Krisentheorie/Konjunkturtheorie von Marx

Ich verstehe nicht, was das mit der Konjunktur- bzw. Krisentheorie von Marx zu tun hat

Du wirst verzeihen können: Das war ein kleiner offtopic-Nebenstrang :pfeif:

Entwerfen wir also noch einmal deinen experimentellen Plan:

Du möchtest aus wirtschaftshistorischem Interesse Marx empirische Forschung und ökonometrischen Aussagen nach verifizierenden oder falsifizierenden Kriterien beurteilen bzw. nach ihrer Beweisbarkeit oder Spekulation abklopfen, wobei du aber von der Marxschen Arbeitswerttheorie absehen und alternative Erklärungsmodelle finden möchtest? Thema dabei ist eben die Wirtschaftsgeschichte Großbritanniens mit seinen konjunkturellen Schwankungen im Kontext der Globalisierung zum Ende des 19. Jh.?
 
Zuletzt bearbeitet:
Um für interessierte wenigstens die Zitate im Kontext nachlesen zu können, verlinke ich mal die online verfügbare Marx/Engels-Werkausgabe (MEW): Vorliegende Texte von Marx/Engels nach MEW-Bänden

Das erste Zitat aus dem Ausgangsbeitrag von Silesia (#1) z. B. entstammt Karl Marx' Theorien über den Mehrwert, Kp. 17 (Karl Marx:Theorien über den Mehrwert. Kap. 17, Art. 1-14), Abschnitt 8 über die Überproduktion als Möglichkeit der Krise; werkgeschichtlich betrachtet müßte das ein Teil derjenigen theoriegeschlichtlichen Exerpte sein, die Karl Kautsky herausgegeben hatte (vgl. Theorien über den Mehrwert ? Wikipedia).
 
Das ist ein Experiment: Über Marx lohnt die wirtschaftshistorische Diskussion, wobei man sich auf seine
(1) empirischen Forschungen (mit falsch/richtig) und
(2) ökonometrischen Aussagen beschränken (bewiesen/spekulativ)?
beschränken sollte.

Ich nähere mich dem Ganzen mal von "rückwärts", von der Rezeptionsgeschichte her. Beispiele:
- In Artur Wolls "Allgemeiner Volkswirtschaftslehre" (mit 15 Auflagen sehr erfolgreich) wird Marx im Konjunktur-Kapitel (S. 631-660) gar nicht erwähnt und im Wachstums-Kapitel (S. 487-529) nur mit seinen (vermeintlichen) Irrtümern.
- Hans-Jürgen Vosgerau ("Konjunkturtheorie", in HdWW, 1988, Bd. 4, S. 478-507 [486] erwähnt immerhin in einem Satz, dass Marx zwar "keine geschlossene Konjunkturtheorie" entwickelt habe, "aber wohl als erster die wirtschaftlichen Wellenbewegungen und Krisen als Eigenschaften wachsender Marktwirtschaften deutete".

Ich glaube, dass das symptomatisch ist. Deutlich populärer sind - wie von Dir oben angedeutet - Kondratieffs lange Wellen, woran vielleicht Schumpeter "schuld" ist. Der hat im übrigen die Zyklentheorie noch um einige Varianten erweitert (3-4-jähriger Kitchin-Zyklus, 8-11-jähriger Juglar-Zyklus); in den USA wird noch ein 20-jähriger Kuznets-Zyklus diskutiert usw.

Beim Durchblättern bin ich nochmal auf das 5-stufige Wachstums-Modell von W. W. Rostow gestoßen (zit. nach Holtfrerich, HdWW, 1988, Bd. 8, S. 425 ff.), welches insoweit bemerkenswert ist, als daraus die "Ungleichzeitigkeit" bestimmter Entwicklungen deutlich wird. Ich greife seine Angaben für England, Deutschland und Rußland heraus:
(3) Take-off-Phase...E. 1783-1802, D. 1850-1873, R. 1890-1914
(4) Reifephase.........E. 1810-1850, D. 1870-1910, R. 1910-1950
(5) Massenkonsum....E. ab 1850, D. ab 1910, R. ab 1950

Das wirft die Frage auf, unter welchen Annahmen kurze Zyklen, die sich in der einen Volkswirtschaft, z. B. England, mit einiger Verlässlichkeit nachweisen lassen, auf eine andere, z. B. Deutschland, übertragbar sind, obwohl diese in ihrem historischen Entwicklungsstand "hinterherhinkt". Diskussionsfähig scheint mir zu sein, dass die Vorstellung von einer zyklischen "allgemeinen Krise des Kapitalismus" bestimmte vereinfachende Annahmen erfordert.
 
Ich nähere mich dem Ganzen mal von "rückwärts", von der Rezeptionsgeschichte her. Beispiele:

Das ist ein guter Gedanke, aber sicher sehr schwer. Die Marxschen Gedanken zur Konjunkturthorie sind nur mosaikartig formuliert. Das führt zu einigen Thesen (auch in Anlehnung an Müller):

1. es fehlt ein geschlossenes Konjunkturmodell, vielmehr müßten die Marxschen Überlegungen zusammengeführt werden (auch ein Aspekt der Rezeptionsgeschichte)

2. Marx beschäftigte sich als einer der ersten mit den Problemen der Nachfragelücke, als Krisensymptom und (mittelbar!) als Krisenauslöser. Gesucht ist die Ursache der auftretenden Nachfragelücken in Konjunkturzyklen.

3. Marx analysierte sodann nur mittelfristige Wellen (die Langen Wellen waren ihm dann theoretisch "verbaut", möglicherweise ein Grund neben der fehlenden empirischen Basis: das 19. Jahrhundert)

4. die Krise begleitet den Widerspruch zwischen Produktivkraftentfaltung und Kapitalverwertung. Es kommt zur Kapitalentwertung (durch Produktivitätssteigerungen), die von den - konjunkturneutralen - Entwertungen der Tauschprozesse zu trennen sind.

5. Maßstab der Produktivkraftentfaltung/Steigerung der Produktivität einer Volkswirtschaft ist die Arbeitsproduktivität.

6. die Krisen können damit bei Marx (wie bei Schumpeter!) über die Produktivitätsentwicklung letzlich auf exogene, schubweise Entwicklung des technischen Fortschritts zurückgeführt werden.

7. Marx trennt zwischen Krisenursachen (Diskontinuität der Technik), Krisenmöglichkeiten und Krisenerscheinungen: Produktion, Kapitalverhältnisse, unvollständige Marktinformation etc. sind nur den K.-Möglichkeiten bzw. K.-erscheinnungen zuzuordnen. Die Krise ist das Resultat der Produktivitätsentwicklung, diese wiederum der technologischen Schübe. So kann auch der Kapitalüberschuss der Krise (technisch) erneute Revolutionierungen der Produktionsmethoden bringen, es kommt damit zu Wellenbewegungen.

Wäre das akzeptabel? Dann habe ich den - vielleicht falschen - Eindruck, die grundlegenden Überlegungen von Marx sind in der Konjunkturtheorie nur unzureichend gewürdigt worden.
 
Die Marxschen Gedanken zur Konjunkturthorie sind nur mosaikartig formuliert. Das führt zu einigen Thesen (auch in Anlehnung an Müller):
1. es fehlt ein geschlossenes Konjunkturmodell, vielmehr müßten die Marxschen Überlegungen zusammengeführt werden (auch ein Aspekt der Rezeptionsgeschichte)
Spontan würde ich allen Thesen zustimmen, aber das sähe so unkritisch aus...:winke:

Was These 1 betrifft, so hat Marx möglichweise bewusst kein geschlossenes Modell entwickeln wollen:
In der Darstellung der Versachlichung der Produktionsverhältnisse und ihrer Verselbständigung gegenüber den Produktionsagenten gehn wir nicht ein auf die Art und Weise, wie die Zusammenhänge durch den Weltmarkt, seine Konjunkturen, die Bewegung der Marktpreise, die Perioden des Kredits, die Zyklen der Industrie und des Handels, die Abwechslung der Prosperität und Krise, ihnen als übermächtige, sie willenlos beherrschende Naturgesetze erscheinen und sich ihnen gegenüber als blinde Notwendigkeit geltend machen. Deswegen nicht, weil die wirkliche Bewegung der Konkurrenz außerhalb unsers Plans liegt und wir nur die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt, darzustellen haben. [MEW 25, S. 839]
Kann aber auch sein, dass er nur darauf verzichtet, die Psychologie der Konjunkturen und Krisen näher darzustellen.
 
Was These 1 betrifft, so hat Marx möglichweise bewusst kein geschlossenes Modell entwickeln wollen: ...
[/INDENT]Kann aber auch sein, dass er nur darauf verzichtet, die Psychologie der Konjunkturen und Krisen näher darzustellen.

Dafür hat er sich aber eingehend an anderen Stellen mit diesen Zyklen des Kapitalismus beschäftigt.

Von daher würde ich der zweiten Aussage zustimmen, hier geht es nur um den Gegensatz der Einkunftsquellen Kapital/Zins - Boden/Pacht - Arbeit/Lohn. Details stören nur die Reduzierung auf das (für Marx) Wesentliche.


Zu den Konjunkturanalysen Englands der Mittleren Wellen:

1816-1825, Krisenbeginn 1825
1826-1836, Krisenbeginn 1836
1837-1847, Krisenbeginn Okt. 1847, Zwischenkrise 1842
1848-1854/55, Krisenbeginn Sept 1854/Okt. 1855
1858-1866, Krisenbeginn Mai 1866
1867-1873, Krisenbeginn Sept. 1873
1874-1882, Krisenbeginn 1882

MEW 4/177; 7/220, 421ff.; 9/339; 10/505, 602, 604, 619; 11/96, 101; 13/156ff.; 12/49, 53, 322; 15/348; 23/28, 697; 25/430ff., 502, 504, 509, 571, 575, 583, 917; R/33, 26.2/275ff; 28/614; 29/207; 34/359, 369, 447, 370-378
 
Auch die nature widmet sich zur Abwechselung mal Karl Marx und seinem Kapital, mit einem modernen review.

http://www.nature.com/nature/journal/v547/n7664/full/547401a.html
In retrospect: Das Kapital

Das Resümee, ganz ohne theoretische Grabenkriege:
If Das Kapital has now emerged as one of the great landmarks of nineteenth-century thought, it is not because it succeeded in identifying the 'laws of motion' of capital. Marx produced a definitive picture neither of the roots of the capitalist mode of production nor of its putative demise. What he did was to connect critical analysis of the economy of his time with its historical roots. In doing so, he inaugurated a debate about how best to reform or transform politics and social relations, which has gone on ever since.

"Das Kapital ist zu einem der Meilensteine des Denkens im 19. Jahrhundert geworden, und dies erfolgte nicht, weil es in der Bestimmung irgendwelcher Gesetze zur Kapitalbewegung oder Transformation Erfolg hatte. Marx konnte weder ein definitives/zutreffendes Bild der Wurzeln kapitalistischer Produktionsweise entwickeln noch von seinem vermutlichen/vermeindlichen Untergang. Was ihm dagegen gelang, war die Verbindung der kritischen Analyse der Ökonomie seiner Zeit mit ihren historischen Wurzeln. Dabei legte er den Grundstein einer Debatte um effektive Reformen, politische Transformation und Soziale Verhältnisse und Bedingungen; eine Debatte, die seitdem anhält und fortgeführt wird."
 
Gareth Jones ist sicherlich einer der bedeutendsten Marx-Experten die es auf der Welt gibt. Dennoch erscheint mir diese Darstellung von Marx' Leistung merkwürdig. Ist es ihm wirklich gelungen, "die Verbindung der kritischen Analyse der Ökonomie seiner Zeit mit ihren historischen Wurzeln" herzustellen? Die Antwort muss ja lauten, ist aber so trivial wie unbrauchbar, weil Marx nicht der einzige war, dem dies "gelungen" ist. Meines Erachtens nach stellten die meisten Ökonomen der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte der 19. Jahrhunderts ihre Analysen auf ein historisches Fundament. Auch der kritische Charakter ihrer Analysen kann in vielen Fällen nicht bestritten werden. Adam Smith beispielsweise übte nicht nur scharfsinnige Kritik an der Wirtschaft seiner Zeit, sondern verfügte auch über ein ausgeprägtes historisches Bewusstsein und er verband seine theoretischen Schlussfolgerungen eng mit der historischen Realität, wie er sie wahrnahm.

Gerade auch im deutschsprachigen Raum passen Kameralisten und später die Vertreter der Älteren Historischen Schule, die zu Marx' Zeit aktiv waren, in dieses Raster. Mir scheint, dass Marx' Popularität weniger mit diesen beiden Aspekten, als viel mehr mit dem was Professor Jones im siebten Absatz ausführt: " Das Kapital was unique in its time for framing history not in idealist or abstract philosophical terms, but in material ones: the social and economic facts of human life." Natürlich liegt es nahe, Marx' Geschichtsphilosophie und seine ökonomischen Gesetze als idealistisch zu bezeichnen, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass seine materialistische Perspektive auf das zeitgenössische Wirtschaftssystem mit dem Fokus auf die Arbeiterklasse eine Neuheit darstellte. Gerade hierbei unterscheidet sich Marx sowohl von den angelsächsischen "Klassikern" und deren Moralphilosophie, wie auch von den deutschen Kameralisten und Nationalökonomen, die die Wirtschaft stets auch in ihrer ethischen und kulturellen Dimension untersuchten.
 
Man kann über das "historische Fundament" fachsimpeln und die Dinge verkomplizieren, man kann das aber auch ganz einfach auf den Punkt bringen.

Das war nämlich ursprünglich Sinn und Zweck dieses Themas:

"historisches Fundament" für Methodendiskurse und "Modelle" ist nichts anderes als der Einzug der Empirie. Dies setzt Leitplanken für weit schweifende Gedanken und erdet ökonomisch-philosophische Betrachtungen.
 
Zurück
Oben