Wie lebten Schwerhörige Kinder zur Zeit des Nationalsozialismus ?

Rikadea

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Hallo miteinander !!! :winke:

Ich habe heute einem Referat gelauscht zu Thema: Das Leben von Kindern im Nationalsozialismus.
Mit einer Freundin habe ich mich über das Referat unterhalten und dabei hat sie mir eine Frage gestellt die wir uns beide nicht beantworten konnten. Auch unser Geschichtslehrer konnte uns da nicht helfen.
Vielleicht kann mir ja irgendjemand da draussen die Frage beantworten. Undzwar lautet die Frage wie folgt:

Wie lebten Schwerhörige Kinder zur Zeit des Nationalsozialismus ?

Bin wirklich neugierig ob jemand uns die Frage beantworten kann.

Liebe Grüße von
Rikadea-Sophie Hakura & Aylina Hayuki :friends:
 
Ein Dokument dieser Zeit ist der biografische Roman "Lautlose Welt" von Maria Wallisfurth.
Die Autorin lebte als Kind gehörloser Eltern in Aachen und in der Eifel, passt von daher nicht ganz zu eurer Frage, aber man erfährt so einiges über die Drangsalierungen behinderter Menschen während des dritten Reiches.
 
keine relativierung der verbrechen an behinderten im nationalsozialismus, aber ein paar anmerkungen:
  • nicht jeder behinderte war im nationalsozialismus von zwangssterilisierung oder gar tötung bedroht.
  • der eugenik-gedanke geht nicht auf die nazis zurück, entsprechende gesetzesentwürfe gab es schon in der weimarer republik. in skandinavien und in den usa (auf bundesstaatsebene) gab es ebenefalls gesetze zur sterilisierung behinderter (bzw. krimineller)!
  • und auch vor 1933 lebten behinderte menschen noch nicht so, wie es heute möglich ist
 

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keine relativierung der verbrechen an behinderten im nationalsozialismus, aber ein paar anmerkungen:
  • nicht jeder behinderte war im nationalsozialismus von zwangssterilisierung oder gar tötung bedroht.
  • der eugenik-gedanke geht nicht auf die nazis zurück, entsprechende gesetzesentwürfe gab es schon in der weimarer republik. in skandinavien und in den usa (auf bundesstaatsebene) gab es ebenefalls gesetze zur sterilisierung behinderter (bzw. krimineller)!
  • und auch vor 1933 lebten behinderte menschen noch nicht so, wie es heute möglich ist

Ich empfinde die Beanteortung dieser Frage als etwas schwierig, da ich selbst an einer Innenohrschwerhörigkeit leide und ein Hörgerat tragen müsste, von dem ich aber offengestanden, selten gebrauch mache.

Ich denke, ein Schwerhöriger lebte zu dieser Zeit nicht anders, als heute.
Man wird belächelt, wenn man eine Frage nicht versteht und zu allem überfluss auch noch mit dem Kopf nickt.
Ich denke, die nationalsozialisten hatten ein anderes Verständnis zu behinderten doch, dass sie gleich einem Schwerhörigen an den Prnger stellten, kann ich mir nicht denken. ebenso hätte das ja auch mit brillenträgern passieren können. Eben Schlecht sehende.
Ab welcher Stufe der "Behinderung", galt man denn zu dieser Zeit als körperlich behindert? Diese Frage würde mich auch interessiern.
 
Zuletzt bearbeitet:
Dreisatz-Rechenaufgaben

Die Einübung in die ökonomische Notwendigkeit, "unnütze Esser" zu beseitigen, wurde den Schülern z.B. in Dreisatz-Rechenaufgaben nahegebracht:

"Der jährliche Aufwand des Staates für einen Geisteskranken beträgt im Durchschnitt 766 RM, ein Tauber oder Blinder kostet 615 RM, ein Krüppel 600 RM. In geschlossenen Anstalten werden auf Staatskosten versorgt: 167.000 Geisteskranke, 8.300 Taube und Blinde, 20.600 Krüppel.
Wieviele Mill. RM kosten diese Gebrechlichen jährlich? Wieviele erbgesunde Familien könnten bei 60 RM durchschnittlicher Monatsmiete für diese Summe untergebracht werden?"
(entnommen aus: Flessau, Kurt-Ingo: Schule der Diktatur. Lehrpläne und Schulbücher des Nationalsozialismus. Frankfurt/ M. 1984, S. 201)

http://www.sonderpaedagoge.de/geschichte/deutschland/ns/quellen.htm
 
Die Einübung in die ökonomische Notwendigkeit, "unnütze Esser" zu beseitigen, wurde den Schülern z.B. in Dreisatz-Rechenaufgaben nahegebracht:

"Der jährliche Aufwand des Staates für einen Geisteskranken beträgt im Durchschnitt 766 RM, ein Tauber oder Blinder kostet 615 RM, ein Krüppel 600 RM. In geschlossenen Anstalten werden auf Staatskosten versorgt: 167.000 Geisteskranke, 8.300 Taube und Blinde, 20.600 Krüppel.
Wieviele Mill. RM kosten diese Gebrechlichen jährlich? Wieviele erbgesunde Familien könnten bei 60 RM durchschnittlicher Monatsmiete für diese Summe untergebracht werden?"
(entnommen aus: Flessau, Kurt-Ingo: Schule der Diktatur. Lehrpläne und Schulbücher des Nationalsozialismus. Frankfurt/ M. 1984, S. 201)

http://www.sonderpaedagoge.de/geschichte/deutschland/ns/quellen.htm

Nur, Dass hier nicht von tauben Menschen geredet wurde, sondern von "ganz normalen Schwerhörigen."
Vieleicht haben die Fragesteller da auch etwas verwechselt.

Noch mal meine Frage.
Wäre der Reichsführer SS Himmler ( er war ja Brillenträger) als "Unart" eingestuft worden, wenn er blind gewesen wäre?
Würde ich als Innenohrschwerhöriger ( Ich bin ja nicht taub) so eingestuft worden?

Mir kommt es auf das Denkschema an. Auch heute denken noch manche Menschen, Schwerhörige wären dumm, nur, weil sie nicht alles gleich verstehen.
 
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Zum Thema "Schwerhörige im 3. Reich" habe ich was gefunden.

Auszug:

Die Sehschwachen distanzierten sich wiederum von den Blinden, die Schwerhörigen von den Gehörlosen. So wurde 1936 eine eigenen Schwerhörigen-HJ gegründet. Im Hörbehindertenblatt "Der Kämpfer", das sich im Untertitel "Deutsche Zeitschrift für Schwerhörige und Ertaubte" nannte, hatte schon 1934 eine Betroffene den Nachweis zu führen versucht, Schwerhörige seien bessere Nazis; "Der Nationalsozialismus soll aus der Tiefe erfaßt werden, ... In dieser Hinsicht ist aber der Schwerhörige dem Guthörenden oft weit voraus."


Quelle: http://www.bizeps.or.at/broschueren/leben/


Gruß

Jacobum
 
Hallöchen !!! :winke:

*staun* So viele Beiträge, Dankeschön !!! :)

@florian17160: Ich bin selber Hörgeräteträger und kann dir nur dazu raten sie auch zu benutzen. :) Aber das gehört jetzt hier nicht her.

Ich hätte gedacht das sie, genauso wie die geistigbehinderten Kinder, als Minderwertig betrachtet wurden und man sie deshalb nicht besonders "freundlich" behandelt hat. Allerdings klingt dein Agument mit der Brille einleuchtend. Wenn sie auch eine Zeitung hatten und es extra eine Schwerhörigen-Hitlerjungend gab, dann waren sie doch ein Teil der damaligen Zeit. :grübel:
Ich schau mir aber auf jedenfall mal die geschickten Links an.

Liebe Grüße
Rikadea *immer noch :grübel: *
 
Ich habe noch was zum Thema gefunden:

http://www.schwerhoerige-dresden.de/datei/Geschichte.pdf

Auszug:
"Volkskameradschaft - Jugend rückt vor! - Unter diesem Thema stand unser Heimatabend
im März. Unsere schwerhörige Hitler-Jugend und Jungvolk machten uns mit ihren
Aufgaben und Zielen bekannt. Kameradschaftsführer Wilhelm schlug mit seinen
knappen, aber sachlichen Worten die Brücke zu den Mitgliedern der Ortsgruppe. Herr
Schwerhörigenoberlehrer Leichsenring sprach über die Ziele und den Zweck der
schwerhörigen Hitler-Jugend und erklärte die Gliederungen derselben, ferner die vielseitige
Ausbildung, wie Geländedienst, Heimabende, Wanderschaft und Fahrt und
Zeltlagerleben. - "Zackig" war alles, was uns die weiteren Darbietungen brachten, so
v.a. der Mundharmonikachor, die Sprechchöre und die Spiele auf den Blockflöten. Von
der Marine-Hitlerjugend erzählte in lebensfrischer Art Wolfgang Hanspach. Mit einem
dreifachen "Sieg Heil" auf den Führer schloß er seine Ausführungen. Jugend rückt vor. -
Das Erlebnis dieses Abends zeigt uns, daß diese Jugend eine würdige Nachfolgerschaft
in unserer Bewegung sein wird und die ihr einmal später gestellten Aufgaben
meistern wird.
("Der Kämpfer", April 1935)

Gruß

Jacobum
 
Ich muss das noch mal aufgreifen, weil mir gerade jemand eine pn schickte.
Und will gleich noch eine Frage stellen.

Über den bösen Nationalsozialismus will ich gar nicht reden. Aber warum glauben einige Leute, alles, was nicht "ganz normal" früher war, wurde ausgemerzt? So war das doch gar nicht.
Muss man denn generell sagen, die Leute zwischen 33 und 45 in Deutschland waren Bestien? Wer kommt denn nur auf sowas.
 
Zuletzt bearbeitet:
...warum glauben einige Leute, alles, was nicht "ganz normal" früher war, wurde ausgemerzt? So war das doch gar nicht.
Muss man denn generell sagen, die Leute zwischen 33 und 45 in Deutschland waren Bestien? Wer kommt denn nur auf sowas.
Kann das daran liegen, weil das in den Medien immer so dargestellt wird, daß der gesamte Staatsapparat nur auf Vernichtung von allem aus war, was irgendwie anders war?
(War jetzt der erste Gedanke beim lesen.)
 
Man sollte herausstellen, was die Nationalsozialisten als "lebensunwert" definierten.
Bekannte humpelnde kinderreiche Väter oder Männer mit gestörten Sexualphantasien wurden nicht dazugerechnet.
Dann all die Männer, die an der Front Hoden, Penis, Finger, Beine, Hände oder Ohren, Nasen, Augen oder ihr Gedächtnis verloren.

Dass behinderte Menschen unter der Führung der NSDAP und deren "reiner Rassenlehre" keine Hilfe bekamen, dürfte wohl verständlich sein. Anarchronistische Ausnahmen siehe oben.
Sie lebten isoliert. Manche Landfamilien hat sie weitestgehend abgeschirmt. In der Stadt wird es nicht anders gewesen sein.
 
Dass behinderte Menschen unter der Führung der NSDAP und deren "reiner Rassenlehre" keine Hilfe bekamen, dürfte wohl verständlich sein. .


Nun darfst du aber nicht vergessen, das es sehr wohl einen Unterschied zwischen parteilich angeordnetem Verhalten und realem Leben gab.
Schliesslich war nicht überall eine Kamera dabei. Und wir sehen ja heute nur die Bilder, die damals wert waren, gesehen zu werden.
 
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ist es mit dem 3. Reich nicht so, wie mit vielem, was einem selbst nur aus Erzählungen bekannt ist?

Mittlerweile gibt es nur noch ganz wenig Menschen, die tatsächlich selbst diese Zeit erlebt haben.

Die Mehrheit muss sich auf Berichte verlassen. Und da wurde halt enorm viel aufgebauscht. So stellt sich oft das 3. Reich tatsächlich als eine Aneinanderreihung von bösen, anormalen Monstercharakteren da.

Und das Ausfiltern von Tatsache und Fiktion fällt schwer.
 
Nun darfst du aber nicht vergessen, das es sehr wohl einen Unterschied zwischen parteilich angeordnetem Verhalten und realem Leben gab.
Schliesslich war nicht überall eine Kamera dabei. Und wir sehen ja heute nur die Bilder, die damals wert waren, gesehen zu werden.
Da stimme ich dir zu. Es wird in Dokus auch immer gezeigt, wie die Leute ab 1933 in Massen Hitler zujubeln. Wurde eigentlich irgendwann auch nur ansatzweise untersucht, wieviele Deutsche auch nach 1933 noch gegen Hitler waren? Nur mal zur Erinnerung: in der letzten (halbwegs) demokratischen Reichstags-Wahl im März 1933 erreichte die NSDAP knapp 44 % der Stimmen - trotz beginnender Repressionen Andersdenkender durch die SA.
:grübel:
 
Nun darfst du aber nicht vergessen, das es sehr wohl einen Unterschied zwischen parteilich angeordnetem Verhalten und realem Leben gab.
Schliesslich war nicht überall eine Kamera dabei. Und wir sehen ja heute nur die Bilder, die damals wert waren, gesehen zu werden.

Ich vergesse nicht.
Deshalb habe ich ja geschrieben, dass die Regierung keine staatliche Hilfe für Behinderte zukommen liess.
Ich habe auch geschrieben, dass die Verwandten der Behinderten ihre Behinderten nicht ihrem Schicksal überliessen (ins Heim abschoben und somit der Vernichtung ausliefern) sondern in ihren Familien behielten. Das aber eben weitestgehend isoliert.

@flori was hast du für Erinnerungen an die Behinderten in der Öffentlichkeit der DDR? Welchen öffentlichen Stellenwert hatten die Behinderten in der DDR?
Ich lebe in einer behinderten Stadt, wo schon zu DDR-Zeiten eine riesige Behindertenschule mit allem Pipapo existierte. Allerdings der Unterschied zu damals ist, heute begegne ich den Behinderten in Bussen, auf der Straße, im Laden, auf Festen, also überall. Sie sind mittendrin und alltäglich.
 
@flori was hast du für Erinnerungen an die Behinderten in der Öffentlichkeit der DDR? Welchen öffentlichen Stellenwert hatten die Behinderten in der DDR?
Ich lebe in einer behinderten Stadt, wo schon zu DDR-Zeiten eine riesige Behindertenschule mit allem Pipapo existierte. Allerdings der Unterschied zu damals ist, heute begegne ich den Behinderten in Bussen, auf der Straße, im Laden, auf Festen, also überall. Sie sind mittendrin und alltäglich.


Lange her.
Ich habe einen älteren Bruder, der am Down Syndrom leidet. Früher sagte man "Mongoloid"
Man riet meiner Mutter ihn in einem Heim zu schicken, was sie auch tat.
Meine Besuche dort glichen einem Albtraum. Da war er (damals 20) auf einem Zimmer mit einem 70 jährigen Alzheimerkranken.
Erst nach der Wende war es besser. Er kam in einem freien Pflegeheim mit gleichaltrigen und selber Krankheit zusammen.
Und er durfte entlich mal sagen, ich gehe jetzt alleine spazieren.

Eines werde ich allerdings nie vergessen.
Die Frage der Heimleiterin nach der Wende, wer das nun bezahlen soll?
Ich war damals noch schüchtern. Heute hätte sie was zu hören von mir bekommen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Weil verlinkte Artikel in der Regel nicht wirklich gelesen werden, kopiere ich den gesamten Artikel von shoa.de hier rein. Quelle ist: Shoa.de - Nicht minderwertig, sondern mindersinnig - von Malin Büttner

Nicht minderwertig, sondern mindersinnig - von Malin Büttner
Geschrieben von Wolfgang Gippert

Malin Büttner: Nicht minderwertig, sondern mindersinnig... Der Bann G für Gehörgeschädigte in der Hitler Jugend. Frankfurt/Main 2005.


Das Schicksal von Menschen mit Behinderung im ‚Dritten Reich’ ist erst spät aufgearbeitet und bisher nahezu ausnahmslos als ‚Opfergeschichte’ geschrieben worden. Der wissenschaftliche Fokus der seit den 1980er Jahren erschienenen Studien richtet sich vor allem auf die Maßnahmen des NS-Staates zur Aussonderung, Zwangssterilisierung und Vernichtung des so genannten ‚lebensunwerten Lebens’ [1]. Ebenfalls zögerlich begann die Erziehungswissenschaft etwa im gleichen Zeitraum, sich mit der Rolle der Sonderpädagogik im Nationalsozialismus auseinander zu setzen. Hier galt es besonders nach Traditionen und Kontinuitätslinien im pädagogischen Diskurs um ‚Rassehygiene’ und ‚Eugenik’ zu fragen, die Funktion von Hilfsschulen, Heil- und Pflegeanstalten im nationalsozialistischen Erfassungs- und ‚Auslesesystem’ zu beleuchten sowie die Rolle, die Handlungsmöglichkeiten und -motive von Sonderpädagogen in den Blick zu nehmen – etwa von Hilfsschullehrerinnen und -lehrern, Erzieherinnen und Erziehern oder dem Pflegepersonal [2].

Mit ihrer Studie „Nicht minderwertig, sondern mindersinnig“ eröffnet Malin Büttner ein völlig neues Forschungsfeld. Ist schon das Wissen um die reine Existenz von Sonderformationen für Blinde (B), Gehörgeschädigte (G) und Körperbehinderte (K) in der Hitlerjugend ein weitgehendes Novum, so ist eine wissenschaftliche Aufarbeitung zur Geschichte dieser Einheiten bislang nicht einmal in Ansätzen erfolgt. Eine umfassende Monographie zur Lebenslage der deutschen Gehörlosen wie zur Geschichte ihrer Organisationen zwischen 1933 und 1945 steht ebenfalls aus. Alleine deshalb gebührt der Studie von Büttner ein großes Verdienst.

Bei der Studie handelt es sich augenscheinlich um eine Magisterarbeit, die im Schnittfeld von Geschichte und Kommunikationswissenschaften verfasst wurde. Entsprechend liegt der Fokus der Untersuchung „[...] auf der Geschichte des Bannes G und der nationalsozialistischen Propagandaarbeit sowohl für als auch gegen gehörlose Menschen“ (13). Büttner konstatiert allerdings, dass offizielles Aktenmaterial „so gut wie vollständig verloren“ und die Quellenlage deshalb „äußerst kritisch“ (15) sei. Im Wesentlichen stützt sie sich auf zeitgenössische Veröffentlichungen – wie etwa „Die deutsche Sonderschule“ und „Die Quelle“, eine Monatsschrift, die als offizielles Presseorgan des ‚Bannes G’ für Gehörlose in der Hitlerjugend herausgegeben wurde. Außerdem liegen Zeitzeugenaussagen ehemaliger Teilnehmer der HJ-Sonderformation zur Auswertung vor. Erkenntnisleitend stellt Büttner die Frage, „[...] wie sich die Existenz des Sonderbannes mit der bestehenden offiziellen Staatspropaganda zur Stellung von ‚Minderwertigen’ innerhalb der ‚Volksgemeinschaft’ vertrug“ (15).

Die rund 120 Seiten Text umfassende Studie gliedert sich in sechs Hauptteile mit insgesamt 47 Unterkapiteln. Das verweist auf eine ungünstige Anlage der Untersuchung hinsichtlich der Relation zwischen der Anzahl der bearbeiteten Aspekte und dem wünschenswerten, materialgesättigten Umfang der einzelnen Punkte. Der von seiner Überschrift als grundlegendes Einführungskapitel in den Hauptteil konzipierte Abschnitt „Gehörlose im ‚Dritten Reich’“ etwa erschöpft sich in einer kurzen Skizze der gesetzlichen Grundlagen der nationalsozialistischen Behindertenpolitik (Kap. 2, 19-25). Wohl erfährt der Leser, dass in Folge des ‚Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses’ vom 14. Juli 1933 schätzungsweise 15 000 gehörlose Menschen in Deutschland (zwangs)sterilisiert und etwa 1 600 Gehörlose im Zuge des so genannten Euthanasieprogramms ‚T 4’ ermordet wurden. Weitere Hinweise zur bisher weitgehend unerforschten Lebenssituation der etwa 40 000 bis 50 000 Gehörlosen im ‚Deutschen Reich’ vermisst der Leser allerdings.

Statt dessen wechselt Büttner in den folgenden beiden Kapiteln (Kap. 3 und Kap. 4) das Feld und verortet ‚Rassenhygiene’ im Kontext nationalsozialistischer Ideologie und Propaganda. Hier erwartet den Leser, der mit dem Thema einigermaßen vertraut ist, auf wenigen Seiten Bekanntes. Unter Rückgriff auf einschlägige Sekundärliteratur und mit der Benennung der bekanntesten Vertreter eugenischen Denkens wird von der Autorin zunächst die Ideengeschichte der ‚Rassenhygiene’ im Kaiserreich und in der Weimarer Republik skizziert (25-29), um sodann – ebenfalls skizzenhaft und mit einer ausgesprochenen Hitlerzentrik – ‚rassenhygienische’ Argumentationen in der nationalsozialistischen Weltanschauung und ihren Vermittlungsinstanzen auszumachen (31-38). Ein Bezug zu den Gehörlosen bleibt in diesem Themenkomplex ausgespart.

Verspricht Büttner mit den Überschriften der Kapitel 5 („Propaganda gegen Gehörlose“, 39-51) und 6 („Propaganda für Gehörlose“, 53-72) sich wieder ihrem Klientel zuzuwenden, kann der Leser bei der weiteren Lektüre enttäuscht sein. Die Autorin zeigt zwar die verschiedenen Facetten, Inhalte und Argumentationsweisen der ‚rassenhygienischen’ Propaganda auf – etwa die Metapher der ‚Heilung des Volkskörpers’, ökonomische, ‚humanitäre’ sowie ethisch-religiös ausgerichtete Argumentationen – und belegt deren lebensweltliche Verankerung mit anschaulichen Beispielen (Kinofilme, Mathematikunterricht, Broschüren etc.). Diese Propagandamaßnahmen wandten sich jedoch nicht ausschließlich und zumeist auch nicht ausdrücklich nur gegen gehörlose Menschen, sondern sie richteten sich gegen jedwede, vermeintlich vererbbare ‚Volksschädigung’: ‚Geisteskrankheit’, ‚Verbrechertum’ oder Alkoholismus. Darauf weist Büttner auch zurecht hin. Propagandamaßnahmen, die sich gezielt gegen Gehörlose richteten – so impliziert es die Kapitelüberschrift –, werden nicht aufgezeigt. Indessen vertritt Büttner die durchaus strittige These, die ‚rassenhygienische’ Propaganda hätte zu einem gesellschaftlich und individuell vorhandenen, „geheimen Euthanasiewunsch“ geführt, „[...] der es für weite Teile der Bevölkerung möglich machte, die rassenhygienischen Taten des Staates zu bejahen oder zumindest still hinzunehmen“ (51).

Zu jenen Berufsgruppen, die den ‚rassehygienischen’ Vorstellungen des NS-Staates durchaus nicht abgeneigt gegenüber gestanden hätten, rechnet Büttner die Lehrkräfte an den Taubstummenschulen. Ihnen – wie der Sonderschullehrerschaft generell – schreibt sie eine „starke Affinität zu völkisch-nationalistischem und erbbiologischem Denken“ (57) zu. Denn mit der ‚Machtergreifung’ der Nationalsozialisten sei es im Bereich der Sonder- und damit auch der Gehörlosenpädagogik zu einem utilitaristischen Paradigmenwechsel gekommen. Um ihr Weiterbestehen zu sichern, hätten die Taubstummenschulen und mit ihnen die Lehrerschaft eine Verschiebung ihrer Zielsetzungen vornehmen und die „Brauchbarmachung“ (61) ihrer Schützlinge in den Mittelpunkt stellen müssen. Weiterhin sei die Vermittlung der nationalsozialistischen ‚Erb- und Rassenlehre’ als wichtige Aufgabe der Gehörlosenschulen in den Vordergrund getreten, „[...] um bei den Schülern und ihren Eltern Verständnis für die rassenpolitischen Maßnahmen der Regierung zu wecken“ (65). Die Taubstummenlehrerschaft – so Büttners Einschätzung – könne deshalb zu den „eifrigsten Propagandisten der NS-Sterilisierungspolitik“ (57) gerechnet werden. Allerdings habe sich die ‚rassenhygienische’ Propaganda an Gehörlosenschulen in ihrer Wirkung als ambivalent erwiesen: Während das Ziel der Selbstanzeige zur Sterilisation keineswegs erreicht wurde – die operativen Eingriffe fanden vor allem aufgrund polizeilichen Zwangs statt –, sei ein großer Teil der deutschen Gehörlosen „trotz der stark behindertenfeindlichen Politik der NSDAP“ (71) Anhänger der nationalsozialistischen Weltanschauung gewesen.

Im letzten und umfangreichsten Kapitel 7 (73-118) wendet sich Büttner schließlich ihrem angekündigten Thema zu: dem ‚Bann G’ für Gehörgeschädigte in der Hitler-Jugend. Blieben bei der angestrebten ‚Erfassung’ der deutschen Jugend durch den NS-Staat gehörlose Kinder und Jugendliche zunächst ausgeschlossen, so ist es auf das Engagement der in einer eigenen ‚Reichsfachschaft’ organisierten Taubstummenlehrer zurückzuführen, dass mit einem Erlass der Reichsjugendführung vom 13. April 1934 die Aufnahme Gehörloser in die Hitler-Jugend grundsätzlich genehmigt wurde. Infolgedessen kam es an einer Vielzahl von Taubstummenschulen und –anstalten zur Aufstellung gehörloser HJ-Einheiten, die schließlich im Dezember 1934 in einem eigenen, reichsweiten ‚Bann G’ zusammengeschlossen wurden.

Im Gegensatz zur ‚hörenden’ HJ blieb der ‚Bann G’ organisatorisch fest mit den Gehörlosenschulen verbunden: die HJ-Führer auf höheren Ebenen „waren allesamt Taubstummenoberlehrer“ (83). Bei der Aufnahme in die Sondereinheit sollte von offizieller Seite her nach strengen Auswahlkriterien wie ‚geistige Vollwertigkeit’ und ‚körperliche Gesundheit’ verfahren werden. Nach Zeitzeugenberichten hätten in der Praxis allerdings kaum Aufnahmebeschränkungen bestanden. Darauf könnte auch der relativ hohe Organisationsgrad der gehörlosen Schulkinder im ‚Bann G’ zurückzuführen sein, den Büttner feststellt: Zeitgenössischen Angaben zufolge hatte der ‚Reichsbann’ mit seinen rund 60 Standorten etwa 4 000 Mitglieder zu verzeichnen – bei reichsweit 5183 gehörlosen Schülern (90).

Der ‚Dienst’ im ‚Bann G’ ähnelte im Wesentlichen dem der hörenden HJ, unterschied sich aber von jenem durch einige Besonderheiten. Bei den „quasi-militärischen Ordnungsübungen“ (95) etwa sollte der Eindruck vermieden werden, die gehörlosen Kinder trainierten auf ein künftiges Soldatendasein hin, denn Gehörlose wurden grundsätzlich als nicht wehrfähig eingestuft und ausgemustert. Besonderheiten ergaben sich auch bei der ‚weltanschaulichen Schulung’ und bei den Versuchen, Gemeinschaftsbildung über den emotionalen Bereich zu stiften. Vorträge und ‚Führerreden’ waren als Propagandainstrumente für Gehörlose naturgemäß ebenso wenig geeignet wie gemeinsames Singen als ein zentraler Bestandteil der HJ-Erziehung. Gehörlose Kinder und Jugendliche sollten deshalb durch „[...] visuelle Anreize oder praktische Handlungen gewonnen werden“ (101). Die „Erziehung zum Erlebnis“ (ebd.) durch Aufmärsche, Festtagsinszenierungen, NS-Insignien, symbolische Handlungen, Lichtbilder, Fotografien und Filme habe deshalb in den gehörlosenspezifischen HJ-Aktivitäten eine besonders wichtige Rolle gespielt.

Mit der Zeitschrift „Die Quelle“ verfügte der ‚Bann G’ zudem über ein eigenes Publikationsorgan für die gehörlosen HJ-Mitglieder und damit über eine weitere Möglichkeit propagandistischer Einflussnahme – etwa durch Hitlerzitate, Artikel zu den einschlägigen Schulungsthemen und Verhaltensbelehrungen. Beiträge zu ‚erbbiologischen’ und ‚rassenhygienischen’ Themen fänden sich in dem Blatt überraschender Weise nur selten.

Die Hitlerjugend, so resümiert Büttner, habe auf viele gehörlose Kinder eine große Faszination ausgeübt, und die Anerkennung der Gehörlosen in der HJ „[...] bedeutete gleichzeitig die wichtige Einreihung in die ‚Volksgemeinschaft’ und damit ein Stück ‚Normalität’ im Dritten Reich“ (118). Zweifellos widersprach eine Sonderformation für Gehörlose dem offiziellen Propagandakurs der NSDAP. Die Integration gehörloser Kinder war auch nicht durch den Staat forciert, sondern durch einen Teil der Taubstummenlehrerschaft eingefordert worden, die damit eigene, berufsständische Interessen verfolgte. Der Sonderbann habe sich zu einem Feld „spezieller Nischenpropaganda“ entwickelt, deren Ziel es gewesen sei, die Gehörlosen von der vermeintlichen „Minderwertigkeit ihrer Existenz“ und der Notwendigkeit der Sterilisation aus „Pflichtgefühl gegenüber der ‚Volksgemeinschaft’“ zu überzeugen (123). Die Indoktrination hätte bei den Gehörlosen in zweifacher Weise Spuren hinterlassen: Einerseits würden die operativen Eingriffe bis in die Gegenwart hinein tabuisiert, andererseits würde die Erinnerung an die HJ von vielen Gehörlosen „zärtlich-nostalgisch gepflegt“ (125).

Es ist ein großes Verdienst Büttners, dass sie mit ihrer Studie zu gehörgeschädigten Menschen in der NS-Zeit ein bisher weitgehend unbearbeitetes und auch unbekanntes Forschungsfeld betreten hat – auch wenn mit ihrer Arbeit erst ‚zaghafte Schritte’ unternommen worden sind. Studierende, die sich einführend oder auch grundständig mit dem Komplex ‚Sonderpädagogik’ bzw. ‚Behinderte im Nationalsozialismus’ beschäftigen möchten, sollten weiterführende Fachliteratur zur Kenntnis nehmen, die im Anhang der Untersuchung aufgeführt ist. Die verhältnismäßig weit ausgreifende Hinführung zu dem im Titel angekündigten Gegenstand – dem ‚Bann G’ in der HJ – erweist sich als ein Grundproblem der Studie. Oftmals geht die thematische Breite auf Kosten einer vertiefenden Darstellung, wenn dies als Maßstab an eine Magisterarbeit angelegt werden darf. Die Konzentration auf das eigentliche Thema hätte eine stärkere Einbindung der Quellen ermöglichen können, vor allem der Mitgliedszeitschrift und der Zeitzeugenaussagen, deren Analyse leider nur am Rande erfolgt. So hinterlässt Büttners lesenswerte Pionierstudie ein Feld, auf dem weitere Forschungen notwendig und wünschenswert sind.

Autor: Wolfgang Gippert (Köln). Erstveröffentlichung in: Erziehungswissenschaftliche Revue 4 (2005), Nr. 6 (Nov./Dez. 2005)



Malin Büttner: Nicht minderwertig, sondern mindersinnig... Der Bann G für Gehörgeschädigte in der Hitler Jugend. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 2005. (139 S.; ISBN 3-631-52882-5; EUR 27,50)



Anmerkungen
[1] vgl. Klee, Ernst: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Frankfurt a.M. 1983.

[2] vgl. Ellger-Rüttgardt, Sieglind: Die Hilfsschule im Nationalsozialismus und ihre Erforschung durch die Behindertenpädagogik. In: Keim, Wolfgang (Hg.): Pädagogen und Pädagogik im Nationalsozialismus. Frankfurt a.M. 1988, S. 129-145.
 
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