Ich finde es schwierig, eine religiös geprägte Zeit wie das Mittelalter mit dem 3. Reich zu vergleichen.
Daraus ergibt sich für mich dann die sehr große Frage nach den universal gültigen Werte und Normen und ob diese dem Menschen irgendwie doch angeboren sind oder ob es eine allgemein menschliche Kultur über alle Zeiten gäbe.
Ich finde es aus anderen Gründen sehr schwierig, aber nicht aus angegebenem. Beides hat eine metaphysische Grundlage, aber ich will die Diskussion hier damit nicht weiter ablenken und den schönen Mittelalterpfad zerstören.
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Für den Rest habe ich mich entschlossen, mich nicht der Zitatfunktion zu bedienen, sondern einen kleinen Essay abzuliefern. Oh, welch törichte Tat einer jungen Vergeistigten, sich an die Nachahmung des großen Montaigne zu machen. Der Vorhang hebt sich, Pathos an!
„Aus dem, was wir hier im Walde, aus dem wir kommen, erlebt haben, müssten wir irgendeinen Gewinn ziehen. Würdet ihr es für gut heißen, wenn wir uns um der fünf Bäume und der zehn durch ihre Blüten dargestellten Bedingungen willen jeden Tag einmal treffen, um Streitgespräche zu führen in der Art, wie sie uns die Dame der Intelligenz gelehrt hat, und wenn unser Streitgespräch sich so lange fortsetzen würde, bis wir alle drei uns zu einem einzigen Glauben und einer einzigen Religion bekennen, und bis wir uns darüber einigen können, wie wir einander am besten zu ehren und zu dienen haben,, so dass wir zu einem Einverständnis gelangen könnten? Denn Krieg, Mühsal, Missgunst, Unrecht und Schande hindern die Menschen daran, sich auf einen Glauben zu einigen.“
Man mag es kaum glauben, doch diese Zeilen stammen von Ramon Llull (1232-1316), einem christlichen Dichter. Diesem Satz vorangegangen ist eine Begebenheit, wie sie harmonischer nicht sein könnte. Ein muslimischer, ein christlicher und ein jüdischer Theologe treffen im Wald auf einen Heiden und jeder versucht ihn zu überzeugen, dass seine Religion die richtige sei. Als der Ungläubige sich entschieden hat und den Dreien freudig seinen Entschluss mitteilen möchte, bitten sie ihn zu schweigen, da dies den intellektuellen Disput zerstören würde und sie das der Wahrheit nicht näher bringen würde.
Ist das nicht im Grunde schon die Vorwegnahme des mehr als populär gewordenen Satzes von Sebastan Castellio „hominem occidere, non est doctrinam tueri, sed hominem occidere“? (Einen Menschen töten heißt nicht, eine Lehre verteidigen, sondern einen Menschen töten) Was anderes kann Llull gemeint haben, als er davor warnte, dass Krieg und Unrecht einem Glaubenskonsens abträglich ist?
Doch fahren wir weiter fort, werte Leser, nach Indizien zu suchen, dass beim mittelalterlichen Menschen doch so etwas wie ein Unrechtsbewusstsein vorhanden war.
Der Verweis auf zwei Bibelstellen, beschränkt sich auf die reine Nennung, man mag es mir verzeihen: Luk 6,27-36, Luk 6,37-38. Gegenbeispiele sind ebenfalls vorhanden und inwiefern hier Normatives mit der Realität in weiten Teilen übereinstimmt, ist eine andere Frage. Eine Rezeption fand in beide Richtungen statt. Man denke an Laktanz, der sagt: „Man muss die Religion verteidigen, doch nicht tötend, sondern sterbend; nicht durch Grausamkeit, sondern durch Leiden; nicht durch Verbrechen, sondern durch Glauben (...) Denn wenn du die Religion durch Blut, durch Böses verteidigen willst, so wird sie nicht verteidigt, sondern befleckt und vergewaltigt.“ Hier sind denke ich keine weiteren Erläuterungen notwendig. Also fahren wir fort im mittelalterlichen Theater und begeben uns weiter auf die Suche nach Menschlichkeit:
An welchem Ort wird wohl der christliche Gott eher vermutet als in der Zelle eines mittelalterlichen Mönches, dem noch dazu mit die edle Gabe mystischer Erlebnisse gewährt wurde? Wir befinden uns hinter Meister Eckhard und als wir ihm über die Schulter blicken erstarren wir angesichts der Zeilen, die er niederschreibt: „Die heidischen Meister hingegen gelangten durch Übung der Tugenden zu so hoher Erkenntnis, dass sie eine jegliche Tugend anschaulich genauer erkannten als Paulus oder irgendein Heiliger in seiner ersten Verzückung.“ Wir wühlen in seinen anderen Predigten und stoßen auf das: „Gott ist in allen Kreaturen gleich nahe.“
Doch waren Mönche nicht nur in der Lage, zu schnöder Toleranz aufzurufen, nein! Sie kritisierten auch die Kreuzzüge! So gesehen bei einem Tegernseer Mönch des 12. Jahrhunderts, der in seinem Ludus de Antichristo die Kreuzzüge als reine Aggressionskriege darstellt, bar jeder religiösen Legitimation.
Doch mögen diese Beispiele genügen, um zu widerlegen, dass es kein Unrechtsbewusstsein im Mittelalter gegeben habe. Hach, wie herrlich ist die Wissenschaftstheorie, sie lebe hoch! Hätte doch für die Falsifizierung einer Allgemeinheitsanspruch erhebenden Aussage ein Beispiel gereicht! Gedankt sei meinem geliebten Karl Popper und ich entschuldige mich für mein weibisches Geplapper. (Das Abschlusszitat dieses Beitrags wird die Feministinnen unter den Lesern wieder wohlgesonnen stimmen, sobald sie es identifizieren!)
Aber jetzt weiter in medias res. Die These ist widerlegt, jetzt geht es in schwammige Gebiete:
Viele kluge Menschen haben sich dazu geäußert, was es denn nun ist, das Unrechtsbewusstsein. Es wurde so vorgegangen, wie es der einzig richtige Weg ist – durch Argumente. Der derzeitige Stand der Wissenschaft produziert nur wenige Fakten, an denen man sich festhalten kann, will man auf diesem Gebiet argumentieren. Schwupps ist man immer wieder im Bereich der Metaphysik und jeder kann sich so seine Theorien zurechtlegen. Ob er damit nur sich selbst überzeugen kann oder ob der Funke auch auf andere überspringt, liegt ganz an der Konsistenz der Theorie, der Korrektheit der logischen Struktur, der Kommunikation und der Konterfähigkeit. (Hihi, ich habe es geschafft, vier große „Ks“ im letzten Satz unterzubringen und erweitere es um ein fünftes: Die Kontingenz der Zuhörer. Denn was ist einem Argument zuträglicher, als wenn es bereits von einer Vielzahl abgenickt wurde?)
Viel Zustimmung erntete die Äußerung, dass es sich bei Moral und Gewissen nicht um etwas handelt, das dem Menschen per se innewohnt, sondern um etwas, das durch den Lebensraum anerzogen wird. (Hätte mich auch sehr gewundert, wenn hier Lorenz mit seinen ollen Gänsen lange Oberwasser in der Forschungsdiskussion behalten hätte.) Wenn wir also mit Begriffen wie Unrechtsbewusstsein hantieren, die sich eben aus der Moral und aus dem Gewissen ergeben, ist es gefährlich, anderen Voraussetzungen eben unsere enge Vorstellung davon überzustülpen. Das jedoch nur als Erinnerung, denn hier ist Evidenz gegeben. Allerdings brauchen wir diese Begriffe. „Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen der Welt“ sagt Wittgenstein treffend. Ich liebe dieses Zitat, denn man kann es dem menschlich-persönlichen Bereich entreißen und es auf eine Metaebene heben. Für eine Diskussion brauchen wir Begriffe. Wenn wir über Unrechtsbewusstsein im Mittelalter diskutieren wollen, brauchen wir schlichtweg den Begriff „Unrechtsbewusstsein“. Es ist ein Begriff, der keiner empirischen Kategorie zuzuordnen ist und eben das macht ihn so schwierig.
Moral und Gewissen einem mittelalterlichem Menschen absprechen zu wollen, so weit ist niemand gegangen. Für mich zieht das Vorhandensein dieser beiden Entitäten (mir ist kein blöderes Wort eingefallen) zwangsläufig Unrechtsbewusstsein voraus. Das Gewissen als innere Stimme – daimonion wie Sokrates es nannte – die einem zuflüstert, wenn man die Moral verletzt. Und eben weil Moral nichts fixes jenseits von Raum und Zeit ist, hat auch das Unrechtsbewusstsein keinen im etymologisch ursprünglichen Sinne perfekten Status, sondern es mutiert ohne Unterlass. Ja, das muss es sein, was die Wandlungsfähigkeit des Unrechtsbewusstseins begründet, Heureka!
Die Finger werden schwach, der Geist braucht Erholung. Wird es eine Fortsetzung geben in diesem Theater? Zu viel ist ungesagt, zu viel schlummert. Es brennt auf den Nägeln, ob es denn wirklich die vernachlässigten Kinder des Mittelalters waren? (nächste Frage: Ist die Prämisse der These überhaupt haltbar?) Vielmehr scheint hier der Nominalismus der Tatverdächtige zu sein, doch dazu vielleicht an einem anderen Tag, zu einer anderen Stunde, in einer anderen Stimmung etwas mehr. Vielleicht nur so viel: Der Nominalismus war es, der die Eigenverantwortung in den Vordergrund rückt. Eine haarsträubende Theorie, die an den Grundfesten mittelalterlicher Weltordnung rüttelte und ihr letztendlich den Rücken kehrte.
Ich danke dem treuen Leser, der meinen Zeilen bis hierher gefolgt ist. Das Versprechen an die Feministinnen sei noch eingelöst, indem ich eine Entschuldigung anfüge:
„Doch ich bin in meiner Vergesslichkeit schon längst über das Ziel hinausgeschweift. Sollte ich in meinen Worten zu bissig oder geschwätzig gewesen sein, bedenkt immer, dass ich als Torheit und Frau zu euch gesprochen habe. Denkt aber auch an das wohl griechische Sprichwort, dass oft auch ein törichter Mensch ein treffendes Wort sagt, sofern ihr nicht etwa meint, das Wort beziehe sich nicht auf Frauen.“
Derjenige, der dieses Zitat (googeln verboten!) als erster Zuweisen kann, bekommt meine Anerkennung.