Sprachliche Höflichkeitsformen in der Antike und im Mittelalter

Dion

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Zitat aus der heutigen SZ (hinter paywall):

„Für die Anredepronomen beschreibt der Sprachwissenschaftler Werner Besch folgende Entwicklung: Zunächst gab es allgemein nur das Du, dann kam, erstmals im 9. Jahrhundert belegt, die Höflichkeitsform Ihr für Adlige und geistliche Herren hinzu. Mit diesem Zweiersystem kommen die Deutschen das ganze Mittelalter hindurch aus.“

Für mich ist das, was oben im letzten zitierten Satz steht, neu.

Und klar: Die Entwicklung mit der Höflichkeitsform ging ab 16. Jahrhundert weiter – bis wir ab 19. Jahrhundert beim heutigen Sie angekommen sind. Aber das ist für mich hier weniger interessant.

Mich interessiert vielmehr die Frage, wie hielten es die anderen indoeuropäischen Sprachen mit der Höflichkeitsform? Z.B. die alten Griechen und Römer? Oder welche Höflichkeitsformen wurden bis ins 15. Jahrhundert im lateinischen Schriftverkehr benutzt?

PS: Obwohl das obige Zitat aus einem Artikel über die gendergerechte Sprache entnommen wurde, soll hier bitte nicht über das Gendern (im heutigen Sinn) diskutiert werden.
 
Auf Latein kann man die Personalpronomen zur Anrede auch ganz einfach weglassen.

Für die Anrede mit Namen etc. gibt es einen eigenen Kasus: den Vokativ.

Ein besondere Höflichkeitsform existiert nicht.
 
Auf Griechisch und Latein (und auch in einigen anderen Sprachen) existiert doch der Vokativ als Kasus. In der deutschen Sprache gibt es keinen extra Anredekasus.
 
Das mit dem Vokativ ist mir klar, aber den kann man nicht innerhalb eines Satz verwenden.

Was ich meine, sind solche Formen – Zitat aus Wikipedia (Fettschreibung durch mich):

Gegenüber den noch immer zahlreichen Nichtchristen trat Gregor dagegen in der Regel äußerst unnachgiebig auf; so gab er im Jahr 599 Order, die Heiden Sardiniens zum Übertritt zum Christentum zu zwingen:

„Wenn ihr feststellt, dass sie nicht gewillt sind, ihr Verhalten zu ändern, so befehlen wir, dass ihr sie mit größtem Eifer verfolgt. Sind sie unfrei, so züchtigt sie mit Prügeln und Folter, um sie zur Besserung zu zwingen. Sind sie aber freie Menschen, so sollen sie durch strengste Kerkerhaft zur Einsicht gebracht werden, wie es angemessen ist, damit jene, die sich weigern, die heilsamen Worte zu hören, welche sie aus den Gefahren des Todes erretten können, durch körperliche Qual der erwünschten geistigen Gesundheit zugeführt werden.“[5]

Wäre es nicht logisch, dass auf Pluralis majestatis dann in der Antwort an Gregor z.B. hieße: Ihr habt befohlen, dass ...

Ich vermute daher, dass es schon im Latein des Frühmittelalters diese Höflichkeitsform gegeben hatte – und entsprechend wahrscheinlich auch im Deutschen, nur haben wir dafür keine schriftlichen Zeugnisse.
 
Habe ich getan: Gregor der Große benutze u.a. die Worte nostra und nobis, was unsere und uns bedeutet – also Pluralis majestatis. Oder irre ich mich da - und mit mir die Übersetzer des Zitats in Wikipedia?
 
Wenn du die Geschichte umschreiben willst, dann brauchst du Quellen. Was geht z.B. aus den Briefen Alkuins hervor?

Kleiner Tipp: Die Quellen sind schon länger bekannt.
 
wovon warst Du stattdessen ausgegangen?
Ich dachte, die Höflichkeitsanrede Ihr wäre allgemein üblich gewesen. Nun habe ich durch das Zitat im Eröffnungsbeitrag erfahren, dass im Mittelalter sich Leute durchweg mit du ansprachen, nur gegenüber adligen und geistlichen Personen wurde als Anrede das Ihr verwendet, wenn auch erst seit dem 9. (SZ) bzw. ab dem 12. Jahrhundert (Wikipedia).
 
Das mit dem Vokativ ist mir klar, aber den kann man nicht innerhalb eines Satz verwenden.

Wie/wo verwendet man ihn denn, wenn nicht in Sätzen??

Miser Catulle, desinas ineptire, et quod vides perisse perditum ducas.

Hmm, das ist wohl zweifellos ein Satz.

Und das hier ist ein elliptischer Satz:

tu_quoque_fili.png
 
Habe gerade herausgefunden, dass Dante das Ihr (italienisch voi) in „Inferno Canto XV“ benutzt: "Siete voi qui, ser Brunetto?"

Das bedeutet, dass sich diese Höflichkeitsform ab 12. oder 13. Jahrhundert anscheinend auch in Italien ausbreitete. Zuvor gab es auch in Italien nur „tu“ für jedermann – außer im Fall von Pluralis majestatis.
 
Der Vokativ steht schon deshalb im Satz, weil der Vokativ allein schon als Satz gilt, wie ein Ausruf.

"Marce." Ist also ein Satz.
 
Habe gerade herausgefunden, dass Dante das Ihr (italienisch voi) in „Inferno Canto XV“ benutzt: "Siete voi qui, ser Brunetto?"

Das bedeutet, dass sich diese Höflichkeitsform ab 12. oder 13. Jahrhundert anscheinend auch in Italien ausbreitete.

Es gab sie auch im Französischen, von dort wurde sie wohl ins Englische übernommen.

Im 16. Jahrhundert finden wir u. a. noch folgende Formen:

thou = 'Du' (Subjekt), thee = 'Dir'/'Dich' (Objekt, z. B. to thee, for thee)
ye = 'Ihr' (Subjekt), you = 'Euch' (Objekt, z. B. to you, for you)

Heute wird nur noch you verwendet; das Duzen ist also im Englischen ganz ausgestorben. Man kennt es noch teilweise aus Shakespeares Werken und aus der King James Bible:

Pilate then went out unto them, and said, What accusation bring ye against this man?
They answered and said unto him, If he were not a malefactor, we would not have delivered him up unto thee.
Then said Pilate unto them, Take ye him, and judge him according to your law. The Jews therefore said unto him, It is not lawful for us to put any man to death:
[...]
Then Pilate entered into the judgment hall again, and called Jesus, and said unto him, Art thou the King of the Jews?
Jesus answered him, Sayest thou this thing of thyself, or did others tell it thee of me?
Pilate answered, Am I a Jew? Thine own nation and the chief priests have delivered thee unto me: what hast thou done?
[...]
39 But ye have a custom, that I should release unto you one at the passover: will ye therefore that I release unto you the King of the Jews?

Bible Gateway passage: John 18 - King James Version
 
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