Wie wurde Hitler Antisemit?

Warum sonst, wenn nicht als "Fachmann" hätte Mayr H. bitten sollen, an seiner Statt zu antworten?

Siehe meinen - nochmaligen - Hinweis auf den Text: http://www.kurt-bauer-geschichte.at/PDF_Lehrveranstaltung 2008_2009/02_Hitlerbrief_Gemlich.pdf
Das ist keine Antwort auf meine Frage. Ich habe die Briefe gelesen und daraus ergibt sich, dass Mayr sich mit Zeitproblemen entschuldigt (es sei dahingestellt, ob die Zeitprobleme nur als Entschuldigung dienten oder der tatsächliche Hintergrund für die Weiterleitung an H. waren) und deshalb die Anfrage an jemanden weiterleitet, der sie seiner Meinung nach beantworten kann.

Die Zitate, die du gebracht hast, widersprechen keineswegs meiner Auffassung. Sie besagen, dass Hitlers Antisemitismus kein Alleinstellungsmerkmal ist und in den Worten Mommsens keine gedankliche Eigenständigkeit zeigt. Zum wann seiner Annahme des Antisemitismus sagen sie aber erneut nichts aus. Der Brief determiniert wie gehabt nur einen taq. Wie gesagt, Hitler selbst nennt seine Wiener Zeit als Genese seines Antisemitismus. Ich habe auch gesagt, dass Hitlers Selbstdarstellungen stets mit Vorsicht zu genießen sind. Aber er nennt eben auch ganz eindeutig Quellen seiner antisemitischen Glaubenssätze: Lueger, Schönerer, Feder.

1919 ist Hitler nun erstmals in einer Position, wo er qua Amt nach seiner Haltung gegenüber den Juden gefragt wurde. In seiner Wiener Zeit war er ein Niemand (weshalb es ja u.a. auch so schwer ist, außer Berichten von persönlichen Zeitzeugen Daten über ihn zu erheben, und weil das, was existierte nach Machtergreifung bzw. Österreichbesatzung teilweise systematisch vernichtet wurde). Wer hätte diesen Niemand vor dem WK I nach seiner Haltung gegenüber den Juden fragen sollen? Dazu gab es keinen Anlass.
 
El Quijote, es ist etliches, siehe Jäckel, dessen Werk immerhin 1300 Seiten umfasst.

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Siehe meinen - nochmaligen - Hinweis auf den Text: http://www.kurt-bauer-geschichte.at/PDF_Lehrveranstaltung 2008_2009/02_Hitlerbrief_Gemlich.pdf

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Peter Longerich, Hitler (2015), schreibt S. 70 u.a.:

Dieses erste antisemitische Schriftstück Hitlers, das wir besitzen,...

Laut dem verlinkten Text ist es nicht nur das erste antisemitische Schriftstück Hitlers, das wir besitzen, sondern überhaupt "das erste Schriftstück der politischen Laufbahn Hitlers"...
 
El Quijote,
es gibt kein Zeugnis für Hitlers Antisemitismus VOR 1919. Siehe Jäckel. Sowenig wie ''Mein Kampf''' eine auch nur halbwegs sichere Quelle im Allgemeinen darstellt.

Die Nennung der Wiener Zeit als Genese seines Antisemitismus ist eine Erfindung /Konstruktion Hitlers, um sich, wie so oft, ein längere Tradition zu zuschreiben.

In Wien hat niemand Hitler gehindert, seine antisemitische Meinung in privaten Briefen, Postkarten oder sonstigen Schriftzeugnissen niederzulegen. Auch nicht in München oder während seines Kriegseinsatzes ab 1914. Siehe Jäckel.

Es macht Sinn, die Grundlagenforschung von Plöckingers Unter Soldaten und Agitatoren, einem geschichtswissenschaftlichen Werk von seltener Quellensättigung und Präzision, zu rezipieren. Um Eberhard Jäckel, Adolf Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen, kommt man genauso wenig herum.

Viele Grüße,
Andreas
 
El Quijote,
es gibt kein Zeugnis für Hitlers Antisemitismus VOR 1919.
Das habe ich auch nicht behauptet. Ich habe darauf hingewiesen, dass Hitler vor 1919 ein Niemand war, für dessen Meinung sich auch niemand interessierte. Insofern ist die Frage, ob man ein solches Zeugnis überhaupt erwarten darf.

Sowenig wie ''Mein Kampf''' eine auch nur halbwegs sichere Quelle im Allgemeinen darstellt.
Auf die Problematik der Quelle Mein Kampf wies ich mehrfach hin. Jedoch nennt H. recht konkrete Quellen für seinen Antisemitismus. Und mehr noch: Er sagt von sich selbst in Mein Kampf, dass er nicht immer Antisemit war, dass er diesen nicht im Elternhaus erlernt habe und dass die Juden, die er in seiner Linzer Jugendzeit kennenlernte, nicht als solche erkennbar waren. Die Frage ist also: wenn er doch bereits "zugibt", dass er Antisemitismus erst lernen musste und nicht immer Antisemit war (was ich fast eher in Frage stellen würde!*), warum sollte er dann die Genese seines Antisemitismus vordatieren? Zu welchem Zweck?

Die Nennung der Wiener Zeit als Genese seines Antisemitismus ist eine Erfindung /Konstruktion Hitlers, um sich, wie so oft, ein längere Tradition zu zuschreiben.
Bei seiner Mitgliedsnummer in der NSDAP hat er aus der 19 eine 519 gemacht, um nicht seiner Mitgliedschaft eine längere Dauer zu attestieren, sondern eine größere Mitgliederzahl der Partei zu suggerieren. Er hat sich hier also eher eine kürzere "Tradition" zugeschrieben.

In Wien hat niemand Hitler gehindert, seine antisemitische Meinung in privaten Briefen, Postkarten oder sonstigen Schriftzeugnissen niederzulegen. Auch nicht in München oder während seines Kriegseinsatzes ab 1914.
Dann sag doch mal, welche Selbstzeugnisse Hitlers es denn überhaupt aus dieser Zeit gibt, und ob man darin überhaupt antisemitische Äußerungen erwarten darf. Ist ja nicht so, wie beim alten Cato, der jede seiner Reden mit der Forderung nach der Zerstörung Karthagos beendete.



*Verbürgt ist beispielsweise Hitlers Verehrung für seinen Geschichtslehrer Pötsch. Pötsch wiederum war Mitglied der Christsozialen, der Partei Karl Luegers.
 
Das habe ich auch nicht behauptet. Ich habe darauf hingewiesen, dass Hitler vor 1919 ein Niemand war, für dessen Meinung sich auch niemand interessierte. Insofern ist die Frage, ob man ein solches Zeugnis überhaupt erwarten darf.

@El Quijote, das scheint mir mehr eine Spekulation zu sein und weniger eine Frage. Ein radikaler Antisemit würde entlang dieser Spekulation, ich spitze hier bewusst zu, nicht seine Meinung, seine Ansichten und Position mitteilen oder verdeutlichen oder andeuten, wenn er nicht in einem Amt damit beauftragt wäre? Das scheint mir weit hergeholt.
Hitler lebte u.a. in Linz, dann in Wien, seit 1913 in München und hatte keine Gelegenheit, seinen ausgeprägtem Antisemitismus irgendwie, 'privat', so kund zu tun, dass es nachweisbar wäre?

Brigitte Hamann hat in ihrer eingehenden quellenkritischen Veröffentlichung Hitlers Wien, bereits vor 20 Jahren erschienen, u.a. notiert:

''Die entscheidende Frage, wann der Antisemitismus für Hitler zum Kern-und Angelpunkt wurde, kann aus seiner Linzer und Wiener Zeit nicht beantwortet werden. Diese Entwicklung ist späteren Jahren zuzuordnen. Als Hitler 1919 als Politiker in München in die Öffentlichkeit trat, operierte er jedenfalls bereits mit aggressiven antisemitischen Parolen. So muß dieser große Bruch in die Weltkriegsjahre, vor allem aber in die Umbruchszeit 1918/19, zu verlegen sein."

Hamann bemerkt u.a. weiterhin, es wären vor 1919 einige wohlwollende Äußerungen H.s zu Juden überliefert, was mir auch bekannt ist.

Auf die Problematik der Quelle Mein Kampf wies ich mehrfach hin. Jedoch nennt H. recht konkrete Quellen für seinen Antisemitismus. Und mehr noch: Er sagt von sich selbst in Mein Kampf, dass er nicht immer Antisemit war, dass er diesen nicht im Elternhaus erlernt habe und dass die Juden, die er in seiner Linzer Jugendzeit kennenlernte, nicht als solche erkennbar waren. Die Frage ist also: wenn er doch bereits "zugibt", dass er Antisemitismus erst lernen musste und nicht immer Antisemit war (was ich fast eher in Frage stellen würde!*), warum sollte er dann die Genese seines Antisemitismus vordatieren? Zu welchem Zweck?

Hitlers Mein Kampf ist vollgestopft mit Erfindungen, korrekten Angaben - UND mit Halbwahrheiten, zu allen möglichen Zwecken! Schau Dir mal die kommentierte Ausgabe an, bezüglich seiner Laufbahn ab Mai 1919 (Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Band 1, 561ff. München 2016)

Bei seiner Mitgliedsnummer in der NSDAP hat er aus der 19 eine 519 gemacht, um nicht seiner Mitgliedschaft eine längere Dauer zu attestieren, sondern eine größere Mitgliederzahl der Partei zu suggerieren. Er hat sich hier also eher eine kürzere "Tradition" zugeschrieben.
Das bestätigt, dass Hitler je nach Zweck Halbwahrheiten/Erfindungen einsetzte. Hier, um eine größere, bedeutendere Partei zu behaupten, der er beigetreten war. Übrigens wurde Hitler von der neuen Partei die Mitglieds-Nr. 555 gegeben, man hatte bei der Nr. 500 überhaupt erst angefangen, aus schon genannten Gründen, real war er damit Nr. 18. Ansonsten schreibt Hitler in der kommentierten Ausgabe, S 599, er hätte bei seinem Beitritt zur DAP im September 1919 die Mitglieds-Nr. 7 bekommen - was nicht zutreffen kann, die DAP hatte damals schon mehr als 50 Mitglieder. Also wieder eine zweckgebundene Angabe.

Dann sag doch mal, welche Selbstzeugnisse Hitlers es denn überhaupt aus dieser Zeit gibt, und ob man darin überhaupt antisemitische Äußerungen erwarten darf. Ist ja nicht so, wie beim alten Cato, der jede seiner Reden mit der Forderung nach der Zerstörung Karthagos beendete.
Siehe Jäckel, ich werde hier nun bestimmt nicht alle rund 50 nachgewiesenen schriftlichen Selbstäußerungen vor dem Sommer 1919 inhaltlich referieren oder aufzählen. Darunter sind aber etliche längere und lange Briefe an Kubizek, an einen Herr Popp usw.


*Verbürgt ist beispielsweise Hitlers Verehrung für seinen Geschichtslehrer Pötsch. Pötsch wiederum war Mitglied der Christsozialen, der Partei Karl Lueger
Es verbietet sich meiner Meinung nach in einer 'seriösen', halbwegs 'wissenschaftlich' orientierten Arbeitsmethode und Diskussion, daraus explizit einen schon vorhandenen, entschiedenen oder radikalen Antisemitismus abzuleiten, wie Du bestimmt verstehen wirst.

Viele Grüße,
Andreas
 
@El Quijote, das scheint mir mehr eine Spekulation zu sein und weniger eine Frage.
Nein, das war eine Frage und die hätte ich gerne beantwortet, da sie sich klar auf deine Haltung bezieht, wonach, weil das erste antisemitische Dokument Hitlers von 1919 stammt, wir Antisemitismus seinerseits bereits in seiner Wiener Zeit ausschließen können.

Ein radikaler Antisemit würde entlang dieser Spekulation, ich spitze hier bewusst zu, nicht seine Meinung, seine Ansichten und Position mitteilen oder verdeutlichen oder andeuten, wenn er nicht in einem Amt damit beauftragt wäre? Das scheint mir weit hergeholt.
Es gibt viele Menschen mit radikalen Ansichten, die diese nicht äußern. Das Fehlen einer Äußerung bedeutet nicht das Fehlen einer Ansicht.

Hitler lebte u.a. in Linz, dann in Wien, seit 1913 in München und hatte keine Gelegenheit, seinen ausgeprägtem Antisemitismus irgendwie, 'privat', so kund zu tun, dass es nachweisbar wäre?
Du verdrehst mir aber schon ein wenig die Worte. Ich habe doch recht deutlich gesagt, dass sich für die Ansichten des Niemands Hitler niemand interessierte. Von daher stelle ich ernet die Frage nach der Überlieferung: WAS HABEN WIR EIGENTLICH VOR 1919 AN SELBSTZEUGNISSEN? UND WIE DRINGEND NOTWENDIG IST ES, DASS H. IN DIESEN SELBSTZEUGNISSEN SEINEN ANTISEMITISMUS THEMATISIERT?

Hitlers Mein Kampf ist vollgestopft mit Erfindungen, korrekten Angaben - UND mit Halbwahrheiten, zu allen möglichen Zwecken! Schau Dir mal die kommentierte Ausgabe an, bezüglich seiner Laufbahn ab Mai 1919 (Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Band 1, 561ff. München 2016)[/quote]
Danke für die "Belehrung", aber du trägst damit nun zum wiederholten Male Eulen nach Athen. Können wir uns darauf einigen, dass es in Athen bereits genug komische Käuze gibt und wir keine weiteren dorthin exportieren müssen?

Das bestätigt, dass Hitler je nach Zweck Halbwahrheiten/Erfindungen einsetzte.
Das stellt ja auch niemand in Abrede, im Gegenteil. Die Frage behufs seiner Entwicklung zum Antisemitismus ist aber erneut: Warum sollte er diese vordatieren? Was sollte er damit bezwecken?

Missionarische Eiferer legen sich ja gerne eine Erweckungslegende zurecht gewissermaßen ein Damaskuserlebnis, wo einem die Schuppen aus den Augen fallen und man aus seiner "ǧāhilīya" (Unwissenheit) befreit wird. I.d.R. wird dieses Erweckungserlebnis narrativ an das Ende eines tatsächlich langwierigeren Prozesses gesetzt, also an die Stelle an der man das neue Weltbild voll angenommen hat und sich als Anhänger offenbart. Bei H. gibt es einen solchen Narrativ nicht und das in einem Buch, das voller Narrative ist.

Siehe Jäckel, ich werde hier nun bestimmt nicht alle rund 50 nachgewiesenen schriftlichen Selbstäußerungen vor dem Sommer 1919 inhaltlich referieren oder aufzählen. Darunter sind aber etliche längere und lange Briefe an Kubizek, an einen Herr Popp usw.
Das musst du auch gar nicht. Aber du kannst ja mal die Frage beantworten, in wie vielen dieser Dokumente es um Außerprivates im weiteren und Politik im engeren Sinne geht.

Es verbietet sich meiner Meinung nach in einer 'seriösen', halbwegs 'wissenschaftlich' orientierten Arbeitsmethode und Diskussion, daraus explizit einen schon vorhandenen, entschiedenen oder radikalen Antisemitismus abzuleiten, wie Du bestimmt verstehen wirst.
Nun, die Frage war die nach den Quellen von Hitlers Antisemitimus. Du hast argumentiert, dieser sei erst spät entstanden, weil erst spät (1919) eine Berührung Hitlers mit Antisemitismus nachweisbar sei. Ich habe dahingegen darauf hingewiesen, dass Hitlers von diesem idealisierter Geschichtslehrer Mitglied einer antisemitisch orientierten Partei war. Ich habe daraus nicht abgeleitet, dass Hitler damals bereits ein "entschiedener" Antisemit war. Die Frage ist halt, wie viel latenter (und allenfalls nur schwer nachweisbarer) Antisemitismus bereits angelegt war als Hitler aus Linz nach Wien wechselte und wie sich sein Antisemitismus nach seinem Wechsel nach München und während seiner Zeit beim Bayrischen Militär formte (und ggf. auch radikalisierte).
 
Nein, das war eine Frage und die hätte ich gerne beantwortet, da sie sich klar auf deine Haltung bezieht, wonach, weil das erste antisemitische Dokument Hitlers von 1919 stammt, wir Antisemitismus seinerseits bereits in seiner Wiener Zeit ausschließen können.

@El Quijote: Es geht hier nicht um letzte, absolute Gewissheiten, die sind im Geschichtsfach eher selten. Wir sprechen hier von Wahrscheinlichkeiten und Plausibilität, von Nachweisen.
Deine Argumente sind weitgehend negativer Natur, denn alle positiven Belege, erstmaliger Nachweis einer eindeutig antisemitischen Position bei Hitler 1919, Fehlen eines Antisemitismus in den bei Jäckel edierten schriftlichen Selbstzeugnissen, sind für Dich keine ausreichenden ''Ausschlusskriterien''. Wie soll da eine substanzielle Erörterung zustande kommen? Nichts spricht positiv dafür, dass Hitler eindeutig antisemitisch geprägt gewesen war vor 1919.

Es gibt viele Menschen mit radikalen Ansichten, die diese nicht äußern. Das Fehlen einer Äußerung bedeutet nicht das Fehlen einer Ansicht.
Wieder ein negatives Argument. Und es gibt noch weit mehr, die sehr wohl im privaten Kreis ihre Meinung kund tun.

Du verdrehst mir aber schon ein wenig die Worte. Ich habe doch recht deutlich gesagt, dass sich für die Ansichten des Niemands Hitler niemand interessierte. Von daher stelle ich ernet die Frage nach der Überlieferung: WAS HABEN WIR EIGENTLICH VOR 1919 AN SELBSTZEUGNISSEN? UND WIE DRINGEND NOTWENDIG IST ES, DASS H. IN DIESEN SELBSTZEUGNISSEN SEINEN ANTISEMITISMUS THEMATISIERT?
Und Du ignoriert konstant meine Argumente...;) Du suggerierst eine denkbar einfache, wenn nicht einfältige Lebenssituation, in der jemand mit Meinung sie abseits eines Amtes offenbar nicht vermitteln kann. Überlieferungen wie bei Jäckel stehen bei Dir wieder unter dem negativen Vorbehalt einer konstruierten Situation, in welcher ein 'Normalmensch' seinen persönlich-subjektiven Antisemitismus nun auch nicht in privaten Zeugnissen kund geben soll....

Das stellt ja auch niemand in Abrede, im Gegenteil. Die Frage behufs seiner Entwicklung zum Antisemitismus ist aber erneut: Warum sollte er diese vordatieren? Was sollte er damit bezwecken?
Um sich von den anderen, zahllosen neuen, diesmal radikalen Antisemiten des Jahren 1919 abzuheben. Hitler war einer von ihnen, einer im Heer ab Sommer 1919.

Missionarische Eiferer legen sich ja gerne eine Erweckungslegende zurecht gewissermaßen ein Damaskuserlebnis, wo einem die Schuppen aus den Augen fallen und man aus seiner "ǧāhilīya" (Unwissenheit) befreit wird. I.d.R. wird dieses Erweckungserlebnis narrativ an das Ende eines tatsächlich langwierigeren Prozesses gesetzt, also an die Stelle an der man das neue Weltbild voll angenommen hat und sich als Anhänger offenbart. Bei H. gibt es einen solchen Narrativ nicht und das in einem Buch, das voller Narrative ist.
Du selbst legst ja so eine Entwicklung bei Hitler, auch entlang von Mein Kampf, nahe; er referierte, folge ich Dir, ab seiner Wiener Zeit bis ins Jahr 1919, dem Punkt seiner Umkehr, wenn ich Deinen Ausführungen folge. Zudem kann man aus dem Vorkommen oder Nichtvorkommen typischer Narrative keine Gewissheiten schöpfen. Der Hitler von Mein Kampf war zudem kein Anhänger mehr von was auch immer, eher ein Erlöser, Führer etc.

Das musst du auch gar nicht. Aber du kannst ja mal die Frage beantworten, in wie vielen dieser Dokumente es um Außerprivates im weiteren und Politik im engeren Sinne geht.
Eine völlig freie Einschränkung Deinerseits. Der Antisemitismus ist also nicht privat und immer in der politischen Sphäre verankert? So dass die überlieferten Selbstzeugnisse Hitlers bei Jäckel wieder keine ausreichende Belege bieten - und bieten können? Das scheint mir eine recht willkürliche Einschränkung zu sein, dem wahrscheinlich nicht nur meine eigene Erfahrung mit antisemitischen Ansichten entgegen steht.


Nun, die Frage war die nach den Quellen von Hitlers Antisemitimus. Du hast argumentiert, dieser sei erst spät entstanden, weil erst spät (1919) eine Berührung Hitlers mit Antisemitismus nachweisbar sei. Ich habe dahingegen darauf hingewiesen, dass Hitlers von diesem idealisierter Geschichtslehrer Mitglied einer antisemitisch orientierten Partei war. Ich habe daraus nicht abgeleitet, dass Hitler damals bereits ein "entschiedener" Antisemit war. Die Frage ist halt, wie viel latenter (und allenfalls nur schwer nachweisbarer) Antisemitismus bereits angelegt war als Hitler aus Linz nach Wien wechselte und wie sich sein Antisemitismus nach seinem Wechsel nach München und während seiner Zeit beim Bayrischen Militär formte (und ggf. auch radikalisierte).
Ein nicht nachweisbarer, weil nur 'latenter' Antisemitismus ist ein guter Gegenstand der Spekulation. Ein nicht entschiedener Antisemitismus in Wien als Vorstadium des radikalen, entschiedenen Antisemitismus? Wie willst Du den nicht entschiedenen, 'soften' Antisemitismus eindeutig abgrenzen von dem, was uns im Gemlich-Brief 1919 begegnet?
Ist Hitlers Antisemitismus sonst etwa nicht nachvollziehbar? Muss deshalb mit negativen Argumenten zumindest die Möglichkeit eines davor seit Wien bestehenden, nur reaktiven & soften, 'latenten' und nicht entschiedenen Antisemitismus gerettet werden? Dem scheint mir alles untergeordnet zu werden.

Gerade das Jahr 1919 bietet in Bayern und München genug Anschauungsmaterial, dass der radikale Antisemitismus verbreitet wie aus dem Nichts entstehen kann - wenn die äußeren und inneren Umstände entsprechend sind. Latenter Antijudaismus muss dabei nicht einmal bei dem Einzelnen verankert gewesen sein. Karl Mayr, der Mentor und militärische Vorgesetzte Hitlers in der Propaganda-Abt. des Reichswehrgruppenkommandos 4 ist ein klassisches Beispiel dafür - und für die wiederum spätere radikale Abkehr davon.

El Quijote, ich meine, die Diskussion ist inzwischen unergiebig. Während ich immer neue Quellen und Literatur anführe, bieten Deine Beiträge vor allem eigene, negative Argumente. Quellen und Literatur sind kaum vorhanden. Sorry im Voraus.

Liebe Grüße,
Andreas
 
Während ich immer neue Quellen und Literatur anführe,
......da hatte ich doch einen anderen Eindruck. Wie die Sichten doch unterschiedlich sein können.

Relevante Argumentationen, in denen ich andere Historiker in Bezug auf die Entwicklung des Antisemitismus von Hitler referiert habe, wurden Deinerseits schlichtweg ignoriert. So ist dann wohl auch die Verwechslung von Usern zu erklären. Schwamm drüber.

Allerdings: Die Breite des Materials zu diesem Thema wurde nicht von Dir vorgestellt!!!! Soviel zu Anspruch und Wirklichkeit.

Dass dann einzelne Historiker, wie Hamann (S. 576) gerne sehr selektiv – auch von Dir - zitiert werden, ohne ihre zusätzlichen Qualifizierungen. "Seine prägenden Erfahrungen politischen Erfahrungen stammten aus Wien : Bei Dr. Karl Lueger lernte er die Taktik eines Volkstribuns ennen....."etc. zusätzlich mit inhaltlich einzubinden, ist erklärungsbedürftig. Allerdings ist diese Aussage die entscheidende vor dem Hintergrund der Frage nach dem Zeitpunkt!!!!! Und sie datiert die Ausprägung des antisemitisichen Weltbilds in die Phase von Wien.

ISomit: Es steht in der aktuellen historischen Forschung, die sich ganzheitlich mit Hitler beschäftigt, weitgehend außer Zweifel, dass Hitler bereits vor 1912 eine antisemitische Haltung gehabt hat. Die Intensität als solche wird man nicht operationalisieren können und deswegen wird man kaum die These formulieren können, dass er in Wien ein radikaler Antisemit gewesen sei. Und das hat auch m.E. in der Diskussion niemand behauptet. Aber darauf wurde ja – literaturgestützt – bereits hingewiesen.

Und das sein- u.a. - Antisemitismus eine sprachliche Übereinstimmungen zwischen der alldeutschen Presse und der späteren Ausdrucksweise von Hitler aufwies, als Ergebnis einer Inhaltsanalyse!, ist ein starker empirisch abgesicherter Indikator für die mediale Wirksamkeit der Presse in Wien bei Hitler. Und deswegen ist es keine Spekulation, wenn man davon ausgeht, dass er bereits zu der Wiener Phase mehr als nur einen diffusen Antisemitismus hatte, sondern dieser eindeutig politisch aufgeladen war.

Relevanter allerdings war seine deutschnationale Gesinnung und sein ausgeprägter deutscher Nationalismus. Das ist wichtig, weil sich aus ihm seine Ablehnung der Sozialdemokratie und auch der Juden ergeben sollten. Überflüssig zu sagen, dass es ebenso wenig Dokumente zu dieser Einstellung von Hitler gibt, dennoch ist sie ebenfalls durch Zeitzeugen verbürgt.

Ähnlich die Darstellung von Heer zu Hitler, in dem der starker österreichische Bezug von Hitlers Denkwelt und Emotionen ausgeführt wird (Lukacs, S. 89). Eine wichtige Ergänzung zum Verstehen der Studie von Kandl, auf die sich Longerich zentral in seiner Argumentation bezieht.

Dass entsprechende Zeitzeugen, die als die relevantesten angesehen werden, von einer deutlichen - als "Spleen" bezeichneten - antisemitischen Haltung berichten. Die Darstellungen von Kubizek stützt sich gegenseitig mit den Darstellungen von Hanisch, der Berichte über das Leben von Hitler zwischen 1909 und 1910 vorgelegt hatte .

Ich habe doch recht deutlich gesagt, dass sich für die Ansichten des Niemands Hitler niemand interessierte.

Doch Kubizek, der als Therapeut, Freund, Zuhörer die entsprechenden Äußerungen, als häufiger - zwangsweiser - Zuhörer der langen Monologe von Hitler, dieses bezeugt hat. Ansonsten ist es natürlich völlig richtig und es zeigt, dass die Suche nach "Dokumenten" sinnlos ist.

Aber wer weiss, vielleicht findet sich ja noch eine antisemtische Proklamation, die Hitler an die Tür zum Lesezimmer des Männerwohnheims genagelt haben soll. Oder eine Schellackaufzeichnung, die entsprechende Mitschnitte der Diskussion über Semitismus im Leseraum.

Dass es dann während der Zeit in der Armee zu einer Revitalisierung des Antisemitismus und auch Intensivierung kam ist ebenso als Erkenntnisstand mehrheitlich wohl unstrittig. Als besonders zentral wird dabei auf den Brief von Hitler vom Februar 1915 verwiesen. In diesem Zusammenhang spricht Lukacs von einer „Kristallisation“ (S. 90) von Hitlers Ideen und meint damit das Jäckel`sche „Weltbild“ von Hitler. In diesem Brief an einen Freund werden klare politische Ziele formuliert und es wird u.a. der unvermeidliche Kampf gegen den inneren Feind in Deutschland angesprochen.

Bisher wurde von den Protagonisten der "militärischen instant Gehirnwäsche" nicht dargestellt,in welchem Umfang die ideologische Schulung in Bezug auf eine Dynamisierung des Antisemitismus von Hitler denn vorgenommen wurde. Und es wurde auch nicht erklärt, wie man sich denn so eine extrem schnell wirkende und emotional und kognitive so wirksame Gehirnwäsche bei Hitler denn vorstellen soll.

Lediglich bei Feder kann man, entsprechend den Kommentaren von Mayer und beim 20 Punkte Programm der NSDAP eine direkte ideengeschichtliche Linie vom Hörsaal in München zur Programmatik der NSDAP ziehen bzw. erkennen (vgl. „Brief“). In diesem Sinne – und darauf hatte ich hingewiesen – hatten die Schulungen eher einen „integrativen“ Effekt seines Weltbildes, aber keinen expliziten verstärkenden in Bezug auf seinen Antisemitismus. Der verstärkte sich durch seine eigene Wahrnehmung und Analyse der politischen Ereignisse in München.

Der Brief von Mayr ist durchaus sprachlich wie inhaltlich aufschlussreich, wenn man ihn denn kritisch lesen will. In der Literatur wird problematisiert, ob Mayr der „Mentor“ von Hitler war. Eine derartige Sicht ist durchaus plausibel. Aber: Mayr war der „Enabler“ von Hitler, der ihm die organisatorische Plattform inklusive der entsprechenden politischen Kontakte bereitgestellt hat, damit Hitler sein Ziel, Politiker zu werden ,in die Praxis hat umsetzen können.

Mayr war nicht der ideologische Guru von Hitler und stand durchaus auch kritisch zu seiner Sicht. Interessant an dem „Brief“ ist ferner die Art, wie der Hauptmann Mayr über Hitler spricht. Distanziert und nicht wir über einen Mannschaftsdienstgrad, sondern über einen „Gleichrangigen“. Das deutet an, dass nicht von Soldat zu Soldat geredet wird, sondern von Anti-Revolutionär zu Anti-Revolutionär.

In diesem Sinne ist es fraglos richtig, dass die Phase nach 1920 die eigentlich Phase der Integration und der Radikalisierung des Weltbildes war. Und die Kritik, die u.a. Jäckel an der Stilisierung von Hitler der Bedeutung der Wiener Zeit, zutrifft.

Allerdings sollte man, um Mayr zu zitieren, nicht das Kind mit dem Bade ausgießen, was manche hier im Forum tun. Nicht zuletzt, weil das Thema so „schräg“ eingeführt wurde.


Heer, Friedrich (1968): Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität. München, Eßlingen: Bechtle Verlag.
Kandl, Eleonore (1963): Hitlers Österreichbild. Wien: Dissertation.
Lukacs, John (1997): Hitler. Geschichte und Geschichtsschreibung. München: Luchterhand.
 
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@El Quijote: Es geht hier nicht um letzte, absolute Gewissheiten, die sind im Geschichtsfach eher selten. Wir sprechen hier von Wahrscheinlichkeiten und Plausibilität, von Nachweisen.
Gut, wie plausibel ist es denn, dass Hitler, der bereits in Linz und später in mit Antisemitismus in Berührung kam, erst 1918/19 Antisemit wurde?

Deine Argumente sind weitgehend negativer Natur, denn alle positiven Belege, erstmaliger Nachweis einer eindeutig antisemitischen Position bei Hitler 1919, Fehlen eines Antisemitismus in den bei Jäckel edierten schriftlichen Selbstzeugnissen, sind für Dich keine ausreichenden ''Ausschlusskriterien''.
Das stimmt so nicht. Im Gegenteil, du bist ja derjenige der negativ argumentiert. "Es gibt keine Zeugnisse, dass Hitler vor 1919 Antisemit war, also war er vor 1919 kein Antisemit. Ich habe vielmehr nach dem Gehalt seiner früheren Zeugnisse gefragt. Da hast du mir bisher die Auskunft verweigert.

Wie soll da eine substanzielle Erörterung zustande kommen? Nichts spricht positiv dafür, dass Hitler eindeutig antisemitisch geprägt gewesen war vor 1919.
Doch, durchaus. Zum ersten seine eigene Behauptung, dass er in Wien seine antisemitische Prägung erhielt. (ja, du musst jetzt nicht erneut wiederholen, dass MK eine im Grunde genommen zweifelhafte Quelle ist, das weiß ich selber und nicht erst seit gestern, aber du müsstest schon begründen, warum er ausgerechnet an dieser Stelle lügt. Es ist nämlich an den Stellen in MK, wo er seine antisemitische Prägung in Wien beschreibt im Gegensatz zu anderen Stellen, wo die Unwahrheiten offensichtlich sind, eben nicht offensichtlich.)
Zum zweiten sein Kontakt zu Pötsch.

Wieder ein negatives Argument. Und es gibt noch weit mehr, die sehr wohl im privaten Kreis ihre Meinung kund tun.
Ja, doch geschieht dies in der Regel mündlich und nicht schriftlich.

Und Du ignoriert konstant meine Argumente...;)
Eigentlich nicht. Ich stelle deine Argumente auf den Prüfstand. So frage ich dich seit mehreren Beiträgen, was wir denn von dem Niemand Hitler für Selbstzeugnisse erwarten dürfen bzw. was die annähernd 50 Selbstzeugnisse, die von ihm aus der Zeit vor dem WKI bekannt sind über seine außerprivaten/politischen Ansichten erfahren. Da verweigerst du mir bisher eine Antwort uns sagst mir im Prinzip, ich solle Hamann, Jäckel und Plöckinger lesen. Das tue ich, aber als Argument reicht mir das nicht.

Ich habe dir eine klare Frage gestellt:
El Quijote schrieb:
WAS HABEN WIR EIGENTLICH VOR 1919 AN SELBSTZEUGNISSEN? UND WIE DRINGEND NOTWENDIG IST ES, DASS H. IN DIESEN SELBSTZEUGNISSEN SEINEN ANTISEMITISMUS THEMATISIERT?
Eine Antwort auf die Frage erhalte ich nicht, stattdessen einen Vorwurf:

Du suggerierst eine denkbar einfache, wenn nicht einfältige Lebenssituation, in der jemand mit Meinung sie abseits eines Amtes offenbar nicht vermitteln kann. Überlieferungen wie bei Jäckel stehen bei Dir wieder unter dem negativen Vorbehalt einer konstruierten Situation, in welcher ein 'Normalmensch' seinen persönlich-subjektiven Antisemitismus nun auch nicht in privaten Zeugnissen kund geben soll....
Wenn du mich überzeugen willst - das ist möglich! -, dann beantworte mir meine Frage. Zu den Überlieferungen bei Jäckel habe ich mich bzgl. ihrer Qualität überhaupt nicht geäußert, im Ggt. ich habe dir eine Frage gestellt, die du unbeantwortet lässt.

Um sich von den anderen, zahllosen neuen, diesmal radikalen Antisemiten des Jahren 1919 abzuheben. Hitler war einer von ihnen, einer im Heer ab Sommer 1919.
Und deshalb Fällt Mayr im Rahmen der Gemlichkorrespondenz als erstes Hitler als Experte ein, an den er Gemlichs Anfrage weiterleitet?

Zudem kann man aus dem Vorkommen oder Nichtvorkommen typischer Narrative keine Gewissheiten schöpfen.
Natürlich nicht, die Frage, die du aber bisher immer noch unbeantwortet lässt, ist, warum H. hier lügen sollte. Gerade dort, wo gelogen wird, finden wir i.d.R. Narrative.

Eine völlig freie Einschränkung Deinerseits. Der Antisemitismus ist also nicht privat und immer in der politischen Sphäre verankert?
Das ist eine falsche Schlussfolgerung aus meinen Äußerungen. Die Grundfrage ist immer noch OB MAN IN DEN SELBSTZEUGNISSEN HITLERS NOTWENDIGERWEISE ANTISEMITISCHE ÄUßERUNGEN ERWARTEN MUSS. Die Frage ist, welcher Art sind die Selbstzeugnisse Hitlers, welche Themen spricht er an? Ist überhaupt IRGENDETWAS Weltanschauliches diesen Zeugnissen zu entnehmen? Solange du um die Antwort dieser Frage herumlavierst, kannst du nicht überzeugen.

So dass die überlieferten Selbstzeugnisse Hitlers bei Jäckel wieder keine ausreichende Belege bieten - und bieten können?
Das habe ich nie gesagt. Bitte unterstelle mir keine Äußerungen, die ich nicht gemacht habe. Das wäre nett und der Diskussion mindstens so förderlich wie die Beantwortung meiner Fragen.

Das scheint mir eine recht willkürliche Einschränkung zu sein, dem wahrscheinlich nicht nur meine eigene Erfahrung mit antisemitischen Ansichten entgegen steht.
Okay, wie viele der antisemtischen Äußerungen, mit denen du bereits konfrontiert wurdest, sind derart dokumentiert, dass man sie in 100 Jahren quellenmäßig auswerten und einer Person zuordnen kann? Keine aabsoluten Zahlen, Prozent reichen.

Ein nicht nachweisbarer, weil nur 'latenter' Antisemitismus ist ein guter Gegenstand der Spekulation. Ein nicht entschiedener Antisemitismus in Wien als Vorstadium des radikalen, entschiedenen Antisemitismus? Wie willst Du den nicht entschiedenen, 'soften' Antisemitismus eindeutig abgrenzen von dem, was uns im Gemlich-Brief 1919 begegnet?
Offensichtlich haben wir einen unterschiedlichen Begriff von latent. Ein latenter Antisemitismus ist nicht "softer" sondern weniger entwickelt, er tritt weniger deutlich zu Tage. Lat. latere, verborgen sein.

Ist Hitlers Antisemitismus sonst etwa nicht nachvollziehbar? Muss deshalb mit negativen Argumenten zumindest die Möglichkeit eines davor seit Wien bestehenden, nur reaktiven & soften, 'latenten' und nicht entschiedenen Antisemitismus gerettet werden? Dem scheint mir alles untergeordnet zu werden.
Ich muss gar nichts retten. Aber i.d.R. fallen Überzeugungen nicht vom Himmel sondern haben eine Genese. Und diese Genese wird negiert, wenn man meint, dass Hitler 1919 plötzlich Antisemit war und vorher nicht.

Gerade das Jahr 1919 bietet in Bayern und München genug Anschauungsmaterial, dass der radikale Antisemitismus verbreitet wie aus dem Nichts entstehen kann - wenn die äußeren und inneren Umstände entsprechend sind. Latenter Antijudaismus muss dabei nicht einmal bei dem Einzelnen verankert gewesen sein. Karl Mayr, der Mentor und militärische Vorgesetzte Hitlers in der Propaganda-Abt. des Reichswehrgruppenkommandos 4 ist ein klassisches Beispiel dafür - und für die wiederum spätere radikale Abkehr davon.
Der Antisemitismus ist in Bayern und München nicht aus dem Nichts entstanden. Er greift auf kaiserzeitliche und auch vorkaiserzeitliche Stereotype zurück. Es ist schon so, dass im Zuge von Dolchstoßlegende und Niederschlagung der bayrischen Räterepublik die antisemitische Agitation aufbrandet. Aber die vorgebrachten Vorwürfe sind keinesfalls aus dem Nichts entstanden uns lassen sich bis zu 100 Jahre zurückverfolgen.

El Quijote, ich meine, die Diskussion ist inzwischen unergiebig. Während ich immer neue Quellen und Literatur anführe, bieten Deine Beiträge vor allem eigene, negative Argumente. Quellen und Literatur sind kaum vorhanden. Sorry im Voraus.
Das ist so nicht ganz zurück. Ich frage nach den Quellen und ihrem Gehalt und du sagst, dass du sie nicht wiedergeben könntest. Ich will doch von dir im Grunde genommen nur eine Sache wissen: Welche Selbstzeugnisse Hitlers vor 1919 geben uns Auskunft über seine Weltanschauung.
 
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Ich habe doch recht deutlich gesagt, dass sich für die Ansichten des Niemands Hitler niemand interessierte.
Doch Kubizek, der als Therapeut, Freund, Zuhörer die entsprechenden Äußerungen, als häufiger - zwangsweiser - Zuhörer der langen Monologe von Hitler, dieses bezeugt hat.
Wann hat Kubizek diese denn aufgezeichnet? In der gemeinsamen Linzer und Wiener Zeit oder nachdem Hitler zur Politprominenz aufgestiegen war? Denn darum geht es ja: Was ist unabhängig von der Sicht auf Hitler als fanatischem Antisemiten seiner letzten 25 Lebensjahre entstanden.
 
In #15 in Anlehnung an die Diskusson bei Longerich dargestellt.

Insgesamt stellt Ulrich in seiner Hitler-Biographie, so der Eindruck nach einem schnellen Reinlesen zu Wien, ebenfalls auf die Schilderungen von ihm ab.
 
Ich hab nochmal bei Brigitte Hamann nachgelesen.

„Kein Zweifel kann darüber bestehen, daß sich der junge Hitler auch mit dem Antisemitismus beschäftigte. Jene vier Politiker, die auch als seine politischen Vorbilder gelten können, Schönerer, Lueger, Wolf und Stein, waren extreme Antisemiten. Viele Zeitungen, die H. in Wien las, und viele Broschüren mit denen er sein Selbststudium bestritt waren antisemitisch. H.s Ausdrucksweise hatte noch in Reichskanzlerzeiten eine wienerische Färbung, wenn er sich über „die Juden“ verbreitete.“
S. 496

Man kann sagen H. spielt später die Melodie seiner Wiener Jugendzeit.
Also wird er das wohl aufgesogen haben und damit in gewisser Weise auch verinnerlicht.

Hitler selbst legte später großen Wert auf seine Behauptung, er sei bereits in seiner Wiener Zeit Antisemit gewesen. Nur lassen sich dafür schwerlich Belege finden „Abgesehen vom Sonderfall des Zeugen Kubitschek .. ist keine antisemitische Bemerkung des jungen H. überliefert“ S. 498
Ja, er hat ihm zugewandte jüdische Freunde und Geschäftspartner und profitiert aus der Beziehung zu ihnen. S. 499ff

„Wobei Hitler behauptet, er sei schon in Wien glühender Antisemit gewesen. Aber in Wien hatte er noch nichts gegen die Juden. Schließlich verdankte er ihnen fast alles. Vor allem die Familie Morgenstern hat ihm geholfen, indem sie die Postkarten, die er malte, in ihrem Laden verkaufte. Hitlers Postkarten stapelten sich dort noch 1938, als die Nazis einmarschierten. „
http://www.zeit.de/2010/14/Interview-Brigitte-Hamann

Was mE vernünftig annehmen kann: Der stark zur Radikalität neigende junge Hitler sog die Klaviatur des Wiener Antisemitismus ein, und dieser „Beat“ schwoll an, als die geile Zeit für den, von sich selbst Ergriffenen anbrach.
Denn, so wie ich es verstehe, war er jedenfalls schon sehr früh dem Eifer der Missionierung verfallen.
 
Peter Longerich, Hitler (2015), S. 72, notiert meiner Meinung nach einen guten ''Kompromiss'':

War der Antisemitismus für Hitler in seiner Wiener Zeit wie gezeigt noch eine Feindschaft unter vielen 'Antis' gewesen, ein Element unter zahlreichen anderen, die ihm eine Erklärung für den drohenden Zerfall des Habsburgerreiches - damals der entscheidende Fixpunkt in seinem alldeutsch geprägten Denken- zu liefern schien so hatte sich die politische Gesamtsituation nun radikal geändert. [...] Und so rückte der Antisemitismus vom Rand ins Zentrum seine Weltbildes.

Kubizek ist der einzige, welcher eine eindeutige antisemitische Position Hitlers in der Wiener Zeit behauptet, siehe Hatls Beitrag, und ist nicht eben nicht ausreichend glaubwürdig. Schriftliche Aufzeichnungen jedwelcher Art mit antisemitischen Inhalten sind von H. ebenso nicht überliefert. Da gibt es auch einen Brief Hitlers, siehe Jäckel/Kuhn, Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen, S. 64 - 69, vom 5.2.1915 aus dem Krieg mit fremdenfeindlichen und 'Internationalismus'-Feindlichen Anklängen am Ende des Briefes, doch ohne allen antisemitischen Anflug.

Die vielen 'Antis' sind eben ein typisches Milieu, zudem sich jederzeit auch weitere 'Antis' gesellen können. Ein ernsthafter oder arrivierter Antisemit wird H. kaum gewesen sein.

Die Bedeutung des ''sich im Sommer 1919 wie ein Steppenbrand sich ausbreitende[r] Antisemitismus'' (Longerich, S. 72) in München/Bayern für Hitler scheint mir zuwenig beachtet worden sein. Das Netzwerk von Reichswehrgruppenkommando 4 mit der Propagandaabtl. von Hauptmann Karl Mayer, mit Dietrich Eckart, Gottfried Feder, Ernst Röhm, Hans Frank, Rudolf Heß, von Müller, Alfred Rosenberg, DAP, Thulegesellschaft mit dem Münchner Beobachter, dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund und dem antisemitischen Verleger Julius Friedrich Lehmann in München u.v.a.m. war die organisatorische, finanzielle und ideologische Basis für den weiteren Weg von Hitler/DAP/NSDAP in München 1919/1920. Marginal war es gewiss nicht.

  • Othmar Plöckinger, Unter Soldaten und Agitatoren. Hitlers prägende Jahre im deutschen Militär (2013)
  • Hitler, Mein Kampf. Kritische Edition (2016, 2 Bde.)
  • Peter Longerich, Hitler (2015), S. 59 - 96
  • Ludolf Herbst, Hitlers Charisma (2010), S. 59 - 125
  • Brigitte Hamann, Hitlers Wien (1996)
  • Jäckel/Kuhn, Adolf Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905 - 1924 (1980)
  • Ernst Deuerlein, Hitlers Eintritt in die Politik und Reichswehr, Vierteljahresheft für Zeitgeschichte (1959, Heft 2)
  • Hellmuth Auerbach, Hitlers Politische Lehrjahre und die Münchener Gesellschaft 1919 - 1923, Vierteljahresheft für Zeitgeschichte (1977, Heft 1)
  • Reginald h. Phelps, Hitlers 'grundlegende' Rede über den Antisemitismus, Vierteljahresheft für Zeitgeschichte (1968, Heft 4)
  • Reginald H. Phelps, Hitler als Parteiredner im Jahre 1920, Vierteljahresheft für Zeitgeschichte ( 1963, Heft 3)


Viele Grüße,
Andreas
 
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Ein ernsthafter oder arrivierter Antisemit wird H. [vor 1919] kaum gewesen sein.
Hätte nicht gedacht, dass diese Diskussion schon wieder drei Jahre her ist. Weshalb ich sie wieder aufgreife: Ich war damals anderer Meinung als du, bzgl. H.s Antisemitismus. Als ich aber gestern Abend in Edgar Feuchtwangers Kindheitserinnerung Als Hitler unser Nachbar war schmökerte, fand ich eine Bemerkung seines Onkels Lion, die er wiedergibt und die durchaus dafür spricht, dass H. nicht bereits in seiner Wiener Zeit (so meine damalige Position) gefestigter Antisemit war:

Wenn ich daran denke, dass mich dein Nachbar [H.] in den alten Zeiten, bevor man ihn ins Gefängnis steckte, im Hofgarten Café in München, wo wir so oft mit Berthold Brecht hingegangen sind, mit Herr Doktor angesprochen hat, sagte Onkel Lion. Ich frage mich, was Dr. Freud wohl dazu sagen würde.
(S. 26)​
 
Der Antisemitismus ist bei Hitler nicht vor der zweiten Hälfte 1919 nachweisbar, siehe auch Eberhard Jäckel, Adolf Hilter. Sämtliche Aufzeichnungen 1905 - 1924 (1980).

Das scheint mir noch bedeutsamer zu werden, stellt man die antisemitische Radikalisierung bzw. den 'aufkommenden' Antisemitismus während des Krieges in Rechnung, die sich in anscheinend doch etlichen Ego-Dokumenten finden lässt. Wie es beispielsweise bei Ernst von Weizsäcker in Leonidas Hill, Die Weizsäcker-Papiere 1900-1932 (1982), auffallend sichtbar wird. Vor ca. 1915/1916 (1917?) sind bei von Weizsäcker m.E. nach keine antisemitisch deutbaren Äußerungen in den von Hill veröffentlichen Papieren, Egodokumenten überliefert. Verblüffend die entsprechenden Veränderungen seit diesen Jahren.

Bei H., siehe Jäckel/Kuhn, vor 1919 m.E. nichts dergleichen. Natürlich ist H. kein Weizsäcker und es sind nicht allzu viele Egodokumente von H. vor 1919 überliefert, doch die wenigen aus seiner Kriegszeit sollten m.M. nach bei einem arrivierten und vielleicht auch schon radikalisierten Antisemiten gewisse antisemitische Anklänge, Botschaften, Stereotypen usw. transportieren.
 
Nun ist ja auch Mein Kampf, wie nicht zuletzt der Titel verrät, ein Ego-Zeugnis. Allerdings eben ein - aus Sicht unserer Fragestellung - zurückgreifendes. Ich habe das Buch nie zu Ende gelesen, aber gut 300 Seiten. Gerade auf den ersten Seiten ist es schon fassbar, dass Hitler lügt, so wie er seine Jugend und sich als Rädelsführer darstellt. Seine Werdung zum Antisemiten schildert er als Wiener Begebenheit:

Es kam die Zeit, da ich nicht mehr wie in den ersten Tagen blind durch die mächtige Stadt wandelte, sondern mit offenem Auge außer den Bauten auch die Menschen besah.
Als ich so durch die innere Stadt strich, stieß ich plötzlich auf eine Erscheinung inn langem Kaftan mit schwarzen Lockeen. Ist dies auch ein Jude? war mein erster Gedanke. [...] Ich beobachtete den Mann verstohle und vorsichtig, allein je länger ich in dieses fremde Gesicht starrte und forschend Zug um Zug prüfte, um so mehr wandelte sich in meinem Gehirn die erste Frage zu einer anderen Frage: Ist dies auch ein Deutscher?​

Dass diese Schilderung inszeniert ist, liegt auf der Hand. H. macht hier gewissermaßen aus seinem Leben einen (politischen) Coming of Age-Roman. Dennoch verlegt er hier sein antisemitisches "Erwachen" - ich glaube, so will H. diese Stelle gelesen wissen - nach Wien. Die Frage, die sich uns doch stellt, ist, warum er das macht? Wenn er 1919 noch kein gefestigter Antisemit war - und dafür sprechen ja durchaus seine Verhaltensweisen gegenüber dem ein oder anderen auch jüdischen Promimenten: Warum verlegt er seine Antisemitenwerdung in diese frühere Zeit?
Und warum wurde er übberhaupt zum Antisemiten?
Ich will jetzt nicht plakativ-küchenpsychologisch aus womöglicher Zurückweisung des von sich selbst und seinem künsterisch-architektonischen Genie überzeugten Narzissten durch prominente Literaten und wem er sich noch angebiedert haben mag, seinen Antisemitismus herleiten.
 
Ich will jetzt nicht plakativ-küchenpsychologisch aus womöglicher Zurückweisung des von sich selbst und seinem künsterisch-architektonischen Genie überzeugten Narzissten durch prominente Literaten und wem er sich noch angebiedert haben mag, seinen Antisemitismus herleiten.
Hatte nicht Erich Fromm in den 1970ern/1980ern darauf abgezielt? Vor Jahrzehnten las ihn, und dies war irgendwo dabei, meine ich. Gekränkt-beschränkter Künstler-Narziss ist natürlich immer eine gute Hausnummer..führt m.E. aber nicht zum späteren H. mit seinem Erlösungsantisemitismus.

Ich selber behaupte ja nur in etwa, H. hätte in Wien einen reaktiven Antisemitismus mit aufgesogen, der entsprechend ansonsten nicht eigenständig als Merkmal-Macke zum tragen kam, kein 'arrivierter' A. gewesen war. Den aktiven Erlösung-Antisemitismus in Verbindung mit einer apokalyptischen Endzeit-Vorstellung usw. finden wir, meine ich, eindeutig erst nach dem Krieg, ab dem späten Jahr 1919 entwickelnd, in jener sehr eigenen Münchner Subkultur.

Warum in die Wiener Zeit zurück verlegt? Keine Ahnung...vielleicht um sich eine längere Tradition zu geben, ein früheres 'Erwachen' und damit größere Autorität sowie Bedeutung, um sich vom neuen, weit verbreiteten, zeitweise fast inflationär aufkommenden Erlösungsantisemitismus nach dem Krieg abzuheben, in welchem ja plötzlich genug andere den Hitler-Sound beim Antisemitismus genauso und auch vor ihm schon drauf hatten.

H.'s m. Krampf habe ich ebenfalls gelesen, zwang mich zu vielleicht knapp die Hälfte insgesamt, damals noch aus dem Netz runtergeladen. Wirr, konfus, difuss, unerträglich schwammig, ungenau usw. Die kommentierte Ausgabe von Otmar Plöckinger u.a. ist in jeder Hinsicht unverdient.
 
Einer der Herausgeber und Editoren der kommentierten Neuausgabe von M. Krampf von H. , der Historiker Roman Töppel, kommt zu einem ähnlichen Fazit, wie von mir dargestellt, was die Entstehung/Erscheinung von H.'s Erlösungsantisemitismus/ eliminatorischen Radikalantisemitismus /apokalyptische Endzeit-Vorstellung betrifft. Damit steht Töppel natürlich in Einklang mit Othmar Plöckinger, dem inzwischen bekannten weiteren Herausgeber/Miteditor von M. Krampf.

Roman Töppel hat in Medaon. Magazin für jüdische Leben in Forschung und Bildung, Heft 12, 2018, im seinem Wissenschaftsartikel 9. November 1923: Der Hitlerputsch, Mein Kampf und die Verschärfung von Hitlers Judenhass u. a. zur Genese von H. Erlösung-/Radikalantisemitismus geschrieben. Töppel referiert dort entsprechend nochmals die Belege/Nicht-Belege für einen ausgeprägten Radikalantisemitismus bei H. vor 1919.

Töppels Artikel ist übrigens kostenfrei online mit Autorennamen und Titel abrufbar.

Wie schon divers angemerkt und zuletzt in Beitrag 33, davor in #17 + 20, nochmals aufgeführt, hat Othmar Plöckinger mit Unter Soldaten und Agitatoren. Hitlers prägende Jahre im deutschen Militär (2013) eine selten gründliche und substanzielle wie umfassend wissenschaftliche Arbeit geleistet zur H.'s Antisemitismus, in welcher er, m.E. nach bislang wissenschaftlich nicht widerlegt, zeigen konnte, dass H.'s. eliminatorischer Radikalantisemitismus/Erlösungsantisemitismus (Saul Friedländer) frühestens ab 1919 in einem weiter verbreiteten, fast inflationären auftretenden Nachkriegs-Radikalantisemitismus besonders in Bayern bzw. München 'entstanden' ist.
 
Einer der Herausgeber und Editoren der kommentierten Neuausgabe von M. Krampf von H. , der Historiker Roman Töppel, kommt zu einem ähnlichen Fazit, wie von mir dargestellt, was die Entstehung/Erscheinung von H.'s Erlösungsantisemitismus/ eliminatorischen Radikalantisemitismus /apokalyptische Endzeit-Vorstellung betrifft.

1. Ich kann mich nicht erinnern, dass im Forum die These vertreten wurde, dass er in seiner Wiener Zeit ein überzeugter, oder "gefestigter" "eliminatorischer" Antisemit gewesen sei. Und damit zusammenhängend ein "geschlossenes antisemitische" Weltbild gehabt hätte. Das ist einfach schlichtweg falsch und die Argumentation war deutlich differenzierter.

Dennoch ist auch einzuschränken, dass Hitler in Wien, in einer der antijüdischsten Städte Europas (Kershaw, S. 62), kein extremer Antisemit war. (Zentner, S. 46) und Kershaw schreibt, dass es keine verläßliche zeitgenössische Bestätigung für einen über das normale Maß hinausgehenden, also „paranoiden Antisemitismus“ gab (Kershaw, S. 61-65). Ähnlich Ulrich der schreibt:“by no means did he have a closed world view or strict anti-Semitic convictions…Hitler - was anything but a finished product by the end of his Vienna years.“ (Ulrich, 2. The Vienna Years)

2. Toeppel bietet in seinem Beitrag einen subjektiven Überblick zum Forschungsstand. Und versucht, so mein Eindruck, einen netzwerkzentrierten Narrativ zu etablieren. Es bleiben neben wissenssoziologischen Unklarheiten des "Erkenntnisinteresses" aber auch gravierende Fragen zur Interpretation der vorgetragenen Belege.

"Er hatte die ,Judenfrage‘ nunmehr als Mittel entdeckt, mit dem sich Politik und Propaganda gestalten ließen; er war aber zugleich auch selbst zum überzeugten Jünger der antisemitischen Lehre geworden. Denn die vermeintliche ,Schuld‘ der Juden, über die damals zahllose Pamphlete verfasst, bot ihm eine bequeme Erklärung für sein bisheriges eigenes Scheitern. Nicht bereits in seiner Wiener Zeit, wie frühere Hitler-Biografen angenommen haben, sondern erst im antisemitischen Münchner Milieu nach dem Ersten Weltkrieg war Hitler zum Judenhasser geworden."

Im Kern bietet Toeppel als Motivation für den sich verschärfenden Antisemitismus von Hitler in München, eine psychologische Erklärung an, die meines Erachtens "schlicht" ist und auch nicht wirklich erklärt wird.

3. Andererseits: Es sind bei Toeppel weder seriöse Annahmen über die politische Sozialisation vorhanden, die sich mit der Wirkung der unterschiedlichen Stationen im Rahmen des Lebenslaufs beschäftigen (vgl. Kohli, Krappmann u.a.), keine Bezüge zu entwicklungspsychologischen Modellen (z.B. Erickson: Identität und Lebenszyklus etc.) noch hat er sich offensichtlich Gedanken über eine sozialpsychologische Erklärung der Entwicklung von "Glaubenssystemen" oder kognitionspsychologischen Annahmen gemacht.

Ich habe es mir geschenkt, bei den "geschlossenen Weltbildern" von Hitler, die in vorherigen Beiträgen schon angeklungen sind, einzuhaken. Und die Nachfrage zu stellen, welche theoretischen Modellvorstellungen damit verbunden sind, um ihre Genese, ihre Konsistenz, ihre Abhängigkeit vom sozialen Umfeld und ihren problematischen Zusammenhang zwischen Weltbild und Handeln in den Griff zu bekommen.

Vorbei die Zeiten als ein Wehler (Geschichte und Psychoanalyse oder Geschichte und Soziologie) noch systematisch die Konstrukte durchdachte, die zur Erklärung herangezogen werden.

Die Kritik an Toeppel und anderen ist, dass sie sich als Historiker keine Mühe machen, ihre Interpretationsrahmen für die Entwicklung von Hitler über andere Disziplinen zu fundieren. Im umgekehrten Sinne kann man aber auch formulieren, dass es keine Sozialwissenschaftler gibt, die historisch fundiert, die Genese des Antisemiten Hitler in einem sinnvollen Kontext zu erklären.

Eine alternative Darstellung (von 2018) in den folgenden Threads zur Erinnerung
 
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