Es ist ja unglaublich, was dieses Orakel alles wusste!
...
Da wird wahrscheinlich ein gutes Netzwerk an Informanten vorhanden gewesen sein, eine gute politische Beobachtungsgabe. Nicht umsonst waren die Sprüche wohl so unverständlich "verpackt", dass die meisten sie erst nach dem Geschehen deuten konnten.
Ich hatte gerade den Orakelspruch an die Abgesandten von Siphnos gefunden, den Herodot überliefert hat (III, 57):
"Aber sobald in Siphnos in Weiß erglänzet das Rathaus, weiß auch der Markt aussieht, dann tut ein verständiger Mann not, abzuwehren die hölzerne Schar und den rötlichen Herold."
Die Bewohner der reichen Kykladeninsel hatten in Delphi ein Schatzhaus errichtet und waren damit der Meinung, das Orakel stände ihnen wohlwollend gegenüber. Sie stellten die Frage:
"Wird uns das gegenwärtige Glück lange Zeit treu bleiben?" und erhielten obige Antwort, mit der sie nichts anzufangen wußten.
Rathaus und Marktplatz waren aus weißem Marmor, daran gab es nichts zu deuteln, nur der Rest blieb rätselhaft - bis Schiffe aus Samos die Insel überfielen und die Bewohner von ihrem Reichtum "erleichterten".
Hölzerne Schar = Schiffe
rötlicher Herold = die Schiffe waren zu der Zeit mit Mennige gestrichen, eine im Wasser unlösliche Farbe, die relativ billig war.
In dem geschilderten Fall bedurfte es wohl keiner großen Eingebung, dass irgendjemand den Reichtum der Insel, der zudem durch das neu errichtete Schatzhaus demonstriert wurde, zum Anlass nahm, "sich dort mal selbst zu bedienen". Es war nur eine Frage der Zeit.