Wahrheit ist immer subjektiv, oder besser gesagt: relativ.
Wasser gefriert bei 0°C. Ist das wahr? Ja und nein. Es ist annäherungsweise für den Hausgebrauch richtig. Physiker würden das so nicht stehen lassen. Oder noch ein bekannteres Beispiel: Eine Feder fällt langsamer, als ein Stein.
Das heisst also, dass so simple Dinge, wie alltägliche Beobachtungen, die wir tagtäglich für gegeben akzeptieren, nicht generell als objektiv wahr bezeichnen können.
Das bedeutet aber weder, dass eine Hausfrau unfähig ist Eiswürfel zu machen, noch, dass ein bolivianischer Weizenbauer nicht Spreu von Weizen trennen kann. Es fehlt ihnen aber das Hintergrundwissen, um ihre subjektiven "Erfahrungen" in absolute Wahrheiten umzumünzen.
Jeder Mensch nimmt im Laufe seines Lebens Wissen an, welches er/sie für gegeben und unabänderlich annimmt. Ich habe in einem anderen Strang von "Ideologie" gesprochen. Eine Ideenlogik, über die man sich und seine Welt definiert. Z.B.: ich bin Peter, das sind meine Eltern, das ist mein Haus, das ist mein Bruder, ich bin Deutscher, Rasen hat die Farbe vom Himmel, Messer sind zum Schneiden da, ...
Würde eines Tages Peters Vater sagen, er sei adoptiert, hiesse eigentlich Rüdiger und sei zudem Farbenblind, fiele für Peter die ganze Welt zusammen. Das Fundament seiner Wirklichkeit ist erschüttert, und Peter muss von vorne anfangen. Das gleiche ist 1945 und 1989 in Deutschland passiert. Ich gehe von einem Trauma aus, das viele Menschen in jener Zeit erfasst hat. Manche haben sich gewehrt, ihre alten Fundamente zu beseitigen. Andere haben einfach aufgehört, selber zu denken - sich also wieder ein Ideengebäude aus Basissätzen zusammen zu stellen.
Dennoch brauchen wir dieses Grundgerüst. Jeder Mensch muss sich auf grundlegende Dinge verlassen können, weil wir sonst nicht mehr handlungsfähig wären. Aber genau das ist schwierig, weil wir uns eigentlich nicht sicher sein können, dass es wirklich so ist.
Im Gemeinschaftsleben sieht das ganze noch umständlicher aus. Wieder brauchen wir aber dieses Grundgerüst an Wahrheiten, um überhaupt zusammenleben und -arbeiten zu können: jeder will glücklich sein, Freiheit ist wichtig, Kinder sind ein Segen, der Tod ist ein trauriges Ereignis, usw..
Es ist aber alles genauso, wie weiter oben: relativ. Ob eine friedliche Gesellschaft objektiv richtiger ist, als eine gewalttätige, das kann kein Mensch belegen. Wir wissen nur, dass wir uns über Gemeinschaften definieren und nur in der Gemeinschaft (als Säugetiere: Familie) überleben. Das ist aber ebenso subjektiv menschlich, wie das Ziel eines Terroristen, für den Gottesstaat sterben zu wollen.
Objektiv ist das Überleben der Menschheit einfach irrelevant.
Lange Rede, kurzer Sinn.
Nein, es gibt keine Wahrheit. Ja, wir brauchen sie dennoch.