Luftkrieg:Der erste Luftangriff auf Berlin am 7./8. Juni 1940 und seine Vorgeschichte

kwschaefer

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Zwischen September und November 1939 wurden an die Air France drei viermotorige Langstrecken-Postflugzeuge geliefert, die Farman 223.4 oder, wie sie nach der Verstaatlichung der Firmen Henri Farmans durch die französische Volksfrontregierung nunmehr genannt wurden, die SNCAN NC 2234. Sie wurden auf die Namen „Camille Flammarion“, „Le Verrier“ und „Jules Verne“ getauft.

Da die Air France durch den Kriegsausbruch keine Verwendung für die Flugzeuge mehr hatte, gab sie sie an die Admiralität zur Eingliederung bei den Marinefliegern ab. Dort sollten die Flugzeuge als strategische Aufklärer verwendet werden. Die „Jules Verne“ erhielt eine besonders hochwertige Besatzung, um sie für risikoreiche strategische Operationen einsetzen zu können. Kommandant des Flugzeuges wurde Korvettenkapitän Dallière, der Navigator war Paul Comet, ein Mann mit Erfahrung in Transatlantikflügen und früherer Chefnavigator der Air France.

Von 28. April bis 6. Mai 1940 wurde die „Jules Verne“ im Werk etwas umgebaut. Sie erhielt einen Platz für einen Bombenschützen im Bug, einen Navigatorplatz und einen MG-Stand auf dem Rumpfrücken und wurde schwarz gemalt.. Am 13. Mai 1940 startete sie in Lanvéhoc-Poulmic, der Marinefliegerbasis des Kriegshafens Brest, zu einem Angriff auf den Güterbahnhof Aachen. Danach wurden, schon bei Dämmerlicht, die Maas-Brücken von Maastricht angegriffen. Das Flugzeug kehrte unbeschädigt wieder zurück. Dieser erfolgreiche Angriff veranlasste die Admiralität, alle drei Farman 223.4 in der Bomberstaffel B 5 zusammenzufassen. Dallière wurde Staffelkapitän. Die beiden anderen Flugzeuge waren zu diesem Zeitpunkt aber noch zur Militarisierung im Werk.

In der Nacht vom 19. zum 20. Mai 1940 bombardierte „Jules Verne“ erneut den Aachener Güterbahnhof, Angriffshöhe 300m. Diesmal erhielt das Flugzeug Flaktreffer und da der Rumpf ein einziger Kraftstoffbehälter und das Flugzeug dadurch sehr verwundbar war, sollten nun keine Einsätze als Bomber mehr geflogen werden. (Nach manchen französischen Quellen lag zwischen dem 13. und dem 19. Mai noch ein Angriff auf Middelburg und Vlissingen). Das Flugzeug wurde von Lanvéhoc-Poulmic nach Bordeaux-Mérignac zurückverlegt.

Am 6. Juni 1940 beschloss dann die französische Regierung in einer Art Verzweiflungsakt, Berlin mit der Bomberstaffel B 5 anzugreifen. Da die beiden anderen Flugzeuge immer noch in der Umrüstung waren, musste die Mission durch die „Jules Verne“ allein ausgeführt werden.

Am Nachmittag des 7. Juni 1940 startete die „Jules Verne“ mit 2.000 kg Bomben in Bordeaux-Mèrignac. Korvettenkapitän Dallière hatte einen Kurs gewählt, der in solange wie möglich aus dem Bereich deutscher Flak heraushalten sollte, da ein Flaktreffer im Rumpf die sofortige Explosion des Flugzeuges zur Folge gehabt hätte. Er flog also über Brest, den Ärmelkanal, die Nordsee, Dänemark, die Ostsee und drang bei Stettin von Norden in den deutschen Luftraum ein. Es war eine klare Nacht und um Mitternacht erreichte die „Jules Verne“ Berlin, ohne bisher Berührung mit Flak oder Nachtjägern gehabt zu haben. Dallière erkannte den Flughafen Tempelhof und wies den Piloten an, eine Landung zu simulieren, um den Eindruck zu erwecken, ein deutsches Flugzeug setze zur Landung an. Die „Jules Verne“ kreiste mehrmals, dann überflog das Flugzeug Tempelhof in 100 m Höhe mit seiner Höchstgeschwindigkeit von 350 km/ und flog Richtung Norden. Hier sollten Fabriken im Norden Berlins angegriffen werden. In zwei Anflügen warf die „Jules Verne“ ihre acht Sprengbomben und 80 10-kg-Brandbomben ab. Schon vorher hatte starkes Flakfeuer eingesetzt. Die „Jules Verne“ flog nach dem Angriff nach Süden Richtung Leipzig ab und landete nach 13 ½ Stunden Flug am 8. Juni morgens gegen 5 Uhr in Chartres, ohne noch einmal mit der deutschen Luftabwehr in Berürung gekommen zu sein Über Paris-Orly kehrte sie dann nach Lanvéhoc-Poulmic zurück.

Am folgenden Tag gab die französische Admiralität bekannt: "Eine Formation Fernbomber unserer Marina bombardierte in der Nacht vom 7. zum 8. Juni ein Industrieviertel im Norden von Berlin als Vergeltung des deutschen Bombenangriffs auf Paris. Alle Maschinen sind zurückgekehrt."
Der deutsche Wehrmachtbericht meldete: „Die nächtlichen feindlichen Luftangriffe auf das deutsche Reichsgebiet richteten im allgemeinen nur unwesentlichen Schaden an.“ Berlin wurde nicht erwähnt.
 
Ein schöner Beitrag.
Jetzt fehlt nur noch die Quelle, von wo du das her hast.

Muss man sich zusammensuchen.
Teilinfos aus
Ehrengardt Christian-Jacques, Aéronautique navale - Septième époque - Bombes sur Berlin in Aéro-Journal n°18, 1954
Les avions français
Dossiers historiques et techniques
Forums Francophones - Battleground Europe Forums

Was ich übrigens nirgendwo gefunden habe, ist, wer genau den Befehl zum Angriff auf Berlin erteilt hat. Muss aber wohl von sehr weit oben her gekommen sein.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ja, das liest sich wie der Roman von Saint-Éxupery 'Flug nach Arras'.

Ich habe übrigens irgendwo gelesen, daß die deutsch-französische Waffenstillstandskommission völlig überrascht mehrere Hundert französische Flugzeuge gefunden hätte, die an verschiedenen Plätzen abgestellt waren. Sie seien dort für einen längeren Krieg vorgehalten worden, der dann schnell zu Ende war... Hast Du auch französische Quellen hierzu...?

Beste Grüße

Vitruv
 
Zuletzt bearbeitet:
Handelt es sich dabei um zurückgehaltene Flugzeuge (welcher Art?), oder um militärisch nahezu wertlose Flugzeuge der "2. Linie", also technisch völlig veraltet?

Da Frankreich dringend Jäger in Großbritannien anforderte, um der Luftüberlegenheit der Luftwaffe Herr zu werden, wäre eine Zurückhaltung völlig unverständlich.

Ansonsten ein Dankeschön an kwschaefer für die interessante Zusammenstellung. Die ausbleibende Reaktion der deutschen Seite könnte aus dem fortgeschrittenen Kriegsverlauf und der absehbaren, bevorstehenden französischen Niederlage erklären.
 
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