (Schnädelbach, 1974, S.29) und mündete nach Schnädelbach in den beiden anderen Historismus-Typen; diese könnten gegebenenfalls auch heute bestimmend für die Geschichtswissenschaften sein. Bezüglich des Historismus 2 (=geisteswissenschaftlichen Positivismus') konstatiert Schnädelbach (1983) übrigens, daß er es ist, "dessen 'Überwindung' immer noch auf der Tagesordnung steht; er ist der Historismus in der Krise" (S.52), zumindest aus philosophiegeschichtlicher Sicht (nicht geschictsphilosophischer Sicht wohlgemerkt)!
Lit. Herbert Schnädelbach,
- Philosophie in Deutschland 1981-1933.Ffm: Suhrkamp, 1983
- Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus. Freiburg/München: Karl Alber, 1974
- Über historische Aufklärung.
Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1974, S.17-36 - wieder abgedruckt in: Schnädelbach, Vernunft und Geschichte. Ffm: Suhrlkamp, 1987, S.23-46
- Das kulturelle Erbe der Kritischen Theorie.
Berliner Debatte INITIAL 9 (1998), S.13-24 - wieder abgedruckt in: Schädelbach, Philosophie in der modernen Kultur. Ffm: Suhrkamp, 2000, S.104-S.126