Tanzgeschichte

G

Gast

Gast
huhu

wir wollten fragen ob ihr uns einen überblick über die epochen der tanzgeschichte oder die allgemeinen epochen geben könnt.

bye
 
huhu

wir wollten fragen ob ihr uns einen überblick über die epochen der tanzgeschichte oder die allgemeinen epochen geben könnt.

bye

Welche geographische Gegend? Europa? Indien? China? Australien? Südamerika? Nordamerika (Indianertanzepochen)? etc.
 
Als ich eure Anfrage gestern Nacht las ging ich davon aus, daß ihr die europäische Tanzgeschichte meint. Ich suchte darauf hin meine Kopien heraus und mußte aber leider feststellen, daß ich den Autoren darauf nicht notiert hatte, und daß darin leider ein einige Seiten fehlen. Daher mußte ich erstmal googeln. Zunächst zur Epocheneinteilung, die sich in meinem Buch (unvollständige Kopie) von mutmaßlich Curt Sachs ("Die Weltgeschichte des Tanzes", 1933) findet:

...
Hohes Mittelalter
- Großes Aufflackern der Tanzekstase (Tarantismus, Totentanz)
- Vorminnezeit
- Minnesängerzeit: in dieser Epoche finden sich erste Ansätze zum ("höfischen") Paartanz

15. Jh.
- endgültige Trennung von höfischem und Volkstanz
- Ausbildung einer Tanzlehre

Zeitalter der Gaillarde (1500-1650)
Zeitalter des Menuetts (1650-1750)
Zeitalter des Walzers (1750-1900)
20. Jh.

Nun kurz zu dem Buch, dem ich diese erste Einteilung der Tanzgeschichte wohl entnommen habe: eigentliche geschichtliche Teil ist der zweite. Hier fehlt (nur bei mir) die ganze Vor- und Frühgeschichte, die ich leider nicht vorliegen habe. Vorher gibt es noch einen allgemeinen Teil über Bewegungen, der vornehmlich ethnologisch orientiert ist. Das Buch ist soweit ganz gut zu lesen - an manchen Stellen, darf man nur nicht vergessen, wann es geschrieben wurde. Es müßte auch Neudrucke aus den 90er Jahren geben.
 
Ich habe mir mal kurzerhand in der Bibliothek ein Buch ausgeliehen: Kurt Perters et al., "Tanzgeschichte. In vier kurzgefaßten Kompendien." Wilhelmhaven: Noetzel, 1991

Zunächst wollte ich den "Abriß der (Tanz-) Geschichte" darin (S.9-21) nach kurzem drüberlesen nicht empfehlen, weil - wie im Titel ausgewiesen - eben zu wenig Tanzgeschichte vorkommt. Aber die Charakterisierung der akzuellen Freizeit-Tanz-Kultur erscheint mir durchaus zuzutreffen:

Kurt Peters (1991) schrieb:
Der Gesellschaftstanz entwickelt sein Turnierspiel zum Schau- und Theatertanz zurück, der Theatertanz verleibt sich thematisch und technisch die Disco ein, der moderne Tanz wird zum esoterischen Rätsel des Kammerspiels, der Volkstanz kümmert in einer volkstümlich Isolation dahin, der Sport glaubt den elementaren Tanz gepachtet zu haben, und eine unübersehbare Anzahl von Kreativitätsangeboten kommt übermeditative Selbstfindung nicht hinaus.

Wie dem auch sei, im diesem Abriß wird nach wie vor auf Sachs "Weltgeschichte des Tanzes" als Standardwerk hingewiesen. Daneben nennt man
- "Der Tanz" von Oskar Brie (Berlin, 1906)
- "Vom Schamenentanz zur Rumba" von Helmuth Günther & Helmuth Schäfer (1959)
Schließlich gibt es noch von Walter Sorell, "Kulturgeschichte des Tanzes, Der Tanz im Spiegel der Zeit" (2. verb. Aufl., Wilhelmshaven 1995; engl. orig. 1981)
Was den Tanz in der Antike betrifft, ist sicherlich nach wie vor Fritz Weege, "Der Tanz in der Antike" (1926) maßgeblich.
 
Zeitalter des Walzers (1750-1900)
1750 halte ich persönlich für etwas arg früh, auch wenn es vielleicht schon Vorformen gab, aber so richtig in Mode, wenngleich immer noch etwas anders als ein Walzer zu Zeiten von Johann Strauß Sohn getanzt, kam er erst um 1800.
Beliebt war in der 2. Hälfte des 18.Jh. immernoch bspw. der Rigaudon, der Bourrée etc.
 
Da muss ich schon hobbybezogen meinen Senf dazugeben:

Beim Walzer ist "Beckenberührung" in der engen Tanzhaltung angesagt, für die damalige Zeit ein Skandal.

"Die symbolische Bedeutung des Walzers ist vergleichbar mit der Bedeutung der Eheringe. In der Tanzhaltung des Walzers bildet das Paar einen geschlossenen Ring. Zwei Hälften - Mann und Frau -die alleine unvollkommen sind, ergänzen sich zum vollkommenen Rund. Der Ring versinnbildlicht Treue, Bindung und Vereinigung des Paares."
Hochzeits-Walzer - Kaffee oder Tee? | SWR.de
 
Beim Walzer ist "Beckenberührung" in der engen Tanzhaltung angesagt, für die damalige Zeit ein Skandal.
Ich hatte mal einen Walzer von um 1800 getanzt und da wurde noch kein Becken berührt, die Arme wurden aber auch deutlich höher gehalten als beim "modernen" Walzer und der Abstand der beiden Tanzpartner auch deutlich größer. Das war natürlich für Leute, welche den modernen Walzer gewohnt waren ungewöhnlich.
 
Man lernt ja nie aus.
Wie haben die dann die Drehungen und Kreisel geschafft? ...

... muss ja erheblich gemütlicher zugegangen sein ...
Das ging auch. Ähnlich wie bei den älteren Tänzen wurden die Kreisel durch die Paare in einem einzigen großen Kreis ausgeführt, d.h. es wurde noch nicht wild durcheinander getanzt, sondern alle in einer Reihe, durch den großen Kreis bzw. durch die Form des Saales ein Oval, war es aber auch kompliziert genug. Außerdem war die typische Drehung mit Kreisel nur ein Element. Sowas wie Englische Kette floss auch mit ein, also es war schon noch recht ähnlich wie die älteren Tanzformen, die Reihentänze wie "Hole in the Wall".
Im Großen und Ganzen entsprach das, was langläufig noch getanzt wurde, im 18.Jh. bis zum Beginn des 19.Jh. noch dem "Contredanse": Contredanse - Wikipédia
wie auch auf Saint-Aubins "Le bal parré" (1770er) zu sehen.
Außerdem wäre für das 19.Jh. noch die Quadrille bedeutend, welche schon im Empire einiges an Beliebtheit genoss.
 
Hier zum Vorgänger:

http://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Tanz
"Wegen der engen Körperhaltung galt der Tanz als unmoralisch. In Bayern wurden 1760 die „walzend und schutzend Tänz“ verboten, ab 1772 galt das Verbot auch im Land Salzburg, da es dabei zu „unzüchtigen Betastungen“ kommen konnte."
 
1750 halte ich persönlich für etwas arg früh, auch wenn es vielleicht schon Vorformen gab, aber so richtig in Mode, wenngleich immer noch etwas anders als ein Walzer zu Zeiten von Johann Strauß Sohn getanzt, kam er erst um 1800.
Beliebt war in der 2. Hälfte des 18.Jh. immernoch bspw. der Rigaudon, der Bourrée etc.

Du hast schon recht: Als Zeitzeugnisse zitiert Curt Sachs aus Goethes Lebensschreibung (Aus meinem Leben, Bd. II. u. III) und einem Brief Mozarts vom 15. Januar 1787. Und Sachs selbst stellt dezidiert fest, daß man "in der bürgerlichen Gesellschaft um 1770 [...] sogar schon der deutsche Walzer [kennt], den man noch nicht allghemein beherrscht, den aber wenigstens die alemannische Bevölkerung des Elsaß meisterhaft tanzt."

Den Contredanse, von dem Goethe und Mozart ebenfalls berichten, bezeichnet der Autor als Zwischenlösung.

Betreffs den Rigaudon und die Bourrée:
Der Raidaudon gilt dem Autoren der "Weltgeschichte des Tanzes" als Sammelbezeichnung südostfranzösischer Volkstänze
Bezüglich der Herkunft der Bourrée soll er nach Auskunft Wikis übrigens geirrt haben. Bourrée - Wikipedia
Beide jedenfalls führt er noch im vorhergehenden Zeitalter des Menuetts auf.
 
huhu

wir wollten fragen ob ihr uns einen überblick über die epochen der tanzgeschichte oder die allgemeinen epochen geben könnt.

bye

Diese Frage ist berechtigt, doch überaus schwierig zu berantworten, weil daraus ein extremes Opus erwachsen müßte ...

Die Tanzforschung macht sich durchaus Gedanken schon über die Tanzweisen der Urmenschen, auch wenn man nicht allzu viel darüber weiß (Tanzsitten bei Naturvölkern allgemein werden gern als zusätzliche Anhaltspunkte vergleichend herangezogen).
Über das Tanzen während der Antike weiß man bereits einiges. In den Tanzbüchern des frühen 18.Jahrhunderts werden z.B. gern die Tanzriten der alten Israeliten erwähnt.

Mittelaltertanz ist bereits eine Disciplin, welche man heutzutage (im Rahmen von Projecten des historischen Tanzes) nachzutanzen versucht ist.

Genauere Informtionen hat man offenbar etwa ab der Renaissancezeit, ab da ja der Buchdruck viele Informationen verbreitet hat, die heute teils erhalten sind. Jedenfalls wissen die Freunde des historischen Renaissancetanzes eine Menge von diesen Tanztechniken zu berichten. Ich selbst habe hie und wieder mal einen Renaissancetanz mitgetanzt, ohne mich näher dafür zu interessieren.

Absolut exacte Informationen bekommt man immerhin bereits ab dem frühen 17. Jahrhundert. Dies ist auch mein Fachgebiet, das ich jahrelang sehr gründlich erkundet habe und dabei auch etliche Schulen durchlaufen.
Ich selber lasse mir inzwischen von keinem modernen Tanzmeister/Lehrer mehr etwas sagen, sondern richte mich rein nach den Originalbüchern der alten Tanzmeister des frühen 18.Jahrhunderts. Der heute gängige 'Barocktanz' entspricht eben nicht ganz 1 : 1 dem "galanten Frantzösischen Tantzen" um 1700.

Vor allem die Menuet (es heißt original tatsächlich "die" : wie im französ. ja auch "la Menuet"!) hat sich lange gehalten - freilich in verspießerter Form (d.h. ohne die jugendliche Frische der Galanteriegeneration um 1700). Im frühen 19.Jahrhundert brachen Volkstänze in die höfischen und gutbürgerlichen Tanzsäle herein, wobei vor allem der Walzer aufkam - neben der heute noch typischen Gesellschaftstanzpaarhaltung im Standartbereich (welche große cörperliche Nähe damals unerhört war!).

Die nächste Revolution kam im frühen 20. Jahrhundert mit den Vorformen des Jazz (z.B. Ragtime) sowie dem Jazz schlechthin (Charleston, Jitterbug, Blues, Jazzdance ect.) - nebst dem Einschwappen südamerikanischer Tänze (Tango, Rumba, Samba ect.). Besonders populär war damals die Kunstform Tap Dance (in Deutschland fälschlich Steptanz/Stepptanz), was ich in jungen Jahren auch gelernt habe.
Eine weitere Veränderung brachte ab den 1960er Jahren die damalige Jugendrevolte: Man wollte einfach drauf los tanzen, ohne sich an Regeln zu halten, was später in der Discobewegung fortgepflanzt wurde - letzlich aber wieder in feste Tanzconventionen mündete (z.B. Discofox). Als virtuose Steigerungsforum darf natürlich der Breakdance nicht vergessen werden.

Richtig helfen könnte ich also in denen Bereichen GALANTER TANZ UM 1700 (Menuet, Gavotte ect.), sowie TAP DANCE (steppen). - Darüber hinaus ist dieses Thema so umfangreich (ich habe die Geschichte jenseits des Abendlandes ja ausgelassen!), daß eine weitere Eingrenzung eigentlich hilfreich wäre. Weshalb ich diesen weiten Themebogen zunächst auch nur anreißen konnte.
 
Zuletzt bearbeitet:
"... Gavotte 3/4 ..."

Habe mich gerade da festgehakt : meinen die etwa, eine Gavotte stehe im ungeraden Tact??? Das kann auf jeden Fall nicht sein. :confused:




Weiter unten heißt es:

Gavotte, Die
Ursprünglich ein altfranzösischer Volkstanz des 16. Jahrhunderts. Nach den Gavots (Bergvolk Frankreichs) benannt. Geradtaktiger Tanz in Reigenform mit Paarlösung, Solotanz und anschließendem Küssen. Seit dem 17./18. Jahrhundert auch Gesellschaftstanz im 2/2 Takt. Durch anspruchsvolle Figuren bereichert, auch in den Bühnentanz aufgenommen. In Amerika zum Gavottewalzer entwickelt.


Die chronologische Zusammenfassung enthält noch mehr Fehler und Schlampereien. Z. B.
BIEDERMEIERZEIT Anfang des 19. Jahrhunderts. Rokoko (Rüschen, zärtlich).
 
BIEDERMEIERZEIT Anfang des 19. Jahrhunderts. Rokoko (Rüschen, zärtlich).

Aua! - Das hatte ich - vermutlich als unterschwelliger Selbstschutz - überlesen.

Von "Gavottewalzer" habe ich noch nie gehört. Das ist dann eigentlich etwas völlig neues und keine Gavotte mehr. Mann hat einfach den Begriff "Gavotte" mit reingebuttert.

Verfremdende Umdeutungen gibt es ja viele. Ich denke etwa an den Begriff JAZZ. In der Musikgeschichte sind teilweise Seichtheiten mit diesem Begriff belegt worden, die man sich heute gar nicht mehr erklären kann. Das führte teilweise sogar dazu, daß die Leute dann dachten, dieses Seichte sei der eigentliche Jazz, um die schwarze Ursprungsmusik völlig zu verdrängen.

Nunja, die Gavotte galt immer als ein besonders lustiger, hüpfender Tanz. Vielleicht ging es später um besonders lustige Walzer?

Daß ROKOKO mit "Rüschen" und vor allem mit "zärtlich" belegt wird, ist schon ein psychologischer Klischeestriptease. Ich klagte ja schon öfters über die Barockballscene, welche nichts anderes im Kopf hätte als zu kokettieren. Als hätten die Höflinge damalis nichts anderes getrieben, als zärtliche Anbändeleien. Man rennt ja vielfach zu solchen Bällen, um amorische Phantasien auszuleben, die vor allem in das höfische Rokoko projekziert werden (Zuckerwatteperücken, unnatürliches Makeup ect.). Als wären die Menschen damals nicht ganz dicht gewesen ...

Einen echten Geschichtsfreund kommt da zwangsläufig das Grausen an.

In der heutigen Folktanzscene gibt es z.B. auch eine Bourree-Form im 3er Tact. Da wird es extrem schwammig. Denn es gibt eigentlich so gut wie keine Quellen über die volkstümlichen Ursprungstänze, welche den später bürgerlichen und höfischen Tänzen zugrunde gelegen hätten. Daher kann man hier auch nicht von volkstümlichen Tanzdefinitionen sprechen. Ich vermute mal, daß BOURREE ein Begriff für Tanzvergnügen schlechthin war. Bauernfeste waren häufig recht laut, derb und excessiv - nicht selten mit Schlägereien.
Übrigens ist dies der Urbedeutung des Wortes Jass/Jazz nicht unähnlich. Denn das bedeutet eigentlich nichts anderes als 'Bummsmusik' - wurde ja anfänglich auch im Rotlichtmilieu geboten.
 
Zuletzt bearbeitet:
Demoiselle, ziecheln se ihre Fasanerie.

Werde das Thema "Vergleich Bourree-Jass" noch anhand von Fachlitteratur vertiefen müssen - neben Jazzfachbüchern denke ich an den von mir bevorzugten Leonhard Frisch: "Frantzösisch=Teutsches Wörterbuch ... andere Auflage ... 1719", weil da bedeutungsmäßig sehr viel im Silbenumfeld "Bour-" zu finden ist. Freue mich schon rechlich drauf ...

Ja, eigentlich brachte ich hier eingangs schon ein Opfer, weil ich mir die rechte Tiefe meines Leib-und-Magen-Themas nicht gestattete. Statt dessen lieferte ich womöglich das fertige Gerüst eines completten Schülerreferates - unbezahlte Arbeit, hm ...

Indeß hat der Gavotte-Walzer mich weiter beschäftigt. Vielleicht sprang ich da gestern etwas kurz. Denn es ist ja bekannt, daß volkstümliche Cultur recht beständig ist - sich vielfach auch über Jahrhunderte wenig, oder auch gar nicht verändert hat. Mein Vater (ein schwarzpulverschießender und banjospielender Westernfan) berichtete einst, daß man irgendwo in den USA ein Dörfchen ausgemacht hätte, wo man noch genauso musizierte und tanzte wie im 19.Jahrhundert. Ragtime, Jazz, Rock und Pop scheinen da einfach vorbei gerauscht zu sein, ohne sich in der Countrymusik nieder zu schlagen (wie es ja sonst in den USA die Regel gewesen ist).
Der Gavotte-Walzer könnte ein Stückchen französische Folklore gewesen sein, wie sie ja auch aus Frankreich nach America getragen wurde (wesentlich z.B. der creolische Einfluß im Jazz, der von französisch gebildeten Schwarzen ausging). - Es ist also durchaus wahrscheinlich, daß jener Gavotte-Walzer uns auf die Spur der volkstümlichen Gavotte-Urformen führen könnte. Stricte Cathegorisierungen, wie gerader Tact/ ungerader Tact, schnell/ mittel/ langsam, lassen sich in traditioneller Volksmusik selten anbringen. Volkscultur war immer extrem inhomogen; jedes Dorf hatte seine eigene Art und Weise und ein paar Meilen weiter konnte der Character eines Tanzes völlig verschieden sein.

Ich habe etwa 2 Jahre in der Bretonen-Folkscene* verbracht, bevor ich damals entdeckte, daß man im 21.Jahrhundert doch noch Menuet und Gavotte zu tanzen lernen kann. Folkspecialisten betonen gern, es gäbe keine Quellen. Bei den galanten Tanzmeistern fand ich aber etliche Beschreibungen, wie Bauerntänze abgelaufen sein sollen. Mein verehrter Tanzmeister Louis Bonin berichtet 1711, er hätte mit einem Bauern gestritten, worin die Kunst des Tanzens im eigentlichen Bestünde. Der Bauer achtete die ganze ausgefeilte französische Technik und Air des Maiters als Unsinn. Für ihn war entscheidend, wie gewaltig jemand springen könne. Tanzmeister wie Bonin trugen damals einen ziemlichen Missionseifer in sich, die Menschen zu civilisieren, d.h. zum Galanten hin zu überzeugen. Das war bei ländlichen Raubeinern wohl recht heikel und Bonin spricht ja auch davon, daß man in der Regel ausgelacht wurde. - Soweit also bildungsbürgerliche Technik und Air - gegen volkstümliche Sprunggewalt.

Somit wird mir auch klar, was ich hier im Forum eigentlich treibe : ich komme schlicht auf neue Gedanken, wie der Aspect "Gavotte-.Walzer" erweist.


* Damals war ich neu in Berlin und fand hier social rasch Anschluß. Was mich aber vor allem anzog, waren Klänge, die mich unheimlich an Lully erinnerten(!!). Ich tauchte damals mit meinen Blockflöten auf einer Folksesssion auf, ohne zu wissen, daß ich in einem bretonisch dominierten Kreis gelandet war. Und diese bretonischen Folkthemen klangen in meinen Ohren ungemein lullistisch. Bei einer der Sessions war ein (etwas punkiger) Lautenspieler dabei. Ich weiß nicht, ob dem Mann eigentlich klar war, daß er gewaltig nach Generalbaßmusik klang. Ich weiß nur, daß ich selten in meinem Leben in ein derartiges Improvisations-Delirium versetzt worden bin. Im Bereich Jazz erlebt man dererlei Sternstunden ja öfters; mich aber dermaßen tief in die Zeit Telemanns zu versetzt zu fühlen, war mir nie wieder vergönnt.
Deshalb bin ich felsenfest davon überzeugt, daß Brücken zwischen volkstümlicher und höfisch/bürgerlicher Musizier- und Tanzpraxis für die Frühneuzeit noch zu entdecken sind. Es sind ja auch längst nicht alle Archive durchgeforstet ...
 
Zuletzt bearbeitet:
Übers Wochenende machte ich meine versprochenen Hausaufgaben und ich kann nur sagen UFF! - Tiefer möchte ich nicht mehr bohren, denn bei der nächsten Bohrung müßte ich sicher einen Einband dazu posten ...
Vor wenigen Minuten fügte ich noch Internetsuchergebnisse hinzu und somit reicht es jetzt wirklich.

)|>>>---------------------------------------]|(O+

Ich habe soeben Bedeutungen der Begriffe Bourrée und Jazz nachgeschlagen, bin aber noch völlig unzufrieden:

BOURRÉE
Sowohl der Frisch [1719], als auch moderne Wörterbücher, scheinen mir beschönigend zu glätten. Was mich etwas befriedigt ist der Fund in einem Spanischwörterbuch, welcher eine Parallele sein dürfte : borracho ist der Säufer und bedeutet als Adjectiv betrunken. In meinem Französischwörterbuch von Serges Medien [1999] findet sich immerhin auch "bourré, gestopft; voll; [fam.] blau; voll." Ansonsten vermisse ich die Palette saufen/ raufen/ Weiber mit Schmerzen - bzw. nehme den Wörterbüchern die gewisse Engelreine nicht ab. Ich habe eine gewisse Vorstellung von Bauernhochzeiten: Alkoholexzesse, Schägereien benebst erotischen Derbheiten. Nicht, daß ich etwa darauf abführe - nein, ich suche nach der tanzhistorischen Ursuppe, welche eben noch nicht der feinen 'Kost' höfischer und bildungsbürgerlicher Bourrées entsprach. Nunja, bei Trautwein [2000] findet sich "bourru, schroff." Ich suche ja nach Schroffheiten - fern aller galanter Etikette.

Nun zu Leonhard Frisch [1719]: "Bourras, s.m. [von bourre]ein grob Tuch." - Ansonsten vermisse ich den ungeschminkten Grobianismus weitgehend auch hier - aber immerhin : "bourre, ... item das grobe unnütze in den Büchern und Schrifften." Zudem : "Bourrer, v.a. ... item prügeln, schlagen, streiten." - "Bourreler, ... quälen, martern, im figürlichen Verstand meistens." - "Bourru, e, adj [s. bourre] (verwirrt) närrisch; eigensinnig."
Lieber Leonhard Frisch, ich vermisse bei Ihnen zuchtlose Wüsteneien! In den betreffenden Bevölkerungskreisen liegen Sexualität und Gewalt (siehe "prügeln, quälen") immerhin dicht beieinander, was ja auch in social problematischen Kreisen des 21.Jahrhunderts noch zu finden ist.
Ansonsten finde ich bei Frisch weitere textile Bedeutungen: Das Stopfen einer Büchse (offenbar Schußpflaster), das Ausraufen von Hasenhaaren durch verfolgende Hunde ect. ...

Aus meiner Zeit in der Bretonenfolkscene erinnere ich mich an Definitionen, die z.B. in die Richtung "Krach, Lärm" gingen. Womit wir von Characteristiken des frühen Jazz nicht weit entfernt wären ...

JAZZ
Hierzu ist zu beachten, daß ursprünglich "Jass" orthographiert worden ist, womit die eigentlichen, frühen Urbedeutungen verknüpft waren. Noch die "Original Dixieland Jass Band" von 1917 kündigte sich auf diese Weise an.
Während meiner Jugend las ich in Jazzlitteratur Definitionen, wonach "Jass" durchaus auch Geschlechtsverkehr bedeutet haben soll. Daneben bedeutet es weitgehend jene Grobheiten, wie ich sie oben unter BOURRÉE aufgeführt habe.
In meinem Englischwörterbuch finde ich Bedeutungen wie : Gedöns, Gewäsch, blödes Zeug, Quatsch; für jazzy steht : schreiend, wild, auffällig gemustert. Dies als Urbedeutungen anzunehmen, ist aber eine heikle Angelegenheit, denn man kann nie wissen, in wie weit diese Bedeutungen erst im Zuge von Jazzmusikmoden aufgekommen sein könnten. Die Lösung solchen Knotens kann nur ein recht altes Englischwörterbuch leisten ...
Nachtrag in der Bibliothek: Alle Wörterbücher hier sind verspießert. Helfen konnte immerhin das Internet; demnach sind meine Erinnerungen an Jugendjazzlectüre zutreffend:
Jazz is not a bad word now, but almost certainly is of extremely low origin, referring to copulation before it was applied to music, dancing, and nonsense (i.e., "all that jazz"). If the truth were known about the origin of 'Jazz' it would never be mentioned in polite society . . .
- Zu finden an diesem Loco: -
http://nfo.net/usa/etymol.html

In einer Biographie über Louis Armstrong (welche, aufgrund ihrer Interviewbasis über weite Strecken autobiographische Qualität hat) erfährt man von ständigen Schlägereien, ja Schießereien im Rotlichtmilieu von New Orleans - eben jenes Milieu, in dem Armstrong musicalisch aufwuchs.
Später, in Chicago, erfährt man aus der Autobiographie von Eddie Condon ("Jazz - we called it music") ähnliches: Wie nämlich um 1930 (zur Zeit Al Capones) das Jazzmusikerleben auch nicht ganz ungefährlich gewesen sei. So berichtet Condon von einem angetrunkenen Gangster, welcher sich den Jocus erlaubte, mittels Handfeuerwaffe auf den glitzernden Stachel des Contrabasses zu schießen. Der Gangster fragte den Bassisten gleich darauf, wie groß der Schaden gewesen wäre, den er auch höflich beglich. Das Trauma der anwesenden Musiker wird indeß nicht unerheblich gewesen sein. - Ansonsten waren Jazzmusiker gerade damals Kraftmeier. Schon in New Orleans war es darum gegangen, wer am mächtigsten (ergo am lautesten) blasen konnte. Daneben bestand der Wettbewerb darin, wer auf dem Instrument am höchsten reichte. Gerade Trompeter/ Cornetisten duelierten sich auf das Härteste. Manche Oberlippe hielt solcher Zerreißprobe nicht stand und Blut lief über ein weißes Hemd ("Jazzlips"). Am Ende blieb der nur strahende Sieger auf der Bühne - die anderen trollten sich still von dannen. Es ging schlicht darum, den andern von der Bühne zu blasen - nach dem alten Duelistenmotto "du oder ich"(bis in die späten 30er Jahre stand das Energiebündel Armstrong hier ja unangefochten an der Weltspitze).

FRÜHNEUZEITLICHER BAUERNTANZ
Die beschriebenen Trompeterduelle erinnern mich stark an jene kraftmeierischen Tanzwettbewerbe, wie sie von frühneuzeitlichen Bauerntänzen berichtet werden. Dabei ging es, wie erwähnt, vornehmlich darum, wer die größte Sprunggewalt vorzuweisen hatte. Es ging aber auch darum, wer der Derbste, Leichtsinnigste, Schamloseste unter allen gewesen sei. Den Umgang mit dort anwesenden Frauen critisieren die Tanzmeister des frühen 18. Jahrhunderts in ihren umfangreichen Büchern mit am schärfsten: Man hätte sich Frauen einfach ungefragt gegriffen, um diese unter anderem durch die Luft zu werfen. Außerdem seien "unkeusche/unzüchtige" Vorgänge dabei zu beobachten gewesen. Die Beschreibungen lesen sich geradezu so, als seien diese Frauen Freiwild gewesen - männlichen Nachstellungen vielfach schutzlos ausgeliefert. Wie denn auch Bonin an einer gewissen Stelle seines Buches critisiert, es hätte einer seiner Schüler eine Tanzschülerin "wie eine Bauren=Magd tractirt". Bonins Schülerin, eine vollendete galante junge Dame, bat ihren Tanzpartner daraufhin, er möge sie fernerhin verschonen. Der junge Mann bekam einen roten Kopf und soll den Tanzboden Bonins nie wieder betreten haben.
Doch zurück zum Bauren=Volck: Hier ließe sich gewiß mehr herauskitzeln. Ich vermute stark, daß auch Bauernmusikanten sich damals Duelle geliefert haben werden. Um Trompeter hat es sich dabei gewiß nicht gehandelt. Ich tippe hier vornehmlich auf Fiedler (neben z.B. Dudelsäcken), denn die Geige ist allerorten das bevorzugte Instrument gewesen. Geigerduelle findet man im 17. und 18. Jahrhundert ja auch in höfischen und bürgerlichen Kreisen. Große Componisten, wie Corelli, Vivaldi, sowie später Paganini, sind immer wieder Geigenvirtuosen gewesen. Die Musik, welche sie schrieben, war oft darauf gemünzt, den rechten musikalischen Hintergrund zu erhalten, vor dem sich als Geigenvirtuose glänzen ließ. Hier ging es nicht darum, wer am lautesten spielte, sondern wer die ausgefeilteste Technik vorzuweisen hatte. Der damals sehr populäre Telemann ließ sich übrigens bevorzugt von den ländlichen Geigern Polens anregen ...
Auch galante Tänzer standen in einem Wettbewerb der Virtuosität, um zu beweisen, daß sie wahrhaft "en Maitre" tanzten. All das hatte sehr viel mit musicalischer und tänzerischer Improvisation zu tun. Was man heute vielfach nicht wahrhaben will, weil freies Spielen in der sogenannten "Klassik" kaum gelehrt wird und der sogenannte "Barocktanz" zu toten Schablonen erstarrt ist.

FAZIT AUS DEN PARALLELEN
Parallelen zwischen Bourrée (sowie natürlich anderen Tänzen) und Jazz ergeben sich auch in den culturhistorischen Umdeutungen: Aus der derben Praxis bäurischer Tanzexzesse erwuchs jene Inspiration, welche in manierlich galante Musik und Tanzart (höfisch, bürgerlich) mündete. Aus den prahlerischen New-Orleans-Tönen der Südstaaten-Bordelle erwuchs letzlich interlectuell abgehobener Modern Jazz: Der Bebop-Trompeter bläst weniger laut, sondern mit deutlich leichterem Ansatz - dafür concuriert er wiederum stärker im Hinblick auf Virtuosität. Man könnte hier auch allerhand Tänzerisches beisteuern, was die heutige Disciplin Jazzdance erklären würde. Eine solche Zeitreise würde einen sicherlich in das eine oder andere Striptease-Local führen (wobei Striptease an sich wohl noch das Harmloseste sein würde) ... - Schaun wir uns lieber den Tap Dancer (Stepper) an: Aus dem ursprünglichen RAM-BADAM-RUMS-DIBUMS entwicklelt sich letztlich ein ricke-ticke-rrrrracke-tacke-brrrrrrrrrrrrrrrrrrrt ... - Die Tanzgeschichte scheint manchmal ein Dorf zu sein, wo man alten Bekannten öfters begegnet.
Es gibt hier aber noch eine Parallele zwischen dem 17./18. Jahrhunder und dem 20ten: Zusammen mit dem Jazz, auch in Vermischung, kamen immer wieder lateinamerikanische Tänze und Klänge auf. Im 17.Jahrhundert entspricht dies etwa der Sarabande und der Chaconne. Zwar ist die Sarabande ziehmlich auf harmlos geglättet worden, dafür besitzen die Chaconnes des frühen 18.Jahrhunderts häufig immer noch ein ziemliches Feuer und kommen teilweise recht fetzig daher. Die Verharmlosung ursprünglicher Stile kann man getrost als Verspießerung sehen - wie in obigem englischsprachigen Citat erwähnt: "If the truth were known about the origin of 'Jazz' it would never be mentioned in polite society . . ."
:)
In beiden Fällen - Bourrée/Jazz - wurden rohe Urklötze zu verfeinerten, scheinbar makellosen 'Sculpturen' umgearbeitet. Hier scheiden sich die culturhistorischen Geister: Die einen sehnen sich zurück nach der Ursuppe/Gosse, die anderen bevorzugen geläutertes Virtuosentum. So findet ein jeder Geist sein angestammtes Element, in dem es ihn frei zu sein dünkt. Mich deucht indeß, man solle nichts von all dem ausblenden.
 
Zuletzt bearbeitet:
Es ist übrigens die Aufgabe von uns Tanzmeistern, das Volk von allen Sauzoten zu entledigen, um die Menschen zur Galanterie zu führen!
 
Zurück
Oben