Was wäre denn dann eine geeignete Quelle? El Quijote, haben sie vielleicht ein besseres Beispiel für mich ?
Das beste Buch ist m.E. zum IMT das Buch von Heller (vgl. Literaturliste). Schabas ist sehr gut in der Beschreibung der grundsätzlichen Idee einer internationalen Gerichtsbarkeit, der historischen Entwicklung und den auch aktuellen politischen und juristischen Implikationen. Mit Taylor kommt einer der wichtigsten Akteure zu Wort und ist relevant als Zeitzeuge.
Heydecker u.a. ist als deutsche Einführung gut leserlich, aber eher auf die deutsche Sicht beschränkt und populärwissenschaftlich. Solide ist sicherlich die Arbeit von Weinke, obwohl auf einen wissenschaftlichen Apparat verzichtet wird in der Reihe. Gut leserlich ist die Arbeit von Macdonald, der die angloamerikanische Sicht verdeutlicht.
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In #28 und in #10 hat Scorpio wichtige Aspekte beleuchtet, die ich nicht wiederholen möchte.
Allerdings sollen noch ein paar zusätzlich Punkte hinzugefügt werden. Mit der Tätigkeit des IMT sollte u.a. - neben der Entnazifizierung - auch ein deutliches Zeichen gesetzt werden für die Beendigung des rechtlosen bzw. rechtsfreien Zustand einer totalitären Diktatur.
Diese Befreiung Deutschlands von einem menschenverachtenden Regime der Nationalsozialisten war die Voraussetzung dafür, dass überhaupt wieder an ein rechtsstaatliches Verfahren in Deutschland zu denken war.
Der rechtsextreme Kampfbegriff der "Siegerjustiz" zielte mit dem Beginn der Prozesse in Nürnberg demgegenüber auf die ideologisch motivierte Verweigerung eines Schuldeingeständnisses ab.
Wobei erstaunlich ist, dass trotz der angeblichen "Siegerjustiz" ein relativ hoher Prozentsatz der Angeklagten durchaus einsahen, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden sind, aber sie – angeblich - weder davon gewußt hätten noch daran beteiligt waren. Es waren immer die anderen die die Ideologie der Vernichtung formuliert haben, Pläne ausgearbeitet haben und sie in praktische Handlungen umgesetzt haben.
Und somit befindet sich der Begriff der „Siegerjustiz“ in enger Nachbarschaft zu anderen Formen der Leugnung einer politischen Verantwortung für die Entfesselung eines Angriffskrieges und den damit zusammenhängenden Vernichtungskrieg und dem Genozid wie der „Holocaustleugnung“.
Es geht bei dem Begriff der „Siegerjustiz“ nach wie vor über die Deutungshoheit und in der Konsequenz um die Leugnung der Verantwortung von Hitler und seinen Handlangern für einen millionenfachen Mord an Deutschen und europäischen Nachbarvölkern.
Insofern ist die Verwendung des Begriffs "Siegerjustiz" nicht identisch mit neutralen Aussage der Rechtsprechung durch den Sieger. Mit der Diskussion des Begriffs der "Siegerjustiz" folgt man einem rechtsextremen Diskurs und sollte dementsprechend sehr vorsichtig in der Beurteilung des Begriffs sein.
Könntest du das bitte verständlicher und etwas ausführlicher nochmal erklären, thanepower ?
Die Beantwortung soll aus mehreren Sichten erfolgen.
Ausgangspunkt ist ein Krieg, der in seiner Durchführung so nicht gekannt war, obwohl es teilweise Ähnlichkeiten bereits zum WW1 gab.
Je länger der Krieg dauerte, desto höher wurden die „Kosten“ des Krieges und somit wuchs die emotionale Bewertung des Gegners und somit die Bereitschaft auch über radikale Maßnahmen nachzudenken.
Im Prinzip können zwei realistische und ein unrealistisches Modell vorgestellt werden, nach dem Gewinn der Allierten.
1. Modell: Radikale Justiz: Eine summarische Verurteilung und standrechtliche Exekution von Personen, die als Funktionsträger in dem totalitären Staat tätig gewesen sind.
Vorteil: Rachegelüste werden befriedigt, vor allem in den östlichen Gebieten in der UdSSR oder in Polen
Nachteil: Es kommt kein Frieden zu stande und der Sieger unterscheidet sich in der Wahl seiner Mittel nicht vom besiegten 3. Reich.
2. Modell: Rechtsstaatliche Justiz durch die Sieger: Durchführung von Prozessen auf der Basis westlicher Vorstellungen über die Rolle des Gerichts, der Ankläger und der Verteidiger. Inklusive der Frage der aufwendigen Beweisführung.
Vorteil: Es schafft Rechtssicherheit in dem besiegten Land. Es ist ein rechtsstaatliches Ventil, um den Erwartungen nach Sühne und Gerechtigkeit durch die Opfer zu entsprechen. Und es schafft die Möglichkeit, einen Ausgleich mit dem Teil der Bevölkerung zu erreichen, die keine überzeugten Nazis waren.
Nachteil: Es ist aufwendig, es erforderte einen extrem hohen Koordinationsaufwand innerhalb der Alliierten und führte im Zweifel eher dazu, dass vergleichsweise milde Strafen ausgesprochen worden sind.
3. Modell: Rechtsprechung durch den Besiegten: In Analogie zu den Leipziger Prozessen hätten deutsche Richter – mit ungeklärter Nazivergangenheit – die Straftaten der NS-Angeklagten zu beurteilen gehabt.
Vorteil: Ähnlich wie bei den Leipziger Prozessen hätten Bauernopfer ausgereicht, um Verbrechen zu verurteilen. In Leipzig war der höchste verurteilte Rang ein Hauptmann! Und vermutlich hätten sich die Nazi-Apologeten auch über dieses Verfahren aufgeregt, da sie die grundsätzliche Schuld nicht anerkannt hätten.
Nachteil: Millionenfache Morde wären ungesühnt geblieben und die politische Justiz des NS-Staates hätte sehr deutlich die Rechtsprechung auch nach dem Zusammenbruch dominiert, ähnlich wie in der Weimarer Republik.
Auch wenn die Modelle vereinfacht sind, zeigen sie deutlich, dass es zu dem IMT und seiner Durchführung eigentlich keine praktische politische und juristische Alternative gab.
Durch die Sieger wurde im Sinne einer „Siegerjustiz“ erst wieder rechtsstaatliche Rechtsprechung in Deutschland (West-Zonen) möglich.
Kontinuitäten und Brüche werden am besten bei Neff beschrieben und ich hatte das Beispiel der Entwicklung des Völkerrechts im Rahmen des Völkerbund und im Kontext des Briand-Kellog-Pakts angeführt.
In diesen beiden Entwicklungen manifestierte sich das angloamerikanische Verständnis des Völkerrechts und der kollektiven Ächtung von Angriffskriegen (vgl. beispielsweise Neff für die Darstellung)
Angesichts des Krieges, wie oben ausgeführt, stellte sich dann Churchill im July 1942 die Frage, was passiere würde, wenn Hitler in britische Hände fallen würde und formulierte: „We shall certainly put him to death“ (vgl. Macdonnald, Pos. 98).
Sofern also eine Disruption zu erkennen ist, die Krieg als „normalen Akt“ der außenpolitischen Beziehungen von 2 Ländern traditionell und außerhalb der Vorstellungen der Völkerbunds akzeptiert, liegt bei Churchill der politische !!!! Wille vor, die menschenverachtende Politik eines anderen Politikers zu sanktionieren.
Diese Sicht konkretisierte sich, indem er im July des folgenden Jahres weitere ca. 50 Nazi-Spitzenpolitiker auf eine Liste schreibt, die ebenfalls standrechtlich hätten erschossen werden sollen, anstatt sie einem Gerichtshof zuzuführen. Allerdings verbot die US-Verfassung dieses Vorgehen und somit wurde diese dubiose Form von "politischer Rache" ad acta gelegt.
Gleichzeitig widersprach Churchill einem Plan von Stalin in Teheran im November 1943, willkürlich ca. 50.000 bis 100.000 deutsche Offiziere zu erschießen.
Und auch in den USA wurde die Diskussion geführt wie der millionenfache Mord durch Organisationen des 3. Reichs juristisch in den Griff zu bekommen sei.
Morgenthau war eher pro „summary executions“, während sich Stimson durchsetze, da er deutlich machte, dass ein internationaler Gerichtshof der erste wichtige Schritt sei, das deutsche Volk zu rehabilitieren.
Und vor diesem Hintergrund beauftragte Stimson LtCol Murray Bernay damit, Anklagepunkte zu formulieren, die in Übereinstimmng mit der US Constitution formuliert waren, die eine „ex post facto-Gesetzgebung“ verbot.
Und an diesem Punkt erfolgte eine Umkehrung des kurzfristig wirksamen Rachegedankens in den Gedanken einer rechtsstaatlichen Rechtsprechung, also ca. Ende 1944, die über den Sieg hinauswies und den Weg zur Versöhnung eröffnete.
Heller, Kevin Jon (2011): The Nuremberg Military Tribunals and the origins of international criminal law. Oxford, New York: Oxford University Press.
Heydecker, Joe J.; Leeb, Johannes (Hg.) (2015): Der Nürnberger Prozeß. Köln: Kiepenheuer & Witsch
Macdonald, Alexander (2015): The Nuremberg Trials. The Nazis brought to justice. London: Arcturus Publishing.
Neff, Stephen C. (2014): Justice among nations. A history of international law. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press.
Schabas, William (2012): Unimaginable atrocities. Justice, politics, and rights at the war crimes tribunals. 1st ed. Oxford: Oxford University Press.
Schabas, William A. (2013): Kein Frieden ohne Gerechtigkeit? Die Rolle der internationalen Strafjustiz. Hamburg: Hamburger Ed.
Taylor, Telford (2001): Die Nürnberger Prozesse. Hintergründe, Analysen und Erkenntnisse aus heutiger Sicht. München: Heyne (Heyne-Sachbuch, 19/390).
Weinke, Annette (2006): Die Nürnberger Prozesse. München: Beck Beck'sche Reihe,
Dokumente zur den Nürnberger Prozessen
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