Würde auch sagen, dass die Zitate eher zum Ausdruck bringen, dass Wilhelm sich gern und häufig von Launen hinreißen ließ, hinter deren Fassade er ganz anders (wenn auch merkwürdig) tickte. Sein zwiegespaltenes Verhältnis zwischen laut polterndem Militarismus und verletzlicher Seele weist ja in die selbe Richtung. In erster Linie war er Zeit seines Lebens ein unsteter und angespannter Geist, der sich nach Tagesform und damit unberechenbar verhielt. Eine durchgehende politische oder persönliche Linie kann ich bei ihm nicht erkennen. Wie ich finde ein "Kind auf dem Kaiserthron."
Ein Versuch zum europäischen Antisemitismus: Der gibt natürlich eine Gemengelage wieder aus allen den Gräuelmärchen, die aus dem Mittelalter übertragen wurden zusammen mit dem inzwischen klischeehaft eingebrannten Bild von den Wucherern und Kesselflickern, die keiner ehrlichen Arbeit nachgehen. Dass die jüdischen Minderheiten im Mittelalter von ihren christlichen "Schutzherren" in diese Rolle hineingedrängt wurden - geschenkt. Umstände übrigens, die bei Zeiten auch von gutmenschenhaft aufgeklärten Landesherren gern und schamlos ausgenutzt wurden. Selbst der große Friederich, der für die Finanzierung des Siebenjährigens Krieges zum Geldfälscher (pardon - verantwortungsvoller Staatsmann, der sich weise einer expansiven Finanzpolitik bediente), schob einen jüdischen Bänker vor, um für ihn die Drecksarbeit (Münzverschlechterung) zu machen.
Veitel Heine Ephraim ? Wikipedia Wenn der dabei wilig mitspielte - um so besser.
Da, wie wir heute wissen, die Finanzmanager und Bänker durch ihr in der Tat dubioses Tun und ihre Geschäftstüchtigkeit im eigenen Interesse durchaus nicht an übermäßiger Popularität leiden, verband sich damals für viele in finanzielle Schwierigkeiten geratene "anständige Christen" der "Jude" mit dem fiesen Finanz- und Anlageberater, der ihn wohl beim letzten Abschluss über den Tisch gezogen hat. Selbst heute höre ich unter älteren Bevölkerungskreisen Oberschwabens ab und an noch "der isch en Jud" als Charakterisierung eines schon nicht mehr liebenswerten Schlitzohrs.
Zu Wilhelms Zeiten, um den Beitrag wieder ins On-Topic zu drehen, hießen die Ackermanns und Madoffs eben noch Rothschild und Salomon und solange sie Geld brachten, waren sie respektierte Geschäftsleute, und sobald sie Geld wollten, waren sie "Wucherer", "Beutelschneider" und "Pferdehändler".
Ich möchte dem ganzen noch einen weiteren gesellschaftlich-religiösen Zug mitgeben. Bis nach dem zweiten Weltkrieg war die Gesellschaft (oder die Gesellschaften) in Europa relativ gleichförmig, will heißen, kam man aus den Hafenstädten raus, begegnete man fast ausschließlich "weißen Europäern", die eben die "Normalgesellschaft" waren. Wie eng diese Welt war, sieht man schon daran, dass im Preußen Wilhelms schon Katholiken keine ganz richtigen Menschen mehr waren, da sie eben nicht nach dem Kaiser schielten, sondern über die Berge zum Papst - die Ultramontanen, die ebenfalls schon nicht mehr Zugang zu allen staatlichen Posten und Pöstchen hatten. Selbst deren Loyalität wurde wieder und wieder in Frage gestellt. Schon die Angehörigen der konkurrierenden Konfession wurden in den deutschen und auch den meisten übrigen europäischen Staaten (England, Frankreich) damals schon als Fremdkörper oder noch schlimmeres angesehen (Britische Marineoffiziere des 18. Jahrhunderts mussten treuen Kampf gegen die Papisten geloben). Für die Katholen galt das andersherum genauso, zitiere wieder "drüben überm Berg, in Willingen, das sind auch Evangelische und das sind doch ganz normale Leute" (Zitat von einem fortschrittlicheren Greis aus dem - zugegeben erzkonservativ-katholischen Sauerland aus der zweiten Hälfte der 90er-Jahre - wohlgemerkt des 20. Jahrhunderts!]
Wie viel fremdartiger mussten den "christlichen Europäern" nun diese verstockten Juden mir ihrer andersartigen Tracht, ihren anderen Riten, ihrem anderen Kalender, ihrer anderen Sprache, in ihren anderen Wohngebieten wirken, die sich auch noch stets vom Rest der Gesellschaft abschotteten. Hierfür gab es ja auch sowohl pull- als auch push-Faktoren. Man bedenke, dass in beider Augen ein Jude, der sich taufen ließ, eben nicht zum Christen verwandelt wurde, sondern lediglich ein getaufter Jude war, der nun von beiden Seiten mit Naserümpfen betrachtet wurde.
Dass wegen all dem im Extrem "die Juden" als ein "Fremdkörper" innerhalb der protestantischen bzw. katholischen Gesellschaften wahrgenommen werden konnten, darüber muss man sich nicht wundern, betrachtet man das ganze mit zeitgemäßen Augen.
Vielleicht lässt sich die damalige Rolle "der Juden" mit der vergleichen, in der heutzutage Sinti und Roma oder wahlweise auch die "Deutschen mit Migrationshintergrund" stecken - in meinen Augen tatsächlich ein ähnlich merkwürdiges Sprachkonstrukt wie der "getaufte Jude."
Noch extremer scheint das in anderen einigermaßen abgeschlosseneren Gesellschaften Europas gewesen zu sein - man denke nur an die erste norwegische Verfassung - da gab es vor etlichen Monaten mal in der ZEIT einen recht aufschlussreichen Artikel zu.
Antisemitismus: Das verbotene Land | Zeitl?ufte | ZEIT ONLINE
Andernfalls gab es auch im 19. Jahrhundert schon aufgeklärte Geister, wie man zum Beispiel in Bayern [sic !] feststellen musste, als die Pläne, den Zugang für Juden zu Militär und Verwaltung massiv einzuschränken, auf breiten Widerstand in der Bevölkerung stießen und kassiert werden mussten.
In diesem Zusammenhang eine hochinteressante und zum Teil beklemmende Leseempfehlung ist der ausgezeichnete Katalog zur Ausstellung "Deutsche jüdische Soldaten" des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes.
Deutsche Jüdische Soldaten 1914 - 1945 - Von der Epoche der Emanzipation bis zum Zeitalter der Weltkriege - Ausstellungskatalog: Amazon.de: Militärgeschichtliches Forschungsamt Potsdam: Bücher
[Für eventuelle Kommentatoren: Die wiedergegebenen Zitate als solche entsprechen naturgemäß NICHT Neddys Gedankengut, sondern stellen eine nicht repräsentative Beobachtung unter ansonsten unbescholtenden und nicht des Rechtsradikalismus verdächtigen älteren Herrschaften dar.]