Haben die Aufklärer das Mittelalter schlecht geredet?

Pauls Kirche

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Hallo

Im Deutschen Historischen Museum in Berlin habe ich bei einer Interaktiven Station erfahren, dass viele Aufklärer dass Mittelalter schlecht geredet haben um ihre eigenen Erkenntnisse zu verbessern. Als Beispiele wurden u.a. genannt, dass es das "ius primae noctis" (=Recht der ersten Nacht) nie flechendekend gegeben hat und dass es bekannt war, dass die Erde eine Scheibe ist.

Könnt ihr diese Aussage bestätigen und mir auch Quellen dazu nennen?

Danke
 
Könnt ihr diese Aussage bestätigen und mir auch Quellen dazu nennen?
Mir fiele auf Anhieb "Die Jungfrau" (La Pucelle d'Orléans) von 1755 von Voltaire ein, welche angeblich sehr schonungslos mit der Figur der Jeanne d'Arc umging. Damals war das Werk allerdings ein Hit und es zu kennen gehörte für die Gebildeten dazu. Ich habe es aber selbst noch nicht gelesen, sondern nur in zeitgenössischen Texten der Aufklärung erwähnt gefunden.

Andererseits wurden alte Bücher, auch aus dem Mittelalter, als wertvolle Stücke meines Wissens schon im 18.Jh. behandelt. Aber betreffend dieser Wertschätzung auch für die positiven Seiten dieser Epoche müsste ich mal nachschlagen.
 
... dass es das "ius primae noctis" (=Recht der ersten Nacht) nie flechendekend gegeben hat...

Das ist richtig; allerdings müssen wir dabei bedenken, daß sich Aufklärer und liberale Denker selbst einer früheren Legendenbildung bedienten.
Vgl. dazu auch:
(1) Verweis auf Theads hier im Forum http://www.geschichtsforum.de/f51/ius-primae-noctis-17364/
(2) Wikipedia Überblick - deutsch und englisch
Ius primae noctis - Wikipedia
Droit de seigneur - Wikipedia, the free encyclopedia
(3) Ausführliche Fachbearbeitung
Das Herrenrecht der ersten Nacht ... - Google Buchsuche
(Scrollen und am besten durchlesen!)
Anm.: Zumindest bei den Wikipedia Artikeln und natürlich dem Buch zum Herrenrecht sind ausgiebig Quellen genannt.

... dass es bekannt war, dass die Erde eine Scheibe ist...

Freudscher Verschreiber? ;)
Ich nehme an, Du wolltest schreiben:
... dass es bekannt war, dass die Erde keine Scheibe ist...
Ja, im Mittelalter war die Kugelgestalt der Erde bekannt und akzeptiert - Balticbirdy lieferte Dir den Thread zum Nachlesen, worin sich auch einige weiterführende Links, Quellen etc. befinden.
 
Im Deutschen Historischen Museum in Berlin habe ich bei einer Interaktiven Station erfahren, dass viele Aufklärer dass Mittelalter schlecht geredet haben um ihre eigenen Erkenntnisse zu verbessern.
So weit ich mich erinnere, ist schon die Bezeichnung "Mittelalter" Folge solcher "Propaganda" der Aufklärer.
In ihren Augen gab es die edle Antike, und dann die "Renaissance", also die Wiedergeburt eben dieser antiken Hochkultur.
Und dazwischen war eben so ein Mittelstück, das "finstere" Mittelalter, mit seinem "gotischen" (also barbarischen) Baustil.
 
So weit ich mich erinnere, ist schon die Bezeichnung "Mittelalter" Folge solcher "Propaganda" der Aufklärer.

Namentlich war das Francesco Petrarca, der war aber noch kein Aufklärer. Die Aufklärer richteten sich vielfach gegen die katholische Kirche, deren Verfehlungen sie propagandistisch übertrieben.
 
Francesco Petrarca war eher Renaissancemensch, wobei er auch da eher in die Anfänge gehörte (ca 14. Jhd). Er sah das Mittelalter noch als Rückschritt gegenüber der Antike, der "jetzt" (also zu seinen Lebzeiten) überwunden wird. Die Grenze zwischen Antike und Mittelalter sah er in der aufkommenden Dominanz des Christentums, also etwas früher, als man heute die Trennung vollführt.
In der Aufklärung sah man nicht mehr den Tiefpunkt Mittelalter, sondern eher den allgemeinen Fortschritt, der sich von Antike über Mittelalter bis in die eigene Zeit vollzog (zu Petrarca habe ich noch irgendwo den Brief, in dem er diese Weltsicht darlegt, kann ich ja mal auszugsweise reinstellen)
 
Das "Schlechtreden" des MA begann mit der Renaissance und nicht mit der Aufklärung. Die Renaissance versuchte sich von mittelalterlichen Vorstellungen zu lösen und leitete die Neuzeit ein - beziehungsweise ist bereits der erste Abschnitt der Frühen Neuzeit selbst. Die Renaissance wollte an Entwicklungen und Vorstellungen der Antike anknüpfen und die "Fehlentwicklungen des MA" beenden. Entsprechend entstand in Italien, der Wiege der Renaissance zuerst das abfällig gebrauchte Wort der "Gotik" über die mittelalterliche Kunst. Man wollte sie als "barbarische" Ausdrucksform der Kunst überwinden und orientierte sich an den Formen einer fast schon kindlich verklärten "Wunsch-Antike". Die Goten selbst galten als die Zerstörer des antiken Italiens und der wertvollen antiken Kunst. An deren Stelle sei dann deren schlechte, eben die Gotik als Kunst getreten. Das war also nicht eine "neutrale Bezeichnung" für einen Kunststil wie das Wort heute gebraucht wird, sondern meinte wörtlich "schlechte Kunst"!
...Ein herrlich schlichtes Denkgebäude für eine ansonsten so vielseitige und innovative Zeit, oder?

Die Aufklärung hatte es damit gar nicht mehr nötig das Mittelalter schlecht reden zu müssen, das hatte die Renaissance bereits ausgiebig besorgt. Das neue Verständnis vom Verhältnis zu Religion, Staat, Philosophie, Technik und Individuum ging nun rationaler daran die Welt zu verändern und an den neu gewonnenen Leitbildern auszurichten. Während die Renaissance sich ablehnend zur Gotik verhielt, erwuchs die neue Kunstrichtung des Barock allmählich aus der Renaissance. Die Aufklärung selbst kann man künstlerisch gesehen durchaus in den Barock einordnen und so übernahm die Aufklärung auch viele Urteile und Vorurteile das Mittelalter betreffend.
 
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