Mittelalterliche Landwirtschaft mit Zahlen nachvollziehen

Warum 12 ? Die Frsuen wurden sicher schon mit 14 oder jünger verheiratet.
In "Der Neffe als Onkel" ist die Hauptperson Sophie erst 15 Jahre.
Dorsigny. Ich weiss nichtsAber sie ist fuenfzehn Jahre altKann sie nicht fuer sich selbst schon gewaehlt haben,
eh wir es fuer sie thaten?

Friedrich Schiller: Der Neffe als Onkel

In West- und Mitteleuropa vor der Industrialisierung war spätes Heiratsalter eines der Mechanismen, die das Bevölkerungswachstum begrenzten. Unter dem Eintrag "Heiratsalter" findet man bei Wikipedia eine Tabelle für drei süddeutsche Dörfer. Für die erste Hälfte des 18. Jahhunderts lag das durchschnittliche Heiratsalter bei Männern und Frauen bei 28 Jahren!

Im Mittelalter wurde wohl früher geheiratet, aber auch da mussten die ökonomischen Möglichkeiten natürlich beachtet werden. Im Eintrag zu "Western European marriage pattern" der englischen Wikipedia findet sich folgendes:

"Indeed, Medieval England saw marriage age as variable depending on economic circumstances, with couples delaying marriage until the early twenties when times were bad and the average age falling to the late teens after the Black Death, when there were labor shortages;[51] by appearances, marriage of adolescents was not the norm in England.[22] The sudden loss of people from the plague resulted in a glut of lucrative jobs for many people and more people could afford to marry young, lowering the age at marriage to the late teens and thus increasing fertility."
 
Sehr richtig. Das Heiratsalter der Bauern, die den Großteil der Bevölkerung ausmachten, lag mindestens ab dem Hochmittelalter sogar höher als noch Mitte des 20. Jahrhunderts (erst mit dem Babyboomern steigt es wieder). Der Grund ist denkbar einfach: Um einen eigenen Haushalt zu gründen, musste ein Mann erst einmal die Möglichkeit erarbeiten, einer Frau Bleibe und Auskommen bieten zu können. Das dauerte. Und auch die Töchter gab nur gerne weg, wer ohnehin bereits am Hungertuch nagte; für alle anderen Eltern bedeutete eine junge Frau eine willkommene Arbeitskraft, die sie auf dem Feld oder auch im Haushalt nicht missen wollten.

Nur die städtische bzw. feudale Oberschicht verheiratete ihre Sprösslinge zwecks Schließung von Allianzen möglichst früh. Allerdings wurde die Ehe auch bei diesen Kindesheiraten meistens erst im frühen Erwachsenenalter vollzogen. Als Friedrich II. die Ehe mit der dreizehnjährigen Isabella von Jerusalem vollzog, war ihm das unangenehm genug, um Petrus von Vinea anzuvertrauen, wie sehr er sich vor dem Spott der Öffentlichkeit fürchtete; und die Schwangerschaft von Margarete Beaufort, Mutter Heinrichs VII., mit gerade mal zwölf Jahren war auch ungewöhnlich genug, dass die Quellen nicht müde werden, ihr junges Alter zu erwähnen.

Das ist etwas, was die Öffentlichkeit gerne in den falschen Hals bekommt. Zwar galten geschlechtsreife Kinder nach dem Kenntnisstand der Zeit nicht mehr als solche, sondern eher als "unfertige" Erwachsene (übrigens auch in vielerlei anderer Hinsicht); aber es war keineswegs wie in einem Iny Lorentz-Groschenroman, dass die mittelalterliche Gesellschaft jedes Mädchen am Tag seiner ersten Periode an den nächstbesten Mann verhökert hätte. Bei diesem Klischee spielt natürlich auch die Verwechslung von statistischer Lebenserwartung und erreichbarem Alter eine Rolle. Wenn man sich einbildet, die Menschen des Mittelalters wären allesamt kaum älter als dreißig Jahre geworden, liegt das Motiv der Kinderehe natürlich nahe, es "drängte" ja die Zeit.
 
Nur die städtische bzw. feudale Oberschicht verheiratete ihre Sprösslinge zwecks Schließung von Allianzen möglichst früh. Allerdings wurde die Ehe auch bei diesen Kindesheiraten meistens erst im frühen Erwachsenenalter vollzogen.
Das bezweifle ich, denn die Ehe galt erst nach dem Beischlaf als vollzogen an. Die katholische Kirche besteht noch heute darauf.
 
@Dion & @Ravenik

Die geschlossene, aber nicht vollzogene Ehe konnte nur noch durch die Kirche annulliert werden, was die keineswegs bereitwillig tat (einerseits zum Schutz der Integrität des Sakraments der Ehe, andererseits zur Erhaltung ihres Einflusses auf die herrschende Klasse). Beim geringsten Zweifel an den Angaben der Partei, die die Annullierung beantragte, wurde ein kirchenrechtlicher Prozess anberaumt, bei dem auch Zeugen wie Zofen gehört wurden, sodass viel schmutzige Wäsche ans Tageslicht gelangen konnte.

Insofern bedeutete auch die noch nicht durch den Geschlechtsakt vollzogene Ehe ein relativ festes Bündnis – im Unterschied zur bloßen Verlobung, die wegen des Grundsatzes matrimonium inter invitos non contrahitur von beiden Brautleuten gelöst werden konnte. Man darf auch nicht vergessen, dass es zumindest bei Mädchen im Adel gängige Praxis war, die frischgebackene Schwiegertochter im eigenen Haushalt aufzunehmen und zur guten Ehefrau für den eigenen Sohn zu erziehen.

Im Kindesalter vollzogen wurde die Ehe meist nur, wenn eine politische Notwendigkeit bestand (siehe Friedrich II., der sich die Krone von Jerusalem sichern wollte) oder befürchtet wurde, dass später keine Chance mehr dazu bestünde (siehe Edmund Tudor, der zum Zeitpunkt der Eheschließung mit Margarete Tudor in die Rosenkriege verwickelt war und vielleicht schon belagert wurde). Die mittelalterliche Medizin war weit genug, um zu wissen, dass eine Schwangerschaft im Kindesalter lebensgefährlich war.

Noch zum Thema Ehe, weil es für die Betrachtung der Bevölkerungsentwicklung (in Relation zur landwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit) Bedeutung hat: Hallam hat in den 'Population Studies', 39 (1985), S. 55 ff. gezeigt, dass in der englischen Grafschaft Lincolnshire das Heiratsalter von ca. 1250 an bis ins 18. Jahrhundert hinein kaum verändert bei durchschnittlich 25 Jahren lag. Er hielt das für im Wesentlichen übertragbar auf das gesamte Europa westlich einer Linie von Triest bis Sankt Petersburg.

Im Artikel wird das im Vergleich zu Antike und Frühmittelalter höhere* Heiratsalter aber nicht mit einem Mangel an Ressourcen erklärt, sondern mit deren freierer Verfügbarkeit und erhöhter sozialer Mobilität infolge des Bevölkerungsrückgangs durch die Pest sowie verbesserter landwirtschaftlicher Methoden.

Der Ressourcenkonflikt findet also zwar statt, aber nicht auf der Ebene der Deckung der Grundbedürfnisse ("kann ich meiner Verlobten ein Dach über dem Kopf bieten?"), sondern auf der Ebene der Befriedigung sozialer Anforderungen ("kann ich meiner Verlobten ein Haus bauen, das ihren Eltern gefällt?"), was ein weiteres Anzeichen wäre für den (relativ) gestiegenen allgemeinen Wohlstand selbst der Bauern.

* Laut Hopkins an gleicher Stelle lag das Heiratsalter heidnischer Mädchen in der römischen Spätantike bei etwa 13,5 Jahren, bei Christinnen hingegen bei 18,8 Jahren.
 
Zuletzt bearbeitet:
* Laut Hopkins an gleicher Stelle lag das Heiratsalter heidnischer Mädchen in der römischen Spätantike bei etwa 13,5 Jahren, bei Christinnen hingegen bei 18,8 Jahren.

Das war ein Artikel von 1965:
The Age of Roman Girls at Marriage on JSTOR

1987 sah sich Brent D. Shaw veranlasst, diese Angaben zu revidieren. Er meint, die meisten römischen Mädchen seien erst etwas später verheiratet worden:

"The few indicators that there are concerning age at marriage, therefore, seem to point to a rather later age of marriage, probably in the late teens, as typical of most girls in Roman society. A recent study on the age at first marriage of males in the Roman empire in the west has reached the conclusion that, unlike many young men in competitive 'office-aristocracy' of the upper classes, most men in the western regions of the empire seem to have married in their late twenties, with modes perhaps in the range 27/28 to 30."​
The Age of Roman Girls at Marriage: Some Reconsiderations on JSTOR

Das statistische Material wird aus zahlreichen Grabinschriften gewonnen, die Angaben zu Lebensjahren und Ehejahren enthalten. Auch wenn das Material reichhaltig ist, kann man nicht davon ausgehen, dass diese Daten repräsentativ sind:

"In manchen Regionen finden sich häufiger Altersangaben bei jung Verstorbenen als bei älteren, was wiederum zu einer Überrepräsentierung der jung Verstorbenen und damit zu einem zu frühen mittleren Todesalter führt. Die für Rom und für Afrika errechnete durchschnittliche Lebensdauer von 22,6 bzw. 47,9 Jahren ist so unterschiedlich, dass die dafür herangezogenen Ursachen wie gesunde Luft und mildes Klima diese Differenz nicht erklären können. Wobei nicht einmal die größten Extreme genannt wurden."​
Ingo Broer, Bevölkerungszahlen und Lebenserwartung in der Antike, in: Kritische Empirie (Hrsg. Horst Pöttker und Thomas Meyer), Wiesbaden 2004
 
Immerhin gab es auch die Eheschließung durch einen Stellvertreter, bei der der tatsächliche Vollzug durch Beischlaf mangels Anwesenheit beider Eheleute gar nicht möglich war. Die Eheleute trafen sich erst irgendwann später real.
Trauung per Stellvertreter – Wikipedia
Zitat aus dem von dir mitgeteilten Link:

Allerdings konnte eine auf diese Weise geschlossene Ehe nach kirchlichem Recht bis zu ihrem Vollzug (Geschlechtsverkehr der Ehegatten) annulliert werden.

Und weil die so geschlossenen Ehen vor allem den politischen Allianzen dienten – geflügeltes Wort Österreichs: Bélla geránt aliī, tu félix Áustria nūbe. – und nicht zuletzt auf Mitgift der Braut in Form von Geld, Ländereien und/oder auf Thronansprüche spekulierten, hat man sich beeilt, eine solche Stellvertreterehe ungeachtet des Alters der Braut auch schnell zu vollziehen, weil sonst bei veränderten politischen Verhältnissen ev. die Annullierung und damit der Verlust der eingeplanten Vorteile drohte.

Im Übrigen: Das Alter der Frauen, in dem sie erstes Kind bekommen, liegt heute in Deutschland bei 30 Jahren – in München bei 32 Jahren.

Und: Seit 1974, also in nicht einmal 50 Jahren, hat sich die Weltbevölkerung von 4 Milliarden auf 8 Milliarden verdoppelt
 
Richtig, die Ehe konnte noch annulliert werden – aber eben nur durch die Kirche, in einem Verfahren, das Zeit, Prestige und Geld (für Gebühren und Schmiergelder) kostete. Aus dogmatischen Gründen hatte der Klerus kein Interesse daran, die Ehe-Annullierung quasi als Scheidung "durch die Hintertür" zu etablieren.

Beide Seiten mussten Angaben zu ihrem Sexualleben machen. Gab es nur den geringsten Zweifel an der Erklärung des Antragsstellers, oder im Hintergrund wurde Druck gemacht (z.B. durch eine Familie, die sich eine günstige Partie nicht entgehen lassen wollte), wurden die Eheleute vor die Kurie geladen.

Es wurden sogar Zeugen vernommen, etwa die Zofen der Frau oder Freunde des Mannes, ob sie Beobachtungen gemacht oder Aussagen gehört hatten, die auf eine vollzogene Ehe hindeuten würden. Die Protokolle suggerieren geradezu entwürdigende Verfahren, übrigens nicht nur für die Ehefrau.

Ich habe nicht den Eindruck, dass Ehen häufig annulliert wurden. Und auch die nicht vollzogene Ehe scheint ein recht stabiles Bündnis dargestellt zu haben. Und Du darfst eines nicht vergessen: Gerade im Hochadel waren Kinderehen keine Seltenheit; so heiratete etwa Karl VII. von Frankreich im Alter von dreizehn Jahren die damals dreijährige Margarethe von Burgund. Da musste zwangsläufig jahrelang gewartet werden; man war also gewohnt, mit dieser (aus politischer Sicht) Unsicherheit umzugehen.
 
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