Wie hoch war die Kindersterblichkeit in vormodernen Gesellschaften?

Krusk

Mitglied
Ich bekomme immer wieder eine Quote von 50% vorgeknallt, wenn ich frage, wie hoch die Kindersterblichkeit vor dem 19. Jahrhundert war. Mir aber erscheint das unglaubwürdig, dass die Kindersterblichkeit über 10000 Jahre hinweg konstant gewesen sein soll. Vor einiger Zeit habe ich einen Aufsatz über die Enteignung von Volkswissen in der Frühen Neuzeit gelesen. Jürgen Kocka schreibt, dass im frühen 19. Jahrhundert die Säuglings- und Kindersterblichkeit in den meisten deutschen Gebieten gestiegen ist und nicht gesunken. Daher frage ich mich: Worauf beruht diese Zahl von 50% Kindersterblichkeit in der Vormoderne?

Kennt jemand Literatur zu dem Thema?
 
Jürgen Kocka schreibt, dass im frühen 19. Jahrhundert die Säuglings- und Kindersterblichkeit in den meisten deutschen Gebieten gestiegen ist und nicht gesunken. Daher frage ich mich: Worauf beruht diese Zahl von 50% Kindersterblichkeit in der Vormoderne?
Ein Zeitgenosse der Zeit der ersten Pockenschutzimpfungen, also spätes 18.Jh., meinte hingegen (ich habe leider die Quelle nicht gerade parat), dass durch diese die Kindersterblichkeit derart drastisch gesunken sei, dass die armen Eltern noch mehr Mäuler zu stopfen hätten, wobei sie schon zuwenig für diejenigen gehabt hatten, welche vor der Zeit der Impfungen da waren. Wenn man sich anschaut wieviele der Kinder der Maria Theresia sogar bspw. von den Pocken befallen wurden, dann wundert das nicht. (Allein von ihren 16 Kindern starben immerhin 6 noch vor dem Erwachsenenalter, obwohl am kaiserlichen Hof sicherlich die besten Ärzte der Zeit wirkten.)
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich bekomme immer wieder eine Quote von 50% vorgeknallt, wenn ich frage, wie hoch die Kindersterblichkeit vor dem 19. Jahrhundert war. Mir aber erscheint das unglaubwürdig, dass die Kindersterblichkeit über 10000 Jahre hinweg konstant gewesen sein soll. Vor einiger Zeit habe ich einen Aufsatz über die Enteignung von Volkswissen in der Frühen Neuzeit gelesen. Jürgen Kocka schreibt, dass im frühen 19. Jahrhundert die Säuglings- und Kindersterblichkeit in den meisten deutschen Gebieten gestiegen ist und nicht gesunken. Daher frage ich mich: Worauf beruht diese Zahl von 50% Kindersterblichkeit in der Vormoderne?

Kennt jemand Literatur zu dem Thema?

Literatur hab ich dazu nicht.
Du bist dir also nicht sicher, ob vor dem 19.Jahrhundert die Kindersterblichkeit immer bei 50 Prozent lag.
Auf jeden Fall muss sie sehr hoch gewesen sein.
Allein die Geburt eines Kindes beim einfachen Volk war ein weitreichendes Ereignis. Viele Frauen aus der Nachbarschaft kamen zur Gebärenden und halfen ihr so gut wie sie konnten (die Gebärende lag damals noch nicht). Gelegentlich Hebammen koordinierten das Ganze. Wenns Kind falsch rum lag oder sonst nicht raus wollte/konnte, konnte man nur den lieben Gott um Hilfe bitten.
Auch die Kinderkrankheiten, die heute weitestgehend kein Problem darstellen, konnte man kaum erfolgreich bekämpfen und überstehen. Auch hier musste man nur Gottes Hilfe in Anspruch nehmen.
Und wenn Brissotin schon anführt, dass auch Königs,-Kaiserhäuser davor nicht gefeit waren, wars einfache Volk schlimmer dran. Und wenn Epidemien auftraten erwischt es immer die Schwächsten und Jüngsten am Schlimmsten.

In christlich geprägten Ländern war es zudem gefährlich allein zu gebären. Wenn nämlich nach/bei Geburt das Kind tot war (egal unter welchen Umständen) konnte niemand bezeugen, ob die Mutter ihr Kind nicht getötet hatte, was der Mutter äußerst nachteilig wurde.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Also ich habe diese Dissertation zu Thema gefunden: http://w210.ub.uni-tuebingen.de/dbt/volltexte/2004/1152/pdf/diss_a4.pdf

Der Autor dieser Diss meint, die Zahl von 50% Kindersterblichkeit sei nirgends belegt. Tatsächlich handle es sich um eine Fehlinterpretation zweier Studien aus den 50ern und von 1970.

Von daher zweifle ich daran, dass die Kindersterblichkeit vor der Moderne sooo hoch gewesen sein soll. Ich glaube vielmehr, dass durch den Modernisierungsprozess der FNZ und den damit verbundenen Enteignungsprozess auch von medizinischem Wissen die Kindersterblichkeit gestiegen ist. Aber das ist nur eine Vermutung.
 
Auch wenn es nur ein kurzer Einwurf ist, die Sterblichkeit war eklatant an das Alter des Kindes gebunden. Ich halte es für durchaus möglich das die Sterblichkeit bei 50% lag, allerdings nur bis zu einem Alter von etwa 2-3 Jahren. Dannach sank die Gefahr eines Todes wieder und stieg erst wieder im Erwachsenenalter an.
 
Die Kindersterblichkeit war sowohl in den Hütten wie in den Palästen hoch. Brissotin erwähnte Maria Theresia, von deren Kindern 6 im Kindesalter verstarben. Von den 5 Kindern, die Ludwig XIV. mit Maria Theresia zeugte, überlebte nur der Dauphin. Von den 16 Kindern, denen Queen Anne das Leben schenkte, überlebte kei einziges. Peter I. zeugte mit seiner Mätresse, der späteren Katherina I. 15 Kinder, von denen nur Anna und Elisabetha Petrowna überlebten.

Nicht zuletzt auch die mangelhafte Sterilität, mit der die Accoucheure arbeiteten, beförderte manche Mutter ins Jenseits. Erst in den 1850er Jahren konnte der Wiener Arzt Ignaz Semmelweis das nachweisen.

Eine Kindersterblichkeit von 30-50% ist durchaus nicht unrealistisch, wenn man von der chronischen medizinischen Unterversorgung des grössten Teils der Bevölkerung ausgeht. Faktoren wie Ernährung und nicht zuletzt auch der soziale Status einer Schwangeren hatten einen erheblichen Einfluss auf die Überlebenschancen von Mutter und Kind.
 
Zu dem was Scorpio schrieb ganz kurz:
Es ist deutlich, dass auch bei der Oberschicht also die Kindersterblichkeit sehr hoch war, trotz "besserer" medizinischer Versorgung. Am Beispiel einiger Biographien zeigte sich mir das Bild, dass allerdings auch die Kinder aus hohem Hause gerade besonders schonungsloser Behandlung bisweilen ausgesetzt waren, welche der Gesundheit der Kleinen sicherlich und teilweise nachweislich abträglich war. So litten manche Kinder wohl unter Schlafentzug, wenn sie dem Tagesablauf der Erwachsenen folgen mussten und bis tief in die Nacht wachblieben. Denkt man an die frühen Verpflichtungen eines Louis XV und den Fehlern in so mancher Erziehung, sowie an die ärztlichen Maltretierungen eines Kurprinzen Friedrich, der später als Friedrich I. erster preußischer König werden sollte, überrascht beinahe, dass überhaupt so viele Kinder diese Kindheit bei Hofe überlebten, welche oftmals keine war.

Wohlmöglich dass das Umdenken in der Erziehung bei der Oberschicht zu einem guten Teil mit der Aufklärung zusammen hing, in dessen Zuge ja andere Mutterbilder entstanden. Ich halte es für möglich, dass dies zumindest in gewissem Maße auch den Überlebenschancen der Kinder zugute kam.
 
Dazu gibt es eine gute Anekdote, derzufolge Louis XV. nur deshalb mit 2 Jahren die Masern überlebte, weil seine Kinderfrau die Türen zu seinem Zimmer verschloss und den Ärzten nicht erlaubte, ihn mit Aderlässen und Brechmitteln zu traktieren, so dass Louis wie durch ein Wunder überlebte.
 
Auch wenn es nur ein kurzer Einwurf ist, die Sterblichkeit war eklatant an das Alter des Kindes gebunden. Ich halte es für durchaus möglich das die Sterblichkeit bei 50% lag, allerdings nur bis zu einem Alter von etwa 2-3 Jahren. Dannach sank die Gefahr eines Todes wieder und stieg erst wieder im Erwachsenenalter an.

Da gebe ich Sheik recht.

Ich gebe mal zu Bedenken, dass z. B. die Säuglingssterblichkeit in Rumänien um 27,9 % lag - in den 1970er Jahren. Da erscheint mir die Zahl von 50% Kindersterblichkeit in der Vormoderne gar nicht so hochgegriffen.
 
Auch wenn es nur ein kurzer Einwurf ist, die Sterblichkeit war eklatant an das Alter des Kindes gebunden. Ich halte es für durchaus möglich das die Sterblichkeit bei 50% lag, allerdings nur bis zu einem Alter von etwa 2-3 Jahren. Dannach sank die Gefahr eines Todes wieder und stieg erst wieder im Erwachsenenalter an.

Das hast du aus dem Link (Seiten ab 29-46) von Krusk schön herausgelesen. Glückwunsch.
 
Was mich in diesem Zusammenhang interessiert, ist die Frage, ob die hohe Kindersterblichkeit in die Lebenserwartung eingeflossen ist.

Wenn dem so ist - und davon gehe ich aus - war die Lebenserwartung für einen Menschen, der das Erwachsenenalter erreicht hatte, eigentlich dem heutigen gar nicht so fern.

In mehreren Quellen habe ich gelesen, dass sich die Lebenserwartung in den letzten 200 Jahren ungefähr verdoppelt hat. Wenn man hier eine 50-%-Kindersterblichkeit rausrechnet, hat sich bei den Erwachsenen eigentlich praktisch nichts getan.

Habe ich hier recht oder werden für die Lebenswartungsberechnungen nur Menschen herangezogen, die bereits ein bestimmtes Alter erreicht haben?
 
Ich kann das nur aus der heutigen Sicht und der Berechnung von Versorgungsansprüchen beantworten.

Die Betrachtungen von durchschnittlicher Lebenserwartung von Menschen und der Betrachtung der Lebenserwartung eines Menschen in einem bestimmten Alter sind auseinander zu halten.

Bei den Durchschnittsbetrachtungen gehen alle Sterblichkeiten ein, diese hat sich über die letzten 100 Jahre entsprechend verändert und ist beachtlich angestiegen (auch ohne Kriegsfolgen -Weltkriege).

Wenn ich auf die neueren Lebenserwartungstafeln abstelle (etwa die von Heubeck, 2005/07 zudem noch auf Generationentafeln abgestellt und somit verfeinert, was für einen 40jährigen Mann ggü. den 2003er Tafeln rd. 4 Jahre Verlängerung brachte -dazu Berufsklassen), so wird die Lebenserwartung vom erreichten Stand aus berechnet und verlängert sich im Prinzip mit steigendem Lebensalter. Ein 40-jähriger hat somit ein anderes, geringeres statistisches Endalter als ein 70-jähriger.


Fazit:
Sehr alte Menschen gab es auch früher.
Ein neugeborenes Kind hat heute eine statistisch höhere Lebenserwartung als vor 150 Jahren.
Ein 40-jähriger hat heute und muß schon damals eine höhere Lebenserwartung als ein neugeborenes Kind haben.
Gleiches gilt für den 70-jährigen gegenüber dem 40-jährigen.

So verständlich? :winke:
 
1. Danke für Deine Ausführungen, die mir aber größtenteils bekannt sind (konntest Du aber nicht wissen).

2. Um meine Frage nochmals zu stellen (in leicht abgeänderter Form): Kann man davon ausgehen, dass ein Mensch Jahrgang 1800, der das Kinderalter überlebt hatte, durchschnittlich 60-70 Jahre alt wurde?

So manchesmal soll einem ja glaubhaft gemacht werden, dass die Leute vor 200 Jahre mit 40 ihrem Ende entgegenblickten.

Fritz
 
Hatte ich heute schon einmal bei Wehler, Sozialgeschichte, nachgeschlagen (wg ältester Mann ist ein Franke).
Durchaus auch seriös:
ZEIT: Im Mittelalter lebten die Menschen auch nicht viel kürzer als im 19. Jahrhundert.
Vaupel: Nein, etwa 33 bis 40 Jahre.
ZEIT: Wieso die rasante Zunahme seit 1840?
Vaupel: Wir wissen es nicht. Über sehr lange Zeit – die letzten 10000 Jahre – betrug die Lebenserwartung immer etwa 35, vielleicht mal 40 Jahre. Von 1800 an wurde es besser, von 1840 an wurde es sehr schnell besser. Das begann vor allem in England und Skandinavien, später hat die Entwicklung ganz Europa erfasst. Aber warum war das so? Die industrielle Revolution hat wohl eine Rolle gespielt. Der Lebensstandard stieg, die sanitären Verhältnisse besserten sich. Sauberes Trinkwasser, bessere Nahrungsmittel, mehr Bildung, öffentliche Gesundheitsvorsorge: Diese Kombination von Faktoren könnte es gewesen sein.

http://zeus.zeit.de/text/2005/19/B-Vaupel
 
Nicht allein die Kindersterblichkeit drückte die Lebenserwartung

.

Antwort auf die Ausgangsfrage von Krusk

Welche Epoche meinst du mit 'Vormoderne'? Und zu welchen Ländern möchtest du etwas über die Kindersterblichkeit erfahren? Es wäre hilfreich, wenn du die Frage etwas enger begrenzen und klarer fassen würdest.

"... kann man eine zeitliche Einordnung der Vormoderne vornehmen, die je nach Fragestellung vom Ende der Völkerwanderungszeit – als dem Beginn des Mittelalters – bis entweder zur frühen Neuzeit (mit der Französischen Revolution von 1789 als Epochengrenze) oder zumindest weit in das 19. Jahrhundert reicht (Einsetzen der Industrialisierung bzw. industriellen Revolution)."
Definition: Vormoderne - Meyers Lexikon online

Im Mittelalter betrug die Lebenserwartung der 20-jährigen vor der ersten Pest (542 – 750) 25 Jahre für Männer und 23 Jahre für Frauen. Danach stieg sie auf 27 Jahre für Männer und 24 Jahre für Frauen. Die Lebenserwartung insgesamt betrug 30 bis 33 Jahre. Das zeigt, dass im Mittelalter nicht allein die Kindersterblichkeit die Lebenserwartung drückte.

Ohler, Norbert: Sterben und Tod im Mittelalter, München/Zürich 1990

.
 
Wir haben da schon öfter drüber diskutiert; hier z.B. eine nette Kurve von mir..
http://www.geschichtsforum.de/f22/lebenserwartung-pal-olithikum-und-antike-20498/#post316746

Das zeigt, dass im Mittelalter nicht allein die Kindersterblichkeit die Lebenserwartung drückte.

Natürlich nicht: wie die o.a. Kurve zeigen, muss einem vor dem 60. Lebensjahr gar nichts passieren. Die Kurven "Römerzeit" und 1900 zeigen für die "Vormodernen" :) jedoch eine nahezu proportionale und altersunabhängige "Abnutzung" durch Unfall, Krieg, Krankheiten

http://www.geschichtsforum.de/f22/lebenserwartung-pal-olithikum-und-antike-20498/#post316746
 
Zuletzt bearbeitet:
Da gebe ich Sheik recht.
Ich gebe mal zu Bedenken, dass z. B. die Säuglingssterblichkeit in Rumänien um 27,9 % lag - in den 1970er Jahren. Da erscheint mir die Zahl von 50% Kindersterblichkeit in der Vormoderne gar nicht so hochgegriffen.

Ein paar Angaben - Säuglingssterblichkeit bis 1 Jahr sowie Statistiken nach Todesursachen - gibt es in den Statistischen Jahrbüchern.


Zwischen 1909 und 1920 lag die Quote der Säuglingssterblichkeit bei ca. 15- maximal 20%, relativ konstant selbst in den Kriegsjahren.

Nimmt man als Vergleich andere europäische Länder, zB Skandinavier, Schweiz oder NL, war die Quote bedeutend niedriger, etwa zwischen 7 und 10 %.

Der Vergleich mit "Entwicklungsländern", zB Chile, "Costarica" und Mexiko zeigt Quoten bis zu 30%, bei Rußland zwischen 20 und 25 % - diese Zahlen könnten möglw. Obergrenzen auch für das Deutsche Reich darstellen, wenn man einige Jahrzehnte zurückgeht.
 
Zurück
Oben