Zweiverband Frankreich-Rußland

silesia

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Hierzu habe ich noch kein Thema gefunden, im allgemeinen wird als entscheidende Ursache nur auf die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages DR-RUS verwiesen.

Zweiverband ? Wikipedia
Rückversicherungsvertrag ? Wikipedia

Ist dieses Defensivbündnis tatsächlich auf eine deutsche diplomatische Veränderung (Auslaufen Rückversicherungsvertrag) zurückzuführen, oder gibt es dazu weitere wichtige Ereignisse?

Noch 1883/1885 waren die frz. diplomatischen Berichte aus Petersburg äußerst pessimistisch bzgl. einer russischen Hilfeleistung, falls das Deutsche Reich Frankreich überfallen sollte. Ein Eingreifen Rußlands wurde völlig ausgeschlossen. Zwischen 1885 und 1890 setzte nun aber eine massive französische Aufrüstung und tiefgreifende Neuorganisation ein, die auch im Ausland viel beachtet wurde.

Frankreich war mindestens bis 1885 aus russischer Sicht kein hilfreicher Bundesgenosse, das änderte sich allerdings schnell ab 1885. Umgekehrt erzeugten ständige frz. Äußerungen in Petersburg zunehmend den Eindruck, dass Frankreich einem deutsch-russischen Krieg unter keinen Umständen tatenlos zusehen werde. Ebenso änderten sich die frz. Kriegsplanungen, die von 1875 - 1889 ausschließlich defensiv an der Reichsgrenze ausgerichtet waren, ab 1889/90 offensive Überlegungen erlaubten.

Diese wachsende russische Erkenntnis der Stärke Frankreichs 1885/90 mischte sich mit der Analyse, dem militärischen Potential ggü. Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich selbst zunehmend hinterher zu hinken. Von daher drängte sich die Bündniskonstellation mit Frankreich geradezu auf, sofern Frankreich eine wirksame Unterstützung gewähren konnte. 1889/90 wurde aus dieser Erkenntnis heraus die russische Armee umgestaltet, die Verbände erhielten auch an der Westgrenze zu Deutschland nunmehr dieselbe Stärke wie gegenüber Ö-U (Zweiteilung). Diese russischen Mobilisierungs- und Konzentrationspläne gab es also schon, als die politische Annäherung zu Frankreich noch ausstand. Alle russischen Planungen gingen bereits von einer frz. Unterstützung im Kriegsfall aus (ohne Defensivbündnis RUS/FR !), sowie nunmehr von der Überlegung, dass Deutschland seine Hauptstreitkräfte gegen die russische Grenze richten werde.

Tatsächlich haben Moltke d.Ä. und Waldersee diese Absicht in den Jahren 1887-1890 auch gehabt.


Bestimmten demnach diese rein faktischen militärischen Verschiebungen in den Kräftezentren - die Schwäche Rußlands, das erstarkende Frankreich und das Deutsche Reich - die nachfolgende politische Annäherung 1890-1894, die schließlich zum Defensivbündnis RUS-FR im "Zweiverband" führte? Sind finanzielle Unterstützungen Frankreichs für Rußland ebenfalls nur nachzügig zu sehen? War bei Bismarcks Abgang die folgende, veränderte Bündniskonstellation bereits vorgezeichnet und nur noch eine Frage der Zeit bzw. der Kräftekonstellation?

Diese Blockbildung 1892/94 überdauerte immerhin dann 20 Jahre, sie erwies sich als unumkehrbar und mündete im Ersten Weltkrieg.
 
Zu den Finanzen einen Nachtrag (aus der frz. Wirtschaftsgeschichte):

Frankreich verband zunehmend ab 1880 die Auslandsanlagen [die über Börsenzulassung/Makler/Genehmigungsstellen gesteuert werden konnten - die Pariser Börse war der größte Kapitalumschlagplatz der Welt] mit der Auslandspolitik. Träger/Zeichner der Auslandsfinanzierung waren allerdings Privatleute, darunter auch geringe Vermögen. Anreize boten die höheren Verzinsungen gegenüber den geringen Zinssätzen der inländischen (frz.) Rentenpapiere.

Einen Meilenstein stellt der gescheiterte russische Versuch 1887 dar, eine Anleihe auf dem deutschen Kapitalmarkt zu plazieren. Als Aushilfe sprang bereitwillig die Pariser Börse ein, bei der 500 Mio. frcs. dann 1888 problemlos untergebracht werden konnten. Aus diesen 500 Millionen wurden bis 1914 insgesamt 52 Anleihen mit 10 Milliarden frcs (in 12 Jahren bis 1900:7,0 Mrd. frcs) und 1,6 Millionen Gläubigern (Zeichner der Anleihen). Bemerkenswerte Querverbindungen - französisch-russische "Rücksichten" - gab es auch im Verhältnis zu Drittländern: Rußland hatte Anleihen für Persien übernommen und diese in Frankreich rückfinanziert. Als sich Persien unmittelbar an Frankreich wandte, wurde die Finanzierung verweigert. Umgekehrt Japan: erst mit der japanischen Annäherung an Rußland konnte Japan 1907 wieder beachtliche Anleihen in Paris auflegen.

Zusätzlich engagierten sich frz. Investoren in der russischen Industrie. Von den in Rußland verzeichneten Auslandsinvestitionen entfielen 1/3 auf Frankreich, 1/4 auf Großbritannien und 1/5 auf das Deutsche Reich. Die frz. Beteiligungen entfielen vorwiegend auf die Stahlindustrie, die auch mit frz. know how ausgestattet wurde.


Eine planmäßige Politik bzw. Steuerung ist hinter diesen Anleihen allerdings nicht zu sehen. Der Staat konnte die Anleihen nur zulassen, nicht garantieren. Das sich Rußland in Paris finanzierte, ab 1888 finanzieren mußte, lag wesentlich an der ausfallenden "deutschen Alternative". Das hatte rein faktische Gründe, für die chronische deutsche Finanzschwäche 1885/1914 war die russische Auslandsfinanzierung bzw. der russische Kapitalbedarf der Industrialisierung in dieser Größenordnung schlicht nicht mehr darstellbar. Das Deutsche Reich wurde von den ökonomischen Anforderungen abgehängt, nicht von politischen Vorgaben, die sich ohnehin erst ab 1892 zeigten (als die Anleihen schon reihenweise vorlagen und von 1888 bis 1900 auf 7 Milliarden frcs. stiegen).

Finanzielle, politische und militärische russisch-französische Annäherung fielen also zusammen. Bei diesen gewaltigen Anziehungskräften muss man sicher deutsche Dispositionsmöglichkeiten im Bündnis sehr vorsichtig einschätzen bzw. die Fortführungschance eines Rückversicherungsvertrages skeptisch betrachten.
 
Peter März schreibt in "Der erste Weltkrieg" zur französisch-russischen Annäherung:

Preußen blieb zunächst in enger Verbindung zu Russland, vermeintlich auch noch über die Reichsgründung von 1870/71 hinweg. Aber sehr bald sollten hier die ersten feinen Risse auftreten: Die traditionelle preußisch-russische Allianz hatte von der stillschweigenden Vorraussetzung gelebt, dass Russland die Führungsmacht, Preußen der Junior-Partner war [...] Daraus resultierte schon sehr bald nach der Reichsgründung eine zunächst noch kaum merkliche Rivalität um den ersten Platz auf dem europäischen Kontinent. Russland sah sich zurückgesetzt, dazu trat in seinem eigenen Bild von europäischer Politik neben die herkömmliche zaristische Staatsräson mehr und mehr eine missionarische, panslawistische Perspektive. [...]
Zudem war die zentrale, im Resultat antirussische Festlegung, die das Deutsche Reich in der Ära Bismarck traf, das Zweibundabkommen von 1879 mit Österreich-Ungarn...


Das trifft meine Einschätzung. Aus meiner Sicht war der Zweiverband von russischer Seite aus kein Defensivbündnis, sondern ein Offensivbündnis, dass den Zweibund ausschalten sollte und so Rußland die Befreiung/Beherrschung des Balkan ermöglichen.
Die möglichen Alternativen, die ich für Russland sehe sein Ziel zu erreichen, waren einmal ein Bündniswechsel des Deutschen Reichs (also konkret die Neuralitätszusage für einen Krieg Russland-Ö.U.) oder ein Zurückweichen Österreichs auf dem Balkan.
Die Österreicher zeigten sich jedoch entschlossen den Kampf um die Kontrolle des Balkans aufzunehmen und die Deutschen ebenso entschlossen, die Österreicher zu decken.

Bismarck hat hier sehr geschickt taktiert und den Russen vorgeheuchelt er unterstütze ihre Balkan-Ambitionen, während er gleichzeitig Österreich und auch Italien und England zum Widerstand ermutigt hat. So konnte er die Angelegenheit in der Schwebe halten, denn klar war, wenn Russland sich mit Frankreich verbündet, konnte es kaum darauf rechnen, dass Berlin einen Machtgewinn auf dem Balkan kampflos zulassen würde. Also hat Russland eine feste Option für Frankreich zunächst vermieden, in der Hoffnung Deutschland vielleicht doch noch auf seine Seite zu ziehen. Ewig hätten sich die Russen aber wohl nicht an der Nase herumführen lassen.

Sobald klar war, dass freiwillig Deutschland und Ö.U. den Balkan den Russen nicht überlassen würden, war der Zweiverband unvermeidlich. Den finanziellen Nutzen (Kredite) des Zweiverbandes oder einzelne politische Schnitzer der Deutschen halte ich für zweitrangig.
Es gab auch retardierende Momente: Dass Frankreich Republik war, Frankreichs polenfreundliche Einstellung, oder dass die Franzosen im Krieg 1904/5 die Russen im Stich liessen. Diese taten aber der Festigung des Zweiverbandes keinen Abbruch. Hier ging es um das grundsätzliche Macht-Interesse Russlands.
 
Da hast Du sicher die ganz überwiegende Meinung dargestellt, die diese Betrachtungen auf die russische Balkanpolitik abstützt. Dennoch habe ich da Zweifel:

- in mehr als 10 Jahre nach der von Dir skizzierten und zitierten Feindfixierung (Zweibundabkommen) tat sich ... jedenfalls nicht viel in den Konstellationen. wie in der Politik, so rangen auch beim Militär in Rußland die deutschfeindlichen und deutschfreundlichen Flügel in diesem Zeitraum.

- Rußland sah in dieser Phase Ö-U als den Gegner an, seine militärischen Köpfe planten an der westgrenze noch defensiv. Interessant ist, dass die russischen Planungen vor dem Zweiverband bereits "gegen" Deutschland umstrukturiert wurden. Und auch in Fernost zogen am Horizont neue Konstellationen/Konkurrenten auf (die sich ein Jahrzehnt später 1895 mit Shimonoseki realisierten), bei offener Chinesischer Frage.

- zum Bündnis gehören mindestens 2; die Darstellung oben sollte darauf hinweisen, dass Frankreich für Rußland als Bündnispartner bis 1890 eben nicht "reif" war. Im Gegenteil, ein frühzeitiges Bündnis mit einem schwachen Partner Frankreich, zugleich in einem Jahrzehnt eigener Umwälzungen und Schwäche, mußten definitiv die Gegnerschaft Deutschlands festlegen.

- die Festlegung auf Deutschland hätte Rußland erkennbar für den gigantischen Kapitalbedarf (neben die Anleihen treten noch die ausländischen Investitionen) von den Fleischtöpfen abgeschnitten. Die Modernisierung und Industrialisierung war aber Basis jeder neuzeitlichen militärischen Stärke und damit Voraussetzung für eine aggressive Balkanpolitik. Das ergänzte sich also hervorragend, und die Geldbasis stand vor dem Abkommen RUS/FRA.

Jakobs, Peter: Das Werden des französisch-russischen Zweibundes 1890-1894, aus 1968 (Dissertation), Osteuropastudien Reihe II, Band 8.



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Als Nachtrag zur "Geldbasis": die russische Anleihe von 500 Mio. frcs (etwa 400 Mio. Mark) bedeutete 1888 etwas mehr als das gesamte Jahresvolumen ausländischer Anleihen am deutschen Kapitalmarkt. Die vielzitierten deutschen Auslandsinvestitionen in Rußland beschränkten sich bis 1914 mit 2/3-Anteil auf die polnischen Gebiete, während zB allein Belgien 1914 etwa die doppelte Anzahl von Beteiligungen in Rußland im Vergleich zum Deutschen Reich hielt, und das deutsche Investitionsvolumen (nur) auf Platz 5 oder 6 in Rußland zu verorten war (gemessen an allen ausländischen Investitionen).
 
Also die überwiegende Lehrmeinung hätte ich jetzt eher so verortet, dass Russland aus Angst vor der militärischen Bedrohung durch das DR, eingeschüchtert durch deutsche Aufrüstung und Wilhelms II. martialische Sprüche, den Zweiverband zur reinen Selbstverteidigung einging.

Was das 'Jahrzehnt eigener Umwälzungen und Schwäche' betrifft, so ist auffällig, dass Russland 1905 ja nochmal einen empfindlichen Rückschlag erlitt. Im Krieg gegen Japan zeigte sich zweierlei recht deutlich:

erstens: Die russische Armee war deutlich schwächer als erwartet und einem modern gerüsteten Gegner nicht gewachsen
zweitens: Die russische Lage im Innern war instabil, ein längerer Krieg oder schwere Rückschläge im Krieg, würden innere Unruhen auslösen.

Keine solide Basis für einen Krieg gegen Deutschland. Russland war 1905 quasi verteidigungsunfähig ein deutscher Angriff wäre katastrophal gewesen. Trotzdem hat Russland nicht zurückgesteckt und am Bündnis mit Frankreich und damit an der Konfrontation mit Deutschland eisern festgehalten. Das Verteidigungsbündnis mit Deutschland wurde vom Zaren mit der schönen Begründung abgelehnt, es widerspräche den russisch-französischen Verträgen. Kurzgesagt, man hatte Frankreich bereits Unterstützung im Falle eines Angriffs auf Deutschland zugesagt und konnte daher kein Verteidigungsbündnis mit Deutschland mehr eingehen.

Die französischen Kredite waren natürlich ein zusätzlicher Anreiz, aber im Falle dass der französische Kapitalmarkt ausfällt und der deutsche zu klein ist, wäre ev. noch der britische Finanzmarkt dagewesen.
 
Die Entwicklungen von 1905ff würde ich hier außen vor lassen, da nicht für das Eingehen des Zweiverbandes entscheidend. Änderungen der Linie kann ich nicht sehen, aufgrund der Haupt-Gläubiger-Stellung Frankreichs 1905 (und Finanzierender der Reorganisation) sowie in der Schwächesituation rußlands 1905 mangels praktisch vorhandener Alternative. Für mich ist - "gesprochen" und "angedacht" wird natürlich immer, auch Tastversuche gehören zur Diplomatie- völlig unvorstellbar, dass sich ein massiv geschwächtes Rußland an Deutschland/Österreich-Ungarn andocken sollte, um damit alle Amibitonen auf dem Balkan zu begraben. Der Zweiverband war vielmehr 1905ff bedeutender als vor 1900. Von daher würde ich zwischenzeitliche Gepräche und Ideen nur als diplomatisches Geplänkel werten.

Aber dazu, hier sind wir beim kritischen Prüfen der Literaturmeinungen:
Also die überwiegende Lehrmeinung hätte ich jetzt eher so verortet, dass Russland aus Angst vor der militärischen Bedrohung durch das DR, eingeschüchtert durch deutsche Aufrüstung und Wilhelms II. martialische Sprüche, den Zweiverband zur reinen Selbstverteidigung einging..
Das ist nicht der Fall, wäre höchst oberflächlich und eine Überbewertung (bzw. selektive Wertung) des europäischen Faktors.

Nochmal zur Vorgeschichte: Rußland hatte nach 1873 mit dem Dreikaiserabkommen eine Bündnisbindung an das Deutsche Reich, ab dem Dreikaiserbund 1881 und dem Rückversicherungsvertrag 1887 eine Quasi-Neutralitätsvereinbarung. Das Bündnis war ein kurzzeitiges Intermezzo, und wurde gefolgt vom Rückzug auf Raten infolge der real existierenden Interessengegensätze zum Block DR/Ö-U. Richtig sind die Kräftespannungen, ich hatte dazu bereits auf die Umstellung der russischen Militärplanung 1889/90 in der Kräfteverteilung gegenüber DR und Ö-U hingewiesen.

Die Situation Rußland ab den 80er Jahren und Mitte der 90er erforderte, eine Einkreisung im Westen durch DR/ÖU, im Süden durch Großbritannien und in Fernost durch GB und das aufstrebende Japan zu verhindern.

Auch hier ist ein wesentlicher Faktor noch nicht angesprochen: Frankreich war der einzige potentielle Bündnispartner für die russische "Weltpolitik" also ein globaler Partner. Das konnte zuvor und bis 1894 weder das DR noch Ö-U bieten. Es wäre also zu beachten, dass der Zweiverband eine anti-britische Komponente aufweist. Deren Bedeutung ist noch abzuschätzen.


P.S. eine russische Finanzierung durch den Londoner Kapitalmarkt in den Ausmaßen der französischen Kapitalhilfen ist von 1885-1905 politisch illusorisch. Sie ist mE auch finanziell illusorisch, da die "willigen" und potentiellen Anlegerstrukturen in Paris und London unvergleichbar sind. Nach meiner Kenntnis liegen auch die Zeitpunkte der wesentlichen britischen Engagements (Stand 1914) nach 1907! - und da ist der Zweiverband bereits zementiert.
 
Die Alternative zum Zweiverband war 1905 der "Dreiverband" Frankreich-Russland-Deutschland. Das wurde den Russen ja 1905 von den Deutschen angeboten.

Das Argument - Frankreich als einziger globaler Partner - finde ich nach 1905 nicht mehr überzeugend. Gerade 1905 hat sich Frankreich als globaler Partner völlig nutzlos erwiesen im Gegesatz zu Deutschland, das im Krieg gegen Japan unterstützt hat. Wenn man von seinem Feind mehr Unterstützung erhält als von seinem engsten Verbündeten, wäre das normalerweise ein Anlaß, die Bündnisplanung zu überdenken.
 
Die Alternative zum Zweiverband war 1905 der "Dreiverband" Frankreich-Russland-Deutschland. Das wurde den Russen ja 1905 von den Deutschen angeboten.

Testballone gab es immer, reine Verzögerungstaktik aus Sicht Rußlands. Oben hast Du in #5 von der Furcht vor einem deutschen Präventivkrieg in der russischen Schwächephase geschrieben. Bereits ein Verband DR/FRA war illusorisch. In die Phase paßt übrigens Schlieffens Vermächtnis, nämlich der "Schwerpunkt West" - aufgrund der temporären russischen Schwäche.

Man sollte übrigens Zweckbündnisse in der Peripherie (so DR/RUS zB 1895 betreffend Shimonoseki, 1905 bzgl. Krieg gegen Japan, dass Deutschland in Fernost zwickte) von den kontinentaleuropäischen Gegensätzen und der Orientalischen Frage trennen.

Das Argument - Frankreich als einziger globaler Partner - finde ich nach 1905 nicht mehr überzeugend. Gerade 1905 hat sich Frankreich als globaler Partner völlig nutzlos erwiesen im Gegesatz zu Deutschland, das im Krieg gegen Japan unterstützt hat. Wenn man von seinem Feind mehr Unterstützung erhält als von seinem engsten Verbündeten, wäre das normalerweise ein Anlaß, die Bündnisplanung zu überdenken.

Frankreich war nicht nutzlos, sondern passiv. Dieses ist in Zusammenhang mit Großbritannien zu sehen. Dass sich Frankreich dann als überaus/entscheidend nützlich erwies, nämlich als Bindeglied, kann man an der nachfolgenden britisch-russischen Annäherung in den nächsten Monaten ersehen.

Die deutsche Unterstützung beschränkte sich - platt gesagt- gegen Japan auf eine paar Schiffstransporte und ein paar Versorgungseinsätze in der Nordsee für die russische Flotte auf ihrem Weg nach Tsushima. Diese Unterstützung war durch den anschwellenden Interessengegensatz in Fernost anti-japanisch und nicht etwa pro-russisch (Japan war außerdem durch das Bündnis mit Großbritannien festgelegt, aber die dt.-britischen Gegensätze müssen wir hier wohl nicht reinziehen).

Schröder spricht bzgl. des frz.-russ. Bündnisses von einem "cornerstone" mit dem Fundament einer Militärkonvention für die Außen- und Sicherheitspolitik beider Staaten. Nachdem die Interessenregelung zwischen FRA und GB 1904 global erfolgt ist, war doch der weitere Weg - nämlich Ausgleich GB/RUS - geradezu vorgezeichnet. Die Militärs von RUS und GB verhandelten bereits seit Januar 1906 am Tisch, was aus russischer Sicht nach der Niederlage und vor den kommenden Umwälzungen zwingend notwendig war.
 
Wieso Testballone? Der Vertrag war doch schon unterzeichnet und wurde dann von den Russen nicht ratifiziert.
Warum war ein Verband DR/FRA illusorisch? In ausnahmslos allem was ich zum Thema 2. WK gelesen habe stand, dass Frankreich keinerlei Absicht hatte das DR anzugreifen. Was sprach also aus französischer Sicht gegen einen Nichtangriffspakt? Hätte Frankreich - eine deutsch-russische Annäherung vorrausgesetzt - überhaupt riskieren können wieder in diplomatische Isolation zu geraten?

Die deutsche Unterstützung gegen Japan war soweit mir bekannt sowohl antijapanisch als auch prorussisch, denn die Deutschen hofften, dass sich Russland von seinen passiven Verbündeten enttäuscht abwenden würde, und die Entente damit gesprengt wäre.

Gegen Japan war Frankreich sowohl passiv als auch nutzlos. Für einen Krieg gegen Deutschland natürlich nicht. Im Gegenteil ohne Frankreich war ein solcher Krieg nicht zu führen und hier war natürlich mit Frankreichs vollem Einsatz zu rechnen. Letztendlich war Frankreichs Unterstützung aber auch im 1. WK nutzlos, denn Russland erlitt trotzdem eine völlige Niederlage.
Zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass Russland 1905 die Wahl zwischen einem Ausgleich mit Deutschland und dem Untergang hatte und dann den Untergang gewählt hat. Was mir nicht klar ist, ist das warum.
 
Der Vertrag war doch schon unterzeichnet und wurde dann von den Russen nicht ratifiziert.
Kannst Du das etwas erläutern?
1. Marokkokrise, Erste Marokkokrise, Marokkokrise von 1905 und die Konferenz von Algeciras 1906

Genau das ist auf russischer Seite klar erkannt worden, war ja auch zu offensichtlich:
Die deutsche Unterstützung gegen Japan war soweit mir bekannt sowohl antijapanisch als auch prorussisch, denn die Deutschen hofften, dass sich Russland von seinen passiven Verbündeten enttäuscht abwenden würde, und die Entente damit gesprengt wäre.
Die simple Frage ist hier: was bringt das, was verliert Rußland.

Daher sollte man den Hintergrund beachten, denn Dein Hinweis spricht genau den entscheidenden Punkt an. Die wunden Punkte für die russische Politik kann man regional eingrenzen:

- Balkan und Orientalische Frage
- Persien und Indien
- Fernost.

In Fernost war das DR (bis auf die Nordsee-Versorgung) nutzlos gegen Japan. Dieses stand im festen Bündnis mit Großbritannien, dieses wiederum hatte mit Frankreich seine globalen Probleme 1904 "geordnet". Für Fernost gegen Japan fallen also alle Partner wegen Passivität aus - kann gestrichen werden.

Persien und Indien waren die großen Reibungspunkte mit Großbritannien, und hier befand man sich seit 1903 in gutem Fortschritt (Januar 1906 setzte man sich dann für letzte Runde an den Tisch). Der Ausgleich mit Großbritannien war 1905 bereits greifbar, und der Bündnispartner Frankreich schraubte daran seit 1904 kräftig mit.

Bleibt die Konfrontation mit DR/ÖU auf dem Balkan, die sich nur regeln ließe, wenn das DR seinen Verbündeten Ö-U im Stich läßt - die russische Nebenbedingung für jeden Pakt mit dem DR.

Dazu tritt aber noch Wesentliches hinzu: das aus russischer Sicht höchst besorgniserregende und anschwellende deutsche Engagement im Mittleren Osten/bis Persien. Wirtschaftliche und politische Entwicklungen wurden hier in einen Topf geworfen.
Wichtig ist, dass RUS und GB über genau diese Entwicklung bereits 1899 mit gemeinsamen Interessen ins Gespräch kamen: Verhinderung des deutschen Einflusses oder einer Bedrohung russischer (-> Persien) oder britischer (->Indien) Interessen. Der Punkt ist mE der wichtigste Baustein in der russisch-britischen Annäherung bis 1907, und er setzt bereits vor der russischen Schwächephase aufgrund der Niederlage gegen Japan in Fernost an. Die deutsche Diplomatie hat diesen Effekt imho nie richtig begriffen:
1. sowohl die ereignisse in Südafrika als auch die im Nahen/Mittleren Osten wurden als massive Gefährdung der britischen Indien-Position wahrgenommen
2. diejenigen im Nahen/Mittleren Osten wurden als Gefährdung der russischen Position wahrgenommen.

Dass dann der pro-forma-Knackpunkt "Bekanntgabe an Frankreich" für ein Dt.-russ. Abkommen gefunden und auf den Tisch gebracht wurde, halte ich für einen eleganten diplomatischen Schachzug der russischen Seite, um die vom DR angestossenen Gespräche leise sterben zu lassen.


Warum war ein Verband DR/FRA illusorisch? In ausnahmslos allem was ich zum Thema 2. WK gelesen habe stand, dass Frankreich keinerlei Absicht hatte das DR anzugreifen. Was sprach also aus französischer Sicht gegen einen Nichtangriffspakt?
Der wahrgenommene deutsche Militarismus, mangelnde Zuverlässigkeit, Elsaß-Lothringen, der widerwärtige Kaiser, die deutschen "Mittelafrika-Ambitionen" etc.

Hätte Frankreich - eine deutsch-russische Annäherung vorrausgesetzt - überhaupt riskieren können wieder in diplomatische Isolation zu geraten?
Da die Annäherung aufgrund der Konflikte nicht zur Diskussion stand, und aufgrund der deutschen Expansionsbestrebungen auch mittelfristig nicht ernsthaft zur Diskussion stehen würde (mal ganz von der antideutschen Gruppe in Rußlands Politik und Militär abgesehen), stellte sich die Frage nicht.


Zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass Russland 1905 die Wahl zwischen einem Ausgleich mit Deutschland und dem Untergang hatte und dann den Untergang gewählt hat. Was mir nicht klar ist, ist das warum.
Die Frage nach dieser Wahl ist rein hypothetisch, da das in dieser Zuspitzung niemand in der russischen Führung wahrgenommen hat, auch nicht im Juli 1914.


EDIT: noch zwei Nachträge
Hätte Frankreich - eine deutsch-russische Annäherung vorrausgesetzt - überhaupt riskieren können wieder in diplomatische Isolation zu geraten?
Wir kommen hier leider wieder von den ökonomischen Zwängen ab. Das ist etwas, was mich an den meisten "Polithistorien" stört - sie spielen mit Konstellationen, ohne diesen Aspekt angemessen zu untersuchen und zu beurteilen. Die Frage ist nämlich 1905, wer hier wen an der Angel hat. Der industrielle Aufbau Rußlands war ohne die zig-Milliarden französischer Kapitalhilfe undenkbar. Und 1905 benötigte man die Milliarden für die Reorganisation des russischen Militärs nach der Niederlage und auch für die weitere russische Industrialisierung als Basis jeder militärischen Kraft dringender denn je.

Zweitens: als weitere große Bruchstelle zwischen GB und RUS nach Interessenausgleich Persien/Indien und russischem Dämpfer in Fernost durch Bündnispartner Japan kamen die Dardanellen in Betracht. Das konnte man aus russischer Sicht bei einem zweckmäßigen Übereinkommen mit Großbritannien an der Südflanke und in den anderen Frage ganz locker auf eine jahrzehntelange Bank schieben: "vor" den Dardanellen lag stets die Beseitigung Ö-U (dem der Partner DR anklebte), und das wachsende deutsche Engagement.
 
Zuletzt bearbeitet:
Kannst Du das etwas erläutern?
Ich bezog mich auf den Vertrag von Björko, den Wilhelm und der Zar unterzeichnet hatten.

Bleibt die Konfrontation mit DR/ÖU auf dem Balkan, die sich nur regeln ließe, wenn das DR seinen Verbündeten Ö-U im Stich läßt - die russische Nebenbedingung für jeden Pakt mit dem DR.
Ebend. Und das Bündnis mit Frankreich garantierte, dass das DR seinen Verbündeten Ö.-U. auf jeden Fall unterstützen würde. Die Annektion Bosniens 1908 war die logische Konsequenz aus dem russisch-franz. Bündnis. Erfolge auf dem Balkan waren durch ein Bündnis mit Frankreich nicht zu erringen, im Gegenteil, sie wurden durch ein solches Bündnis ausgeschlossen.
Der Punkt ist, dass Deutschland jeden russischen Erfolg hintertreiben konnte und auch würde, sobald feststand, dass am russ.-französischen Bündnis nicht zu rütteln ist. Frankreich konnte das nicht. Frankreich war als Bündnispartner sicher attraktiver, aber als Gegner dafür viel ungefährlicher.
Differenzen Russlands mit Deutschland im Mittleren Osten gab es, aber die wurden noch vor dem 1.WK und trotz russ.-franz. Annäherung schiedlich beigelegt, waren also nicht unüberwindlich.

Der wahrgenommene deutsche Militarismus, mangelnde Zuverlässigkeit, Elsaß-Lothringen, der widerwärtige Kaiser, die deutschen "Mittelafrika-Ambitionen" etc.
Schließt das einen Nichtangriffspakt aus? Hitler, der noch widerwärtiger und unzuverlässiger war als der Kaiser, hatte da keine Schwierigkeiten Vertrags-Partner für zu finden.

Da die Annäherung aufgrund der Konflikte nicht zur Diskussion stand, und aufgrund der deutschen Expansionsbestrebungen auch mittelfristig nicht ernsthaft zur Diskussion stehen würde (mal ganz von der antideutschen Gruppe in Rußlands Politik und Militär abgesehen), stellte sich die Frage nicht.
Die deutschen Expansionsbestrebungen richteten sich aber hauptsächlich gegen England und Frankreich (Platz an der Sonne) und weniger gegen Rußland oder den Balkan. Die Antideutsche Gruppe in Rußland war meines Wissen hauptsächlich gegen Österreich eingestellt.
Welche Konflikte meinst du, aufgrund derer eine Annäherung Rußlands an Deutschland nicht zur Diskussion stand?

Die Frage nach dieser Wahl ist rein hypothetisch, da das in dieser Zuspitzung niemand in der russischen Führung wahrgenommen hat, auch nicht im Juli 1914.
Die Frage wäre dann, warum hat niemand in der russischen Führung das wahrgenommen?

Der industrielle Aufbau Rußlands war ohne die zig-Milliarden französischer Kapitalhilfe undenkbar. Und 1905 benötigte man die Milliarden für die Reorganisation des russischen Militärs nach der Niederlage und auch für die weitere russische Industrialisierung als Basis jeder militärischen Kraft dringender denn je.
Das hieße dann, dass Frankreich sich die russische Armee gekauft hat. Die Frage ist dann aber immer noch wofür. Für einen Krieg gegen das DR zur Wiedererlangung Elsaß-Lothringens oder als Schutzmacht gegen das bedrohlich anwachsenden DR.

Das konnte man aus russischer Sicht bei einem zweckmäßigen Übereinkommen mit Großbritannien an der Südflanke und in den anderen Frage ganz locker auf eine jahrzehntelange Bank schieben: "vor" den Dardanellen lag stets die Beseitigung Ö-U (dem der Partner DR anklebte), und das wachsende deutsche Engagement.
Das scheint mir unplausibel. Erstens brauchte Rußland dringend außenpolitische Erfolge aufgrund der Pleite gegen Japan und der innenpolitischen Spannungen. Zweitens lag die Beseitigung Ö.-U. nicht zwingend "vor" den Dardanellen. Österreich musste lediglich neutralisiert werden, was dem DR ein leichtes gewesen wäre. Lag deutscherseits Zustimmung vor, zur Erlangung der Dardanellen, konnte Österreich gar nichts mehr machen.

Nochmal zur simplen Frage "was bringt das, was verliert Rußland?" Also konkret: was hätte Russland gewonnen, wenn der Vertrag von Björko in Kraft getreten wäre?

Im wesentlichen drei Dinge
1.) Einen Keil zwischen Deutschland und Österreich treiben.
2.) Verhinderung eines europäischen Krieges.
3.) Wohlwollende Neutralität des DR gegenüber Russland bei Streitigkeiten mit Dritten. Insbesondere bei Streitigkeiten mit Ö.-U. oder GB im Falle eines Versuches Konstantinopel zu annektieren.
 
Dazu vorab:
Ich bezog mich auf den Vertrag von Björko, den Wilhelm und der Zar unterzeichnet hatten..

Das war mir schon klar. Was wurde denn hier unterschrieben? -

Hat nicht der Zar recht geschickt den ihm auf den Pelz rückenden Wilhelm auf die Zeitschiene gesetzt? Der Ausweg war ein diplomatischer Zug, der die deutsche Seite (zunächst) nicht verprellte, ohne Substantielles einzuräumen:

Nikolaus II. an Wilhelm am 7.10.1905:
"... Du weißt natürlich, daß in wenigen Tagen die Ratifikation des Friedensvertrages von Portsmouth unterzeichnet werden wird. Dann kann vermutlich unser Einverständnis von Björkö ins Leben treten... Die große Frage ist, Frankreich gemäß Artikel IV des Björkö-Vertrages in unser Verteidigungsbündnis einzubeziehen. Wenn aber Frankreich es ablehnen sollte, sich mit uns zu verbinden, so würde nicht nur Artikel IV wegfallen, sondern auch der Sinn von Artikel I würde sich von Grund aus ändern, weil bei der gegenwärtigen Fassung seine Verpflichtungen auf jede europäische Macht abzielen, also auch auf Frankreich – Rußlands Verbündeten... Die ersten Schritte, die zum Zweck der Feststellung unternommen wurden, ob Frankreich veranlaßt werden könnte, unserm neuen Vertrage beizutreten, haben uns gezeigt, daß es eine schwierige Aufgabe ist, und daß es viel Zeit kosten wird, das freiwillige Hinübertreten Frankreichs auf unsere Seite vorzubereiten. Wenn wir voreilig die Dinge mit Gewalt beschleunigen, könnte Frankreich in gegnerische Arme getrieben werden und die Vorschläge nicht geheimhalten. Ich denke daher, das Inkrafttreten des Björkö-Vertrages sollte aufgehoben werden, bis wir wissen, wie Frankreich sich dazu stellen wird..."

Ich wäre überrascht, wenn diese Option/dieser Ausweg iFd Artikel IV der russischen Seite "zufällig" erst im Nachgang aufgefallen sein sollte - die Argumentation von Nikolaus im Brief zeigt präzise auf, unter welchen Vorbehalt "der Entwurf" gesetzt war und welche Rückzugstür dann beschritten wurde. Dagegen mutet der deutsche Streit um die Formulierung "europäisch" bzw. "in Europa" von Artikel I etwas amateurhaft an.
-> Rönnefarth, Vertrags-Ploetz III/2, S. 412.


EDIT: Artikel IV:
"Der Kaiser aller Reußen wird, nachdem dieser Vertrag in Kraft getreten ist, die notwendigen Schritte tun, um Frankreich in diesen Vertrag einzuweihen, und es auffordern, ihr als Verbündeter beizutreten."
 
Zuletzt bearbeitet:
Der Punkt ist, dass Deutschland jeden russischen Erfolg hintertreiben konnte und auch würde, sobald feststand, dass am russ.-französischen Bündnis nicht zu rütteln ist. Frankreich konnte das nicht. Frankreich war als Bündnispartner sicher attraktiver, aber als Gegner dafür viel ungefährlicher.
Militärisch neutralisierte Frankreich seit 1890 stets 90+% der deutschen Armeestärke. Das ist ein hoch zu gewichtender Aspekt für Rußland. Frankreich war nach 1904 (aktuell auf Björkö) zudem der Schlüssel zum russisch-britischen Interessenausgleich mit der sich anbahnenden Triple-Entente, zuvor (1890) zugleich ein Gegengewicht für den russisch-britischen Gegensatz. Frankreich wurde nicht zufällig in dem Moment als Partner interessant, als es die Schwäche nach 1871 überwunden und zugleich eine gewaltige Finanzkraft auf den Tisch legen konnte. 1905 war Frankreich noch wertvoller - wie letztlich auch Schlieffens Denkschrift belegt, die Rußland in dieser Phase vernachlässigen konnte.

Ein Weiteres: die Zuverlässigkeit. Sollte man wirklich auf den für den russisch-österr. Konflikt unsicheren Kandidaten Deutschland setzen? Sollte man auf den Kandidaten Deutschland setzen, der sich ökonomisch seit Bismarck mit Rußland scharf angelegt hatte und mit dem erst seit Caprivi mittelmäßig auszukommen war? Der Schlüssel für den dt.russ. Gegensatz seit 1890 bilden für einige Historiker durchaus die großagraischen Interessengruppen beider Länder.
Regulski, Christoph: Die Handelvertragspolitik im Kaiserreich - Regierungshandeln, Verbandspolitik und publizistische Debatte seit den 1890er Jahren, 2001

zur ökonomischen Seite ein interessanter Satz: ".. notgedrungen auch eine Hinwendung zu England vollziehen würde; das Schicksal der dt.-russ. Bündnisgespräche vom Spätherbst 1904 [ ... bis Björkö] war ein deutlicher hinweis darauf, und die Tatsache, dass [Rußland seinen] ... Kapitalbedarf nur mit französischer Hilfe würde decken können." (Moritz, s.u.)


Die deutschen Expansionsbestrebungen richteten sich aber hauptsächlich gegen England und Frankreich (Platz an der Sonne) und weniger gegen Rußland oder den Balkan.
Erstmal ist weniger die Frage, welche Bestrebungen tatsächlich vorhanden waren, als vielmehr, welche Wahrnehmung vom Deutschen Reich in Rußland bestand. Hierzu zwei Aspekte: die "germanische Gefahr" und der "germanische Drang nach Osten" in russischer Wahrnehmung nach 1900 ist etwa das Spiegelbild der panslawistischen Kampagne im Deutschen Reich mit dem Höhepunkt in den 1880ern und 90ern. Mit diesem so gesehenen "aggressiven Germanismus" war keineswegs Ö-U gemeint.

Die Antideutsche Gruppe in Rußland war meines Wissen hauptsächlich gegen Österreich eingestellt.Welche Konflikte meinst du, aufgrund derer eine Annäherung Rußlands an Deutschland nicht zur Diskussion stand?
Weiter zum deutschen Platz an der Sonne ab 1911: in 30 Jahren wurde vieles ausprobiert, und die Bilanz 1911 nach der 2. Marokko-Krise lies im Schwerpunkt nur den Nahen Osten übrig - diesen "Schwerpunkt" nach 1911 behandelt im Übrigen ebenfalls die Fischer-Fraktion ausführlich. In Südamerika biss man inzwischen bei den erstarkten USA auf Granit, in Fernost war gegen GB plus das aufkommende JAP kaum mehr etwas zu holen. In Afrika konnte man mit Ausnahme etwaig von nachrangigen Mächten zu beerbender Räume von einem statischen Zustand sprechen (über Südafrika hatte man den hier entscheidenden Bruchpunkt zu GB geschaffen).

Das hieße dann, dass Frankreich sich die russische Armee gekauft hat. Die Frage ist dann aber immer noch wofür. Für einen Krieg gegen das DR zur Wiedererlangung Elsaß-Lothringens oder als Schutzmacht gegen das bedrohlich anwachsenden DR.
Ich sehe aus Sicht des Ursprungs 1885/1890 das zweite Argument: eine Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit, dazu die sehr gute Abschätzung bei:
Moritz, Albrecht: Das Problem des Präventivkrieges in der deutschen Politik während der ersten Marokkokrise, 1974, Europ. Hochschulschriften III/36


Das scheint mir unplausibel. Erstens brauchte Rußland dringend außenpolitische Erfolge aufgrund der Pleite gegen Japan und der innenpolitischen Spannungen. Zweitens lag die Beseitigung Ö.-U. nicht zwingend "vor" den Dardanellen. Österreich musste lediglich neutralisiert werden, was dem DR ein leichtes gewesen wäre. Lag deutscherseits Zustimmung vor, zur Erlangung der Dardanellen, konnte Österreich gar nichts mehr machen.
Die Reihenfolge hatte ich eigentlich auf die Blöcke und ihre fortbestehenden möglichen Interessengegensätze bezogen. Ich wollte damit nur zu denken geben, dass der russische Traum von den Dardanellen ein sehr fernliegender gewesen ist. Naheliegend/Entscheidend für die Einigung mit GB waren die russische Südgrenze/Persien sowie Fernost, die möglichen Spannungen beim Drang zum Mittelmeer spielten mE eine völlig untergeordnete Rolle. Zumindest habe ich dazu nichts Gegenteiliges parat, hast Du entsprechende Literaturhinweise?

Ich sehe das so: spätestens etwa ab Mitte der 1890er war die Balkanfrage für Rußland hinter die klar imperialistischen Ziele in Fernost und an der Südgrenze/Persien/Afghanistan zurückgetreten. Das paßt durchaus mit entsprechend fortgesetzter Rückendeckung der "slawischen Brüder" zusammen. Die zeitnahen imperialistischen Ziele lagen im Süden und im Osten, weniger auf dem Balkan.


Nochmal zur simplen Frage "was bringt das, was verliert Rußland?" Also konkret: was hätte Russland gewonnen, wenn der Vertrag von Björko in Kraft getreten wäre?
Wie oben gezeigt, ist der Vertragsentwurf ohnehin bei fehlendem Beitritt Frankreichs Makulatur. Entscheidend war allerdings, dass der Vertrag DEU/RUS den kurz bevorstehenden und seit Jahren sondierten Interessenausgleich mit Großbritannien verhindern würde. Diese Einigung war mit der Schwächephase Rußlands in Fernost dringend notwendig, zumal er auch die Reorganisation und weitere Industrialisierung befördern würde. Als Höhepunkt vor dem Ersten Weltkrieg stand schließlich das Flottenabkommen.

Dagegen konnte das Deutsche Reich - nicht nur wegen der seit 1899 zusätzlich aufsteigenden Reibung im Mittleren Osten - außer globalem Konfliktstoff mit FRA und GB wenig bieten. 1905 darf man auch kaum die Weitsicht bzgl. einer zukünftigen Bindung der britischen Flotte in der Nordsee 1912/1914 unterstellen (die beim russisch-britischen Flottenabkommen und der geplanten russischen/britischen/französischen Marinerüstung ohnehin ca. 1920 wieder Makulatur gewesen wäre).
 
Militärisch neutralisierte Frankreich seit 1890 stets 90+% der deutschen Armeestärke.
Aber höchstens in der russischen Wahrnehmung, realiter hat Frankreich im 1. WK vielleicht 40% der deutschen Armeestärke neutralisiert.
Der Punkt ist aber, dass Frankreich nur im Kriegsfalle die deutsche Armeestärke neutralisieren konnte. Ein Erfolg der Russen auf dem Balkan konnte nach dem Bündnisschluß mit Frankreich nur noch über einen europäischen Krieg führen.
Es war 1905 aus meiner Sicht weniger die Angst vor Frankreich, die Rußland vor einem deutschen Angriff bewahrt hat, sondern vielmehr die Hoffnung der Deutschen, die Russen wieder auf ihre Seite zu ziehen.
Das DR hat nicht versucht, Russland 1905 "den Rest zu geben", sondern vielmehr Russland zu unterstützen. Der Krieg gegen Japan war überhaupt nur möglich, weil mit einem deutschen Angriff nicht zu rechnen war. Wäre der russisch-japanische Krieg erst 1914 gewesen, hätte Russland wohl nicht seine Armee in die Mandschurei verlegen können.

Der finanzielle Aspekt ist für mich sehr schwer einzuschätzen. Hätten die Franzosen, im Falle einer deutsch-russischen Annäherung, die Kredite für Russland blockiert oder gar "abgezogen"? Hat Russland dies befürchtet? Hofften die russischen Großagrarier, durch das französische Bündnis, den deutschen Agrarmarkt irgendwie öffnen zu können?

Mit diesem so gesehenen "aggressiven Germanismus" war keineswegs Ö-U gemeint.
Wurde die "germanische Gefahr", denn in der russischen Führung so gesehen? Ich dachte das wäre mehr die Begleitmusik zur Anti-Deutschen Politik gewesen.

und die Bilanz 1911 nach der 2. Marokko-Krise lies im Schwerpunkt nur den Nahen Osten übrig
Allerdings kam man im Nahen Osten ebenfalls mit GB und dazu mit Russland ins Gehege. Zudem war hier nur ein informeller Imperialismus möglich, der sich auf das marode Osmanische Reich stützte, dass jeden Moment zusammenkrachen konnte. In Afrika dagegen war GB zumindest zu Zugeständnissen bereit.

Ich sehe aus Sicht des Ursprungs 1885/1890 das zweite Argument: eine Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit
Und wurde diese Lebensversicherung dann ab 1905 in ein Angriffsbündnis umgewandelt? Und wenn ja, warum?

Ich sehe das so: spätestens etwa ab Mitte der 1890er war die Balkanfrage für Rußland hinter die klar imperialistischen Ziele in Fernost und an der Südgrenze/Persien/Afghanistan zurückgetreten. Das paßt durchaus mit entsprechend fortgesetzter Rückendeckung der "slawischen Brüder" zusammen. Die zeitnahen imperialistischen Ziele lagen im Süden und im Osten, weniger auf dem Balkan.
Ich sehe das genau umgekehrt: ab 1905 war der Balkan das Expansionsziel schlechthin, nachdem die Expansion im Fernen Osten spektakulär gescheitert.
Immerhin bekam Ö-U die "Erlaubnis" zur Annektion Bosnien-Herzegowinas durch das Versprechen, Russland in der Dardanellenfrage zu unterstützen.
Den Panslawismus und das russ.-franz. Bündnis, sowie den Ausgleich mit GB sehe ich als Versuch, die Erfolge auf dem Balkan mit der Brechstange durchzudrücken. Auf Expansion in Persien/Afghanistan hat Russland verzichtet (Ausgleich mit GB) um den Druck auf den Balkan erhöhen zu können.
Wegen Literatur werd ich mal gucken.

Wie oben gezeigt, ist der Vertragsentwurf ohnehin bei fehlendem Beitritt Frankreichs Makulatur. Entscheidend war allerdings, dass der Vertrag DEU/RUS den kurz bevorstehenden und seit Jahren sondierten Interessenausgleich mit Großbritannien verhindern würde.
Russland hat aber gar nicht versucht, einen Beitritt Frankreichs zu erreichen. Der Vertrag war schon vorher Makulatur.
Den Interessenausgleich mit GB sehe ich nicht gefährdet. Gerade wenn Russland vom deutschen Druck auf die Westgrenze befreit ist, wird es für GB umso dringlicher, sich die Russen vom Leibe zu halten.
 
Aber höchstens in der russischen Wahrnehmung, realiter hat Frankreich im 1. WK vielleicht 40% der deutschen Armeestärke neutralisiert. (1)
...
Es war 1905 aus meiner Sicht weniger die Angst vor Frankreich, die Rußland vor einem deutschen Angriff bewahrt hat, sondern vielmehr die Hoffnung der Deutschen, die Russen wieder auf ihre Seite zu ziehen. (2)
(zu 1) Das konnte man 1890 nicht erahnen, nach der Reorganisation 1905 wohl ebenfalls nicht. Schlieffens Programmatik 1905 hat aber sicherlich auch einen temporären Aspekt vor dem Hintergrund der russischen Schwäche.

Bereits Bismarck formulierte in den Jahren vor seiner Entlassung, dass es bzgl. eines Ostfeldzuges keine geographischen Punkte geben würde, die einen Kriegsschluss mit Rußland erzwingen ließen. Den völligen Zusammenbruch hatte man nicht auf der Rechnung, zumal wohl auch noch nach 1905 die inneren Entwicklungen kaum vorprogrammiert erschienen.

(zu 2) das sehe ich auch so, was zugleich die russische Diplomatie verständlich werden läßt, eine Art Appeasement ggü. dem Deutschen Reich in der Schwächephase. Die deutsche Diplomatie inkl. Wilhelm II. hat wiederum kurzfristige Bündnissondierungen und geographisch mögliche, temporär vorteilhafte Zweckbündnisse nicht von der langfristig trennenden Basis unteschieden. Ein Paradebeispiel ist die kurzlebige Fernost-Triple Entente FRA/RUS/DEU.
 
Der finanzielle Aspekt ist für mich sehr schwer einzuschätzen. Hätten die Franzosen, im Falle einer deutsch-russischen Annäherung, die Kredite für Russland blockiert oder gar "abgezogen"? Hat Russland dies befürchtet? Hofften die russischen Großagrarier, durch das französische Bündnis, den deutschen Agrarmarkt irgendwie öffnen zu können?
Den Streit der Agrarier zw. DEU und RUs würde ich bei den entscheidenden Trennungspunkten einsortieren, auch wenn es Phasen der Annäherung gab.

Die Masse an Kapital, die der Zarenstaat für die Industrialisierung ab 1885 und zur Reorganisation von Wirtschaft und Industrie seit 1905 benötigte, war wohl sonst nirgends zu beschaffen.


Allerdings kam man im Nahen Osten ebenfalls mit GB und dazu mit Russland ins Gehege. Zudem war hier nur ein informeller Imperialismus möglich, der sich auf das marode Osmanische Reich stützte, dass jeden Moment zusammenkrachen konnte. In Afrika dagegen war GB zumindest zu Zugeständnissen bereit.
Afrika würde ich neben der Flottenrüstung und der Bedrohung im Nahen Osten als den wichtigsten Konfliktpunkt DEU/GB sehen - immer in der britischen Perspektive der Bedrohung des Kronjuwels Indien. Die damilge britische Sichtweise ist nicht überspitzt auf den Punkt zu bringen, dass der Verlust Indiens den Zusammenbruch des Empires bedeuten würde. Entsprechend gestreßt wurde selbst auf den Zusammenstoss mit DEU in Südafrika reagiert, obwohl es sich hier um eine weit entfernt, gegenüber liegende Küste handelt.


Und wurde diese Lebensversicherung dann ab 1905 in ein Angriffsbündnis umgewandelt? Und wenn ja, warum?.

Könntest Du das Angriffsbündnis genauer erläutern?

Vom Militärpakt FRA/RUS 1892 bis zum Flottenabkommen FRA/RUS 1912 dauerte es 2 Jahrzehnte. Zugleich gab es 1912 die geheime Absprache FRA/GB über das Vorgehen im Kriegsfall gegen DEU. Dazwischen liegt die Interessenregelung GB und RUS von 1907, die zunächst dem Mittleren und Fernen Osten diente, forciert sicher durch die ähnlichen Interessenausgleich 1904 FRA/GB. 1914 stand zudem das Flottenabkommen RUS/GB vor der Tür.

Ich glaube, dass sich die russische Position sehr verschoben hat.
Das 1892er Bündnis muss man von beiden Paktpartnern noch als anti-britisch verstehen, also auch in dieser Richtung als Lebensversicherung.

Wenn man einen ganz langfristigen Plan auf Seiten Russlands sieht, dann möglicherweise folgenden: Absicherung der beiden Partner gegen GB, sodann ergibt sich für RUS eine komfortable Postion im Angesicht des ständig schwächer werdenden Österreich-Ungarns: zu gegebener Zeit Teilung dieses Reiches zwischen DEU und RUS, wobei DEU dann an die Adria reichen würde, die slawischen Gebiete bis nach Konstantinopel. Selbst in diesem verwirklichten Szenario gibt es für FRA keine Option: vorher ist der Ausstieg aus dem Pakt nicht möglich, da RUS sich als frz. Lebensversicherung gegen den deutschen Präventivkrieg begriff. Sind die beiden großen Kontinentalmächte durch Teilung Ö-U entstanden, besteht für Frankreich erst recht keine Möglichkeit des Ausstiegs aus dem Bündnis mit RUS. DEU wiederum wurde wohl in diesem Ablauf (der auch diplomatisch von RUS mehrfach angedeutet wurde) keine Handlungsalternative beigemessen, wenn Ö-U von innen zerbrechen würde.
 
Ich sehe das genau umgekehrt: ab 1905 war der Balkan das Expansionsziel schlechthin, nachdem die Expansion im Fernen Osten spektakulär gescheitert.
Immerhin bekam Ö-U die "Erlaubnis" zur Annektion Bosnien-Herzegowinas durch das Versprechen, Russland in der Dardanellenfrage zu unterstützen.
Den Panslawismus und das russ.-franz. Bündnis, sowie den Ausgleich mit GB sehe ich als Versuch, die Erfolge auf dem Balkan mit der Brechstange durchzudrücken. Auf Expansion in Persien/Afghanistan hat Russland verzichtet (Ausgleich mit GB) um den Druck auf den Balkan erhöhen zu können.

Ja, aber ...

Zunächst einmal habe ich oben auf die Entstehungsgeschichte des Zweiverbandes 1885/90 abgestellt, und da war die Interessenlage Fernost aktuell, was sich nicht mit einer Neubewertung 1905 beißen würde.

Die Frage ist nun, warum die Neubewertung, die Du implizit ansprichst, nicht erfolgt ist. Völlig richtig ist, dass Rußland speziell im Ausgleich mit GB eigentlich nur territorial verzichtet hat, insbesondere bzgl. Persien (wo drei Zonen festgelegt wurden: die nördliche russische Einflußzone, die südlich britische, und die neutralisierte Zwischenzone) und bzgl. Afghanistan. Man könnte nun zunächst einwerfen, dass die Konstellation 1905 bereits festgefügt war (mindestens kapitalseitig).

Möglicherweise liegt die russische Kalkulation doch im Fernen Osten: bis auf Tibet war dazu keine Festlegung vorhanden. Hintergrund ist das japanisch-britische Bündnis in Bezug auf den Fernen Osten, und würde ich russischerseits die Antizipation künftiger Spannungen JAP/GB sehen. Die russischen Ambitionen im Fernen Osten lagen tatsächlich vorerst auf Eis, so dass sich die Warteposition dort geradezu anbot. Jede weitere Aktivität hing vom Ausgleich mit GB ab, vom Zerbröseln der britisch-japanischen Allianz, von der weiteren wirtschaftlichen und militärischen Entwicklung Sibiriens, und vom Aufbau der russischen Seemacht ab (mit britischer Hilfe), eine der Lehren von 1905.

Die britische Seite hatte tatsächlich die russische Bedohung Indiens wohl zu jedem Zeitpunkt überbewertet. Das mag auf die schwache britische Landstreitmacht zurückzuführen sein. Jedenfalls war das Entgegenkommen GBs so weit, dass man zwar keine Zusage (die wurde von russischer Seite angesprochen!) auf die Dardanellen geben wollte, aber wohlwollende Prüfung zusagte. Tatsächlich überdachte GB zu diesem Zeitpunkt seine Blockadehaltung für Konstantinopel gegen Rußland (im Interesse der nun zunehmenden deutschen Bedrohung). Die britische Politik sah hier wohl die Wahl zwischen Scylla und Charybdis. Zudem ließ spätestens die frz-russ. Marinekonvention von 1912 die Möglichkeit einer russischen Flotte im Mittelmeer (Toulon) akut werden. 1912-1914 spielte das überhaupt keine Rolle mehr, und hinderte auch nicht die weiche britische Haltung in Bezug auf die türkischen Meerenge. Ebenso war es für Rußland der Anlaß zu diesem "2. Schritt" in Bezug auf Großbritannien.

Aber auch ohne Zugriff auf die Dardanellen bildete der Ausgleich mit GB hier eine wichtige Sicherung gegen die Sperre derselben oder die Bedrohung durch die Mittelmächte: Rußland wickelte zwischen 1903 und 1912 rd. 37% seiner Ausfuhr und 2/3 des Getreideexports durch die Dardanellen ab.

Das soll nur als Hinweis gedacht sein, dass im russischen Kalkül mit GB die Kontrolle (wenn auch nicht die Besetzung) der Meerengen gesichert werden konnte.

Quelle: Vertrags-Ploetz zu 1907 sowie Schröder: Die englisch-russische Marinekonvention.


EDIT: noch ein Nachtrag zu den Kapitalverflechtungen FRA/RUS
Der Ursprung wird häufig mit Bismarcks Lombardverbot für russische Anleihen 1887 in Verbindung gebracht. Dagegen spricht
- dass der deutsche Kapitalmarkt schlicht die von Russland erwünschten Volumina nicht darstellen konnte
- die Zinsdifferenz von zweitweise 2% zwischen dem deutschen und französischen Kapitalmarkt, die angesichts der vermutlichen russischen Volumina eine große Anziehungskraft entwickelte.
 
Zuletzt bearbeitet:
zu (1) und (2):

Vorherwissen konnte man in Russland die militärische Pleite und den späteren totalen Zusammenbruch nicht, aber ahnen schon. Schließlich hatten die Russen den Krieg "im Kleinen" gegen Japan schon einmal durchexerziert, der dann gegen Deutschland "im Großen" nochmal wiederholt wurde.
Die Parallelen sind augenfällig, von der Vorkriegsdiplomatie (Verständigungsversuche abblocken und expansive Politik betreiben bis der Gegner losschlägt), über die militärischen Niederlagen bis hin zum inneren Zusammenbruch.
Das Frankreich 90% der Deutschen Kampfkraft nicht auf Dauer sondern nur in den ersten Monaten neutralisieren konnte, hätte klar sein müssen. Und dass Deutsche und Österreicher ein härterer Brocken sind als die Japaner, auch.
Dass die Deutschen dann auch noch die Briten in den Krieg hineingezogen haben, hat Russland nochmal Luft verschafft, sonst war der Ofen schon vor 1917 aus.

Entsprechend gestreßt wurde selbst auf den Zusammenstoss mit DEU in Südafrika reagiert, obwohl es sich hier um eine weit entfernt, gegenüber liegende Küste handelt.
Das halte ich ehrlich gesagt für überzogen. Was nützt denn den Deutschen ein Stützpunkt in Ostafrika, wenn sie ihre Flotte gar nicht erst aus dem nassen Dreieck in der Nordsee rauskriegen?
Deswegen haben ja die Deutschen an ihrer Kurzstrecken-Schlachtflotte gebaut, um den Weg "ins Freie" freizusprengen. Solange England zwischen den Deutschen Kolonien und dem Mutterland saß, war an Kolonialkrieg nicht zu denken. Die Deutschen haben ja auch jedesmal gekniffen, wenn die Briten böse Miene gemacht haben und es ernst zu werden drohte.

Könntest Du das Angriffsbündnis genauer erläutern?
Also Angriffsbündnis meinte ich von Russlands Seite aus:

- Strategischer Eisenbahnbau gegen Ostpreußen
- massive Heeresvermehrung
- konkrete Angriffsplanung zusammen mit Frankreich gegen das DR
- politischer Druck auf Deutschlands Verbündeten
- politischer Druck auf Deutschland
- innenpolitische "Mobilmachung" per Panslawismus
- Versuch GB in das Bündnis mit hineinzuziehen

Vom Militärpakt FRA/RUS 1892 bis zum Flottenabkommen FRA/RUS 1912 dauerte es 2 Jahrzehnte. Zugleich gab es 1912 die geheime Absprache FRA/GB über das Vorgehen im Kriegsfall gegen DEU.
Das "Bündnis" zwischen GB und FR werte ich als Defensivbündnis. Immerhin bedrohte das DR beide, GB durch seinen massiv vorangetriebenen Flottenbau, FR durch seine aggressive Politik (Marokkokrise, Krieg in Sicht Krise, usw.). Die Entente galt nicht für einen Angriffskrieg Zweiverband vs Zweibund, dem sich die Briten dann hätten anschließen müssen, sondern nur der Verteidigung Frankreichs vor einem Angriff des DRs.
Russland wurde vom DR überhaupt nicht bedroht, dennoch sah der Zweiverband den Bündnisfall bereits bei der Deutschen Mobilmachung als gegeben an. Ein viel aggressiveres Bündnis.

Wenn man einen ganz langfristigen Plan auf Seiten Russlands sieht, dann möglicherweise folgenden[...] DEU wiederum wurde wohl in diesem Ablauf (der auch diplomatisch von RUS mehrfach angedeutet wurde) keine Handlungsalternative beigemessen, wenn Ö-U von innen zerbrechen würde.
Ja! Genau das ist der Plan den ich "an Russlands Stelle" zur damaligen Zeit auch in Auge gefaßt hätte. Aber - und das ist aus meiner Sicht der Knackpunkt - wozu dann dann die gewaltige Drohkulisse gegen das Deutsche Reich? Wozu strategische Bahnbauten, massive Aufrüstung, Presseattacken?
Wenn ich Österreich-Ungarn MIT Deutschland teilen will, steuere ich doch nicht auf einen Krieg GEGEN Deutschland los. Das ist der Widerspruch, den ich nicht verstehe. Wenn ich Österreich isolieren will, muß ich doch Deutschland zu mir herüberziehen, sonst werden doch die Deutschen Österreich den Rücken stärken, desgleichen der Türkei, meine Pläne auf dem Balkan hintertreiben, vielleicht sich mit Japan verbünden, versuchen mich innenpolitisch zu destabilisieren, ihren Flottenbau einstellen und alles Geld in ihr Heer stecken, mich am Ende mit Krieg überziehen. Wo liegt denn da der Vorteil für mich?

Jede weitere Aktivität hing vom Ausgleich mit GB ab, vom Zerbröseln der britisch-japanischen Allianz, von der weiteren wirtschaftlichen und militärischen Entwicklung Sibiriens, und vom Aufbau der russischen Seemacht ab (mit britischer Hilfe), eine der Lehren von 1905.
Gut. Aber das sind langfristige Planungen. Die Pazifik-Flotte lag auf dem Meeresgrund, gegen Japan war momentan nichts auszurichten. Die Frage: Wie vermeide ich in den nächsten 10 Jahren eine Revolution und/oder einen Krieg gegen Deutschland, hätte da aber Priorität haben sollen.

Tatsächlich überdachte GB zu diesem Zeitpunkt seine Blockadehaltung für Konstantinopel gegen Rußland (im Interesse der nun zunehmenden deutschen Bedrohung). Die britische Politik sah hier wohl die Wahl zwischen Scylla und Charybdis.
Naja, die Briten wussten ziemlich sicher, dass das DR die Russen so oder so nicht nach Konstantinopel lassen würde. Also konnten sie Gut Wetter machen nach dem Motto: "nehmts euch - wenn ihr könnt". Wobei ich den angestrebten Flottenvertrag von GB mit Russland von britischer Seite schon zweifelhaft finde. Kriegsvermeidung war das keine mehr - die deutsche Flotte war längst im Sack.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das halte ich ehrlich gesagt für überzogen. Was nützt denn den Deutschen ein Stützpunkt in Ostafrika, wenn sie ihre Flotte gar nicht erst aus dem nassen Dreieck in der Nordsee rauskriegen?
Deswegen haben ja die Deutschen an ihrer Kurzstrecken-Schlachtflotte gebaut, um den Weg "ins Freie" freizusprengen. Solange England zwischen den Deutschen Kolonien und dem Mutterland saß, war an Kolonialkrieg nicht zu denken. Die Deutschen haben ja auch jedesmal gekniffen, wenn die Briten böse Miene gemacht haben und es ernst zu werden drohte.

Vermutlich hast Du mich mißverstanden, es ging um die britische Rezeption des Zusammenstosses in Südafrika von der Krueger-Depesche bis zum Burenkrieg. Es ging auch nicht um Ostafrika.

zur Auswertung der britischen Seite empfehlenswert: Fröhlich, Michael: Von Konfrontation zu Koexistenz. Die deutsch-englischen Kolonialbeziehungen in Afrika zwischen 1884 und 1914.

Großbritannien sah die Bedrohung vielmehr im Verlust der südafrikanischen Position und des Übernahme bzw. Anbindung durch das Deutsche Reich. Das hätte den Seeweg um das Kap zerschnitten, ein Ereignis, dessen strategische Auswirkung in Großbritannien keineswegs übertrieben gesehen worden ist. Übrig geblieben (für den Seeweg nach Indien) wäre nur die kritische Mittelmeer-Position mit Suez-Kanal. Diese Bewertung ergab sich aus der Sicht vor dem Ausgleich mit Frankreich 1904.

Daressalam war dagegen (siehe WK I) von nachrangiger Bedeutung und seestrategisch - in der Überlegung von Flottenbewegungen - eingekeilt zwischen Aden und Kapstadt bzw. unter diesen Umständen leicht zu blockieren für die Seemacht Großbritannien.

Auch mit der Nordsee-Hopliten-Flotte von Tirpitz hat das nichts zu tun. Diese wurde gerade gewählt, weil es dem Deutschen Reich an strategisch günstigen und großen Stützpunkten fehlte. Die Empfindlichkeit Großbritanniens bzgl. Indien und der Zusammenhang mit Südafrika ist daher nach meiner Einschätzung bei Fröhlich (mit Abstützung auf die britische Literatur) sehr treffend dargestellt.
 
Soweit ich weiß, hat das Deutsche Reich nie einen Anspruch auf Südafrika erhoben. Lediglich mit einem Protektorat über Transvaal hat man zeitweilig geliebäugelt und ist zumindest diplomatisch aktiv geworden, Krügerdepeche und Anfrage an Portugal zwecks Truppendurchmarsch, um Druck auf GB zu machen.
Transvaal hat aber keinen Zugang zum Meer. Außerdem hatte sich die Sache mit dem Burenkrieg 1902 dann endgültig erledigt und wurde deutscherseits ad acta gelegt.
 
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