@tejason & deSilva:
Mir fällt es auch schwer auseinderzuhalten, was damals "gängiger Glaube" war, oder eben Aberglauben. Man wird eben, ob man es will oder nicht, immer vom eigenen Standpunkt aus die Sachen beurteilen.
Trotzdem noch ein paar Beispiele zu abergläubischen Praktiken außerhalb der Reliquienverehrung, ebenfalls nach Fichtenau aufgelistet. Glaube und Aberglaube verwischen sich allerdings, so dass man sie kaum noch unterscheiden kann.
Im
Gottesurteil wurde Gott angerufen, damit er eine unklare Rechtslage schlichtet, etwa wenn Aussage gegen Aussage stand, das aber war eine uralte Praxis und wirkt übrigens heute noch im sog. "Gottesurteil-Suizid" nach. Gottesurteile gab es als Duell, Feuer- oder Wasserproben. Das Duell übernahmen bei Reichen oft Stuntleute, man konnte sich ja schwerlich selbst der Gefahr aussetzen. Feuer- oder Wasserprobe erhielten ihren "heiligen" Status dadurch, dass sie Elementargeister beherbergten; diese Funktion wurde nun (dem christlichen) Gott übertragen. Feuerproben gab es in mehrfacher Weise: über glühende Pflugscharen marschieren oder die Hand in ein Feuer stecken. Wasserprobe bedeutete: der Arm wurde in ein kochend heißes Wasserbad getaucht, anschließend bandagiert; eiterte der Arm nach ein paar Tagen, war die Schuld bewiesen. Später erfand man eine Wasserprobe mit kaltem Wasser, das Hexenbad.
Aufschlussreich sind
abergläubische Überlagerungen, so will ich sie mal nennen. Damit meine ich Phänomene, deren physikalische Ursache bekannt war, die aber trotzdem als Zeichen Gottes gedeutet wurden. Etwa die Sonnenfinsternis 990, die der Chronist Thietmar von Merseburg als Zeichen für den Tod der Theophanu deutet, obwohl er weiß, dass der Mond sie verursacht hat. Blutregen waren ebenso schlechte Zeichen, meist für Bürgerkrieg. Meteoriten konnten Wunderbares oder auch Schreckliches bedeuten, Zeichen von Gott gesandt; ebenfalls gab es sog. "Donnerprognostiken".
Die Zukunft weissagen konnte sogar ein Papst, nämlich Marinus I (882-884). Auch in der
weißen Magie gab es enge Berührungspunkte von Glauben und Aberglauben. Z.B. beachtete man bei einer Klostergründung den Flug einer weißen Taube (Vita Bercharii 10). Bei solchen Zeichen ging es um "freiwillige" Zeichen Gottes, wollte man diese Zeichen dagegen herbeizwingen, handelt es sich um Magie. Das ist der Fall bei jemanandem, der sich in der Neujahrsnacht auf das Dach seines Hauses setzt, wobei man zur Abwehr der Dämonen mit Schwert oder Messer einen Kreis um sich ziehen muss (auguria). Im obigen Beitrag habe ich schon auf die Glöckchen hingewiesen, mit denen man Heiligenstatuen, Priestergewänder oder Fahnen schmückte; Fichtenau deutet sie als apotropäische Handlungen (S.421) (s.
Apotropäische Handlung – Wikipedia - dort sind auch noch andere Beispiele aufgeführt). Selbst Voodoo-Praktiken waren bekannt: In Le Mans wurde 992 über eine "Rachepuppe" verhandelt, ein Wachsabbild eines Grafen, das man durchbohrte, um ihn zu töten.
Auch sonst wurde gelegentlich von Schadenzauber berichtet, ich bin aber der Meinung, diese Art Magie wird erst später wirklich populär; auch weiße Magie wird geschildert: wenn in einem Kloster bei Capua sich auf dem Marmor Feuchtigkeit bildete, war dies ein wunderbares Zeichen (vgl. Chronik von Montecassino von Leo Marsicanus, um 1100). Auch konnte Christus selbst am Himmel sichtbar werden: weinend und am Kreuz, ein schlechtes Zeichen! 944 waren Feuerkugeln durch die Luft geflogen, wahrscheinlich aus der Unterwelt emporgestiegen, sie setzten Häuser in Brand. Durch Weihwasser und bischöfliche Segensgebete konnten sie vertrieben werden. Andere Arten weißer Magie habe ich oben schon beschrieben (Flug der Taube usw.). Für den Segenzauber spielte das Chrisam eine bedeutende Rolle, eine Mischung aus Balsam und Olivenöl. Mit seiner Hilfe konnte z.B. das "von Dämonen bewohnte Meer" gereinigt werden, indem man mit Chrisam gesalbte Steine hineinwarf, durchgeführt vom Bischof von Kolberg. Auch Feuersbrünste wurden mit Chrisam bekämpft. Helfen konnte es aber nur, wenn der Glaube des Anwenders "außer Zweifel stand".
Vorchristliche Gottheiten spielten noch im frühen MA eine Rolle und bildeten eine reichhaltige Quelle abergläubischer Ängste: man nahm an, dass in ihren Statuen böse Dämonen wohnte (nach Attos von Vercelli), sie selbst waren dämonenhafte Wesen. Diese Eigenart kannte man schon im frühen Christentum zu Zeiten der Kirchenväter: die griechischen oder römischen Götter waren bei Christen nicht einfach "Luft" oder Einbildung, sondern real existent - aber jetzt als negative Gestalten, als Dämonen oder Diener des Teufels. Auch die alten Dämonen und Geister leben noch weiter, aber sie werden jetzt unter die Herrschaft des Teufels eingereiht, als höllische Dienerschaft, womit sie durch die offizielle Lehre anerkannt sind. Bonifatius berichtet, noch 732 gab es in Thüringen (christliche?) Priester, die den alten Göttern opferten. Anschaulich wird das in einem Zusatz zum sächsischen Taufgelöbnis: Entsagen solle der Täufling dem "Donar und Wotan und Saxnot und all den Unholden, die ihre Genossen sind". Entsprechend waren die alten Dämonen auch die Helfer von Verbrechern, von denen sie angerufen wurden. Noch im Prozeß gegen Johannes XII hieß es, der habe beim Würfelspiel "Jupiter, Venus und die übrigen Dämonen" angefleht. Bei Montmartre sah man die Hufe von Geisterpferden, die als Wotans Geisterheer heranstürmten und die Kirche und die Weinberge verwüsteten.
Bäume und Quellen wurden ebenfalls weiterhin verehrt, gelegentlich baute man sogar Klöster an solche alten "göttlichen Stätten" - entweder um diesen Status christlich zu nutzen oder ihn sich untertan zu machen (das wäre eine Frage, die ich stelle). Ähnliches hat ja auch Bonifaz mit der Donareiche getan: für die Einheimischen fand hier ein Kampf Thor gegen den Christengott statt, und letzterer hatte gewonnen. Dennoch wurde weiter bei Bäumen oder Steinen gebetet, auch Lichter(?) oder Brot geopfert, manche Bauern verhinderten das Fällen gewisser Bäume, weil darin Gottheiten verborgen seien (vgl. Donareiche).
Auch der
Totenkult bot reichhaltige Fundgrube für Aberglauben, so an Gespenster, die um Mitternacht Gottesdienste abhalten; man hört Holzhacken oder Gespräche; wer solche Geister sieht, stirbt selbst bald darauf, es sei denn, man hat Weihwasser dabei und macht das Zeichen des Kreuzes (nach Bischof Thietmar von Merseburg ca. 1012). Dass der Tote "irgendwie" noch lebt, war gängiger Glaube, manchmal hielt man ihm sogar Mahnreden wie bei der berühmten Leichensynode von Papst Stephan VI (897, s.
Leichensynode – Wikipedia).
Das, was als Aberglaube galt, verschob sich im Lauf der Zeit: z.Z. der Reformation wurden viele Praktiken so benannt, die vorher als Bestandteil des Volksglaubens angesehen waren.