Was ist Geschichtswissenschaft - nachbeten oder neu?

balticbirdy

Ehemaliges Mitglied
In eigener Praxis oft genug erlebt. Lehrbuchwissen, zum Teil über 100 Jahre alt, wird gelehrt - OK, muss auch sein.

Jeder Student muss wie ein Brahmane das Überlieferte nachbeten. Andere Schlussfolgerungen, neue Denkansätze haben es schwer.
Aber, als Beispiel, in der Zoologie kann ich ohne Tiefseetauchen oder tropische Mini-Insekten kaum noch in Neuland vorstossen. Aus alten Daten + eigenen Geistesblitzen und Nachhaken in der Praxis da etwas Neues zu schustern, ist selten, kommt aber auch vor. Und dann sogar die "Heiligen Schriften", sprich uralten Handbücher schänden.

Aber wie ist es in der Geschichte? Die überlieferten Quellen stehen wie die Berliner Mauer. Kann man da noch grundsätzlich neue Ansätze finden, ohne dass ein Archäologe oder Bibliothekar das Ei des Kolumbus findet?
 
In eigener Praxis oft genug erlebt. Lehrbuchwissen, zum Teil über 100 Jahre alt, wird gelehrt - OK, muss auch sein.

Das ist Ereignisgeschichte, dies wird in der Schule gelernt.

Jeder Student muss wie ein Brahmane das Überlieferte nachbeten. Andere Schlussfolgerungen, neue Denkansätze haben es schwer.

Das ist aber bei weitem nicht so. Es ist erlaubt und gewünscht eigene Schlussfolgerungen zu präsentieren. Was nicht gut ankommt ist, wenn man seine Schlussfolgerungen nicht belegen kann. Bei der Schlussfolgerung oder neue Denkansätze muss man aber schon auch berücksichtigen, über was in der Geschichte man solches präsentiert. Wenn man zum Schluss kommt, dass es den Holocaust nicht gegeben hat und dies auch belegen kann, wird es der Student sehr schwer haben, oder wenn man eine Völkermord leugnet weil man einfach einzelne Quellen ausblendet oder diese als Fälschungen abtut.

Aber wie ist es in der Geschichte? Die überlieferten Quellen stehen wie die Berliner Mauer. Kann man da noch grundsätzlich neue Ansätze finden, ohne dass ein Archäologe oder Bibliothekar das Ei des Kolumbus findet?

In der Forschung wird die historisch kritische Methode angewandt. Das heisst, wir stellen Fragen an die Quellen. Erst mit einer Fragestelle wird eine Quelle zu einer.

http://www.historicum.net/lehren-lernen/arbeiten-mit-quellen/einfuehrung/

Ich versuche das mal anhand eines Beispiels aus der Schweizergeschichte.

Als ich zur Schule ging, haben wir Ereignisgeschichte gemacht, wir nahmen die Schlacht bei Morgarten durch. Was lernten wir? Nun, da haben die Eidgenossen die Habsburger in einer Schlacht besiegt. Es wurde uns gesagt, dass ein grosses Ritterheer in den See getrieben wurde. Die Eidgenossen waren die siegreichen Helden. Diese Geschichtsschreibung geht auf das 19. Jahrhundert zurück und wurde immer wieder übernommen. Nun haben sich aber jüngere Historiker sich dieser Schlacht angenommen und siehe da, die Quellen sprechen eine ganz andere Sprache. Nämlich keine. Es existiert kein einziges zeitgenössisches Dokument. Wo genau die Schlacht oder besser der Überfall stattfand kann nicht mehr rekonstruiert werden, da es auch keine archäologischen Spuren gibt. Die gesamte Geschichte der Habsburger in der Schweiz wird heute neu erforscht und nicht mehr unter dem Stern die "bösen Habsburger und die guten Eidgenossen", die Quellen werden neu bearbeitet und ausgewertet und so bekommt man heute ein anderes Bild auf die Entstehungsgeschichte der Schweiz.
 
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In eigener Praxis oft genug erlebt. Lehrbuchwissen, zum Teil über 100 Jahre alt, wird gelehrt - OK, muss auch sein.

Jeder Student muss wie ein Brahmane das Überlieferte nachbeten. Andere Schlussfolgerungen, neue Denkansätze haben es schwer.
Aber, als Beispiel, in der Zoologie kann ich ohne Tiefseetauchen oder tropische Mini-Insekten kaum noch in Neuland vorstossen. Aus alten Daten + eigenen Geistesblitzen und Nachhaken in der Praxis da etwas Neues zu schustern, ist selten, kommt aber auch vor. Und dann sogar die "Heiligen Schriften", sprich uralten Handbücher schänden.

Aber wie ist es in der Geschichte? Die überlieferten Quellen stehen wie die Berliner Mauer. Kann man da noch grundsätzlich neue Ansätze finden, ohne dass ein Archäologe oder Bibliothekar das Ei des Kolumbus findet?


richtig, Geschichswissenschaft ist, wenn ich den Gedanken eines Histrorikers (was ihm abgesprochen wurde) nehme, keine Wissenschaft sonder gehört eher in den Bereich der Literatur.

Geschichte ist die Ansammlung von Geschichten, die bezahlte Schreiber im Auftrag ihres Chefs für erzählenswert hielten.
(frühestes Beispiel, was mir spontan einfällt, der Sieg Ramses II am Orontes, zwar nicht geschrieben, aber gemeisselt.)
 
Vielleicht fehlt es uns hier auch einfach an einer allgemeinverbindlichen Definition, was denn nun Geschichte genau ist?!

Ich versuche hier einfach einmal zu definieren, was Geschichte für mich ist:

Wir haben:

1. Schriftliche Überlieferungen
2. Funde aus Ausgrabungen
3. mündliche Überlieferungen
4. ???

das sind - mehr oder weniger - harte Fakten. Erst durch das, was wir durch eigene Interpretation darauf machen, wird es zu Geschichte. Eigentlich sind uns die Schwachpunkte jeder einzelnen Position ja durchaus bewußt?!

Nur um einmal einige Stichworte zu nennen:
- Geschichte wird von Siegern oder zumindest von Überlebenden geschrieben. Verlierer oder Tote haben selten die Möglichkeit, ihre Version darzulegen.
- Ausgrabungen können sehr unterschiedlich interpretiert werden (siehe z.B. Troja oder auch Kalkriese)
- mündliche Überlieferungen werden oft allein durch eine fehlerhafte Erinnerung verfälscht

Nun gibt es viele Fälle, in denen sich die Mehrheit der Geschichtsforscher, -erkunder und -interessierten mehr oder weniger einig ist. Was mit einiger, aber keineswegs absoluter, Wahrscheinlichkeit darauf hindeutet, daß es sich wohl auch so tatsächlich abgespielt hat.
Es gibt aber auch viele Fälle, in denen sich die Experten - erst einmal unabhängig davon, ob selbsternannte oder allgemein anerkannte - sich eben nicht einigen können. Also läßt das überlieferte viel Spielraum für Interpretation. Hier 'darf' dann der geneigte Interessent sich seine 'Wahrheit' heraussuchen.
Und dann gibt es eben auch Fälle, in denen Moral, Sitte und Anstand und auch öffentliche Meinung es einem normal denkenden und fühlenden Menschen untersagen sollten, Zweifel laut zu äußern (nur als Beispiel: Es ist für den Sachverhalt einfach irrelevant, ob durch den Holocaust nun 5.5 oder 6.5 Millionen jüdischer Menschen umgebracht wurden, es bleibt so oder so ein gigantischer Massenmord)

Allen Variationen ist aber eines gemein: Je länger die Ereignisse zurückliegen, desto schwieriger wird es, Fakt und Fiktion zu trennen. Je länger die Ereignisse zurückliegen, desto schwieriger wird es aufgrund dünner Beweislage, falsche Darstellungen zu erkennen.

Also, was ist Geschichte für mich:

Geschehnisse, die sich mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit so abgespielt haben, wie es für mich aufgrund der mir bekannten Faktenlage für glaubhaft halte. Und es ist ein faszinierendes Interessengebiet, das mich bereits seit meiner Kindheit gefangen hält.

Und was ist Geschichte für euch?

Grüßle aus dem Schwabenländle
 
richtig, Geschichswissenschaft ist, wenn ich den Gedanken eines Histrorikers (was ihm abgesprochen wurde) nehme, keine Wissenschaft sonder gehört eher in den Bereich der Literatur.
Ich fürchte, Du bringst da etwas durcheinander.
Ich bin selber kein Wissenschaftler, aber ein befreundeter Naturwissenschaftler sagte mal: Geschichte ist keine präzise Wissenschaft.
Aber er sagte dazu auch, dass das eben kaum eine oder keine ist.

Heißt: wir wissen oftmals nicht, ob in den Geschichtsbüchern die Wahrheit steht. Denn wir wissen nicht eindeutig wie weit Vorgänger oder heutige Autoren Quellen falsch interpretieren oder eben Quellen folgen, v.a. wohl Schriftquellen, welche eben selber bewusst oder unbewusst die Unwahrheit sagten.



Ich will aber lieber auf das eigentlich Thema hier kommen.

1.
Freilich gibt es vieles, was noch immer nachgebetet wird.
Wobei wir uns da allerdings auch vor Augen führen müssen, dass uns durch die Medien ein verfälschtes Bild der Geschichtswissenschaft nicht selten vorgegaukelt wird.
Mal so ein Beispiel:
Es wird eine Doku gemacht, wo der Regisseur im Grunde ein völlig veraltetes Geschichtsbild von Person X oder Ereignis X zeichnen möchte. Regisseure haben da nicht selten eine schon vorab gefügte Meinung. Dann werden wirkliche Fachleute (oder Möchtegernfachleute wie Literaten oder gar reine Fans) interviewt. Deren Aussagen werden dann nicht selten so zurecht geschnitten, dass sie so ziemlich zum Grundtenor der Absicht der Doku passen. Entweder werden nur vorsichtige Kritiken am Bild des Regisseurs/Drehbuchautors durchsickern gelassen oder diese ganz weggelassen.

2.
Kritik, es gäbe keine neuen Quellen mehr.
2 a)
Schriftquellen
Mein Eindruck ist schon, dass immer wieder neue Quellen auftauchen. Denk nur mal an die Privatarchive an unseren armen Adel, der sie öffnen muss, indem er seine Schlösser verkauft, die manchmal noch die reinsten Fundgruben für Forscher darstellen.
Bei einer Führung in Weikersheim wurde mir das richtig bewusst. Das Land hatte das Schloss erworben und es fand sich in der Registratur des etwa 17.Jh. sozusagen originalverpackt noch eine Fülle an Material.
Sowas ist dann nicht nur regionalhistorisch interessant. Man kann von solchen Höfen und deren Haushaltsführung, freilich nur begrenzt, auch auf überhaupt übliche Vorgehensweisen in der Zeit (also hier 17.-18.Jh.) schließen. Viele andere Archive sind durch Krieg und andere Einflüsse vernichtet worden und bieten keinen solch geschlossenen Überblick über die Verwaltungstätigkeit, Hofhaltung etc..

2 b)
Wir erschließen uns schon vorhandene Quellen neu.

Manches wurde doch früher garnicht in dem Maße als Quelle angesehen.

Autoren wie die Brüder Goncourt durchsahen die Quellen, bei all ihrem Verdienst, bspw. sehr selektiv. Das Ergebnis stand schon im Vorhinein fest. Das Ancien Régime musste verteufelt werden bzw. im Sinne der bürgerlichen Gesellschaft entlarvt. Entsprechend wurden dann alle Quellen selektiv z.B. nach der Schuld von Madame de Pompadour an allem angesehen.

Im Gegensatz dazu sehe ich die heutige geschichtliche Diskussion als viel vielschichtiger an. Da arbeiten Fachleute verschiedenster Bereiche zusammen.
Und daraus entsteht dann ein weitaus facettenreicheres Bild.
Wurde z.B. früher untersucht, was Herrscher, Untertanen der verschiedenen Schichten aßen?
Ich erinnere mich hier an einen Schüler, der mal nach den Mahlzeiten der Fürsten im Barock fragte.
Von manchen Forianern wurde kritisiert und angezweifelt, was man denn dadurch lernen könnte.
Dabei liegt es ganz offensichtlich vor uns wie der klare Tag, dass man eben durch die unterschiedlichen Speisen sehr gut die Rangordnung ausmachen kann. Ja, wir erleben dadurch nicht nur den Reichtum der oberen 10.000, sondern auch die Kehrseite davon: ungesunde Ernährung - zuviel Süßes und Fleisch statt Gemüse.

Genauso könnte man fortfahren. Früher wurde von den Gemälden v.a. darauf geschlossen, wie prächtig und teuer sich die Herrschenden kleideten. Heute schaut man genauer hin.
Wer fertigte die Sachen an? Was steckte dahinter? Bedeutet die Kleidung nicht auch Last? Wie sah die Kleidung genau aus? Welche Bedeutung hatte sie damals für den Menschen?
 
[...] Andere Schlussfolgerungen, neue Denkansätze haben es schwer.
Da hast Du allerdings recht!

[...]
Aber wie ist es in der Geschichte? Die überlieferten Quellen stehen wie die Berliner Mauer. Kann man da noch grundsätzlich neue Ansätze finden, ohne dass ein Archäologe oder Bibliothekar das Ei des Kolumbus findet?

Es gibt insbesondere bei Völkern, die sehr wenig schriftliches hinterlassen haben, wie z.B. den Kelten oder den Skythen, vieles, das noch ungeklärt ist. Neue Ansätze kann man eigentlich nur durch neue Forschungen gewinnen.
Zudem macht die Archäologie laufend Fortschritte, man kann z.B. aus Abfallgruben Rückschlüsse auf die Lebensweise ziehen, was man früher noch als unnützen Müll bezeichnet hat.
Desweiteren bringt die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Forschung sicher viel (z.B. Archäologie + Linguistik + Volkskunde + Mythologie + Genforschung)
 
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Standardwerke

Von Aelius Aristides gibt es die oft zitierte Romrede. Im Werk von Willy Hüttl zum Kaiser Antoninus Pius von 1936 wird aus der Rede zitiert. Der nächste Historiker war beim Thema Pius wenigstens noch human genug ausgelassene Stellen des gleichen Absatzes der von ihm ebenfalls zitierten Romrede zu kennzeichnen. Einer seiner Nachfolger vergaß das aber und machte daraus einen zusammenhängenden Originalabsatz der so aber nicht in der Romrede zu finden ist. Seitdem schafft es bis hin zu Bernard Rémy: Antonin le Pieux. Paris. 2005 niemand mehr in Hüttls Buch oder die Romrede rein zuschauen um den Absatz sauber zu verarbeiten. Wenn man dieses stumpfsinnige abschreiben auch noch bei Dissertationen erlebt fehlen selbst mir die Worte.

Noch eine zweite Anmerkung zu historischer Fachliteratur 60+: Sowohl Verfasser wie auch Übersetzer kamen mit ihren Themen auch ohne WWW und Allgemeindarstellungenreizüberflutung besser klar als der heutige Fachmann. Die imperial troops des 30jährigen Krieges mit imperialistische Truppen (Brandenburgisches Verlagshaus) oder den maréchal de champ mit Feldmarschall zu übersetzen (bei Dirk van der Cruysses Liselotte von der Pfalz) ist eher eine Unsitte heutiger Zeit. Ganz zu schweigen von Jochen Böhlers methodischem und inhaltlichem Höhenflug zum Polenfeldzug "Der Überfall". Da weint sich der Historiker Böhler seitenweise über ein Regiment aus das die Polen ohne ein ordentliches Kriegsgerichtsverfahren hinrichtet. Seit wann fängt die Kriegsgerichtsbarkeit bei einem Regiment an? Das ist doch wohl immer noch Sache der Division. Ein Regiment hat höchstens Standgerichte. Wie kann es sein, dass sich ein Böhler nicht mal bis zur Quelle Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO) durcharbeiten kann um den Unterschied zwischen Standgericht und Kriegsgericht zu ermitteln? Genug vor ihm haben es geschafft oder, bezogen auf Böhler, schaffen wollen.​
 
Aber wie ist es in der Geschichte? Die überlieferten Quellen stehen wie die Berliner Mauer. Kann man da noch grundsätzlich neue Ansätze finden, ohne dass ein Archäologe oder Bibliothekar das Ei des Kolumbus findet?

Intersssanter Thread. Ich habe das Gefühl, daß Geschichte durchaus eine sehr konkrete Wissenschaft ist. Jedoch ist es die Interpretation und Wertung bekannter Quellen/Tatsachen sehr lange Zeit in Bewegung, also nicht statisch festliegend.

Solange nicht alles bekannt ist, Quellen selektiv öffentlich gemacht sind, kann und wird Geschehenes auch immer durch die Politik beeinflusst. Du arbeitest an der Ostsee und kennst die Sanddünen dort. Ich bemühe ein Bild und will behaupten, daß sich "der Wind erst zwei- dreimal drehen muß", um alles sichtbar gemacht zu haben.
Auf die Geschichtswissenschaft bezogen: Erst müssen alle Daten und Fakten zu sehen sein, auch die, die lange Jahre bedeckt waren.

Eine Zahl von Jahren kann man nicht nennen, es geht darum, daß erst die Tagespolitik das Interesse an der genehmen Interpretation der Geschichte verlieren muß, erlaubt und möglich ist, mal völlig anders an die Sache heranzugehen,

Zusammenfassend: Das, was wir als "Zeitgeschichte" bezeichnen hat noch viel Entwicklungspotential für Entdeckungen und Interpretationen. Was erstmal mindestens 200 Jahre zurückliegt, wird im Bild gefestigt und konkretisiert. Wenig bleibt so lange verborgen. Wer da noch neues findet, findet wirklich die "Nadel im Heuhaufen" - aber möglich ist es durchaus. Schau nur, wie sich das heutige Bild von Wikingern, Germanen, Vandalen etc. durch archäologische Funde verändert hat. Viele Behauptungen über diese Völker waren sogar über Jahrtausende durch politische Quellen der Gegner beeinflusst.

Geschichte ist in Bewegung, vieleicht ist diese Wissenschaft deshalb für uns so spannend. Spannender als Mathematik ;)
 
...ein befreundeter Naturwissenschaftler sagte mal: Geschichte ist keine präzise Wissenschaft.
Umso kühner von unserem balticbirdy, diesen Thread unter "Geschichte der Naturwissenschaft" einzuhängen...:winke:

Geschichswissenschaft ist, wenn ich den Gedanken eines Histrorikers (was ihm abgesprochen wurde) nehme, keine Wissenschaft sonder gehört eher in den Bereich der Literatur.
Das ist eine These, die sich - jenseits aller "Verschwörungstheorien" - insbesondere auf Hayden White mit seiner sehr einflußreichen "Metahistory" (1973) beziehen kann. Der Autor arbeitet darin den "unvermeidlich poetischen Charakter der Geschichtsschreibung" heraus, d.h. er betrachtet - in eigenen Worten - "das Werk des Historikers als offensichtlich verbale Struktur in der Form einer Erzählung. Geschichtsschreibungen und (ebenso Geschichtsphilosophien) kombinieren eine bestimmte Menge von 'Daten', theoretische Begriffe zu deren 'Erklärung' sowie eine narrative Struktur, um sich ein Abbild eines Ensembles von Ereignissen herzustellen, die sich in der Vergangenheit zugetragen haben sollen."

Desungeachtet unterscheidet sich die Arbeit des "echten" Historikers von der des Dichters jedoch insbesondere durch die von Ursi erwähnte Methodik, und das dürfte für unser Thema entscheidend sein.

Wurde z.B. früher untersucht, was Herrscher, Untertanen der verschiedenen Schichten aßen?
Vielen Dank für dieses Beispiel und die anderen! Sie belegen insbesondere, wie wichtig die Arbeit der Annales-Schule ? Wikipedia für die Entwicklung der Geschichtsschreibung gewesen ist.

Auf die Geschichtswissenschaft bezogen: Erst müssen alle Daten und Fakten zu sehen sein, auch die, die lange Jahre bedeckt waren.
Wenn's dumm läuft, kommen Daten und Fakten auch abhanden. Aus einem Buch des abtrünnigen Theologieprofessors Horst Herrmann: "Zwischen 1815 und 1817 machten Unterhändler in Paris mit Zustimmung des Kardinalstaatssekretärs Consalvi 4518 Bände mit Prozeßunterlagen der Inquisition unleserlich und verschachterten sie anschließend an Altpapierhändler." :weinen:


[1] Zitiert nach der Taschenbuchausgabe Frankfurt 2008, S. 9. Vgl. auch Wolfgang Hardtwig: Formen der Geschichtsschreibung: Varianten des historischen Erzählens. In: Goertz (Hg.), Geschichte - ein Grundkurs. 3. Aufl. Reinbek 2007, S. 218-237.
 
Aber wie ist es in der Geschichte? Die überlieferten Quellen stehen wie die Berliner Mauer. Kann man da noch grundsätzlich neue Ansätze finden, ohne dass ein Archäologe oder Bibliothekar das Ei des Kolumbus findet?

Ein ausgezeichneter Vergleich mein lieber Ostseekollege - man hielt die Berliner Mauer gern für unüberwindbar oder nur für unter großen Opfern und Risiko für überwindbar. Und dann stellte sich raus: zwei Jahre sanfter Druck und weg war sie.
Zwei Beispiele aus meinem eigenen Rumgeforsche:
1. Genauigkeit und Fleiß: Auch die wissenschaftlichen Werke über Horatio Nelson waren bis vor kurzem so was von durchsetzt von den Anekdoten und Anekdötchen, die Clarke und M'Arthur und in deren Fahrwasser Robert Southey geschrieben hatten. Viel von dem Bild Nelsons (und anderer historischer Persönlichkeiten) in der Nachwelt wurde so (durchaus gewollt) beeinflusst. Und was offenbart ein Gang in die Archive? Alles unhaltbar. Archiv heißt aber halt: rumstauben, krakelige Handschriften entziffern und - trotz der inzwischen recht guten Kataloge - großer Zeitaufwand für ein unklares Ergebnis, ergo Kosten. Auf der Grundlage von bereits bestehenden gedruckten und indizierten Werken (oder gar Internet) lässt sich das ganze viel "kostengünstiger" machen. Allerdings schleichen sich dann halt die ganzen Falschheiten (von Übertragungsfehler über Irrtum bis Fälschung) ins Ergebnis. Geisteswissenschaften können durchaus präzise und exakt sein (ordentliche Quellen- und Denkarbeit), aber wenn der Versuchsaufbau schietig ist, kann das Ergebnis des Physikers wie des Historikers nicht besonders hochwertig sein.
Zweitens: Phantasie: Wenn zu Nelsons Zeiten fünf Schiffe zeitgleich das gleiche taten, taten sie es in der Quellenlage plötzlich nicht mehr gleichzeitig, da die Zeitermittlung auf der Grundlage unzuverlässiger Chronometer, Streß und mit unterschiedlichem Zeitverzug erfolgte. Ohne böse Absicht stecken in unbestechlichen Logbüchern also schon die ersten Fehler. Wenn ich mit solchen Zeitangaben einen Handlungsablauf rekonstruieren will, kann ich mir auch gleich die Zwangsjacke anziehen. Für eine relativ exaktere Rekonstruktion muss ich andere Wege gehen. (Heisenberg lässt grüßen.Heisenbergsche Unschärferelation ? Wikipedia)
Gute Geschichtswissenschaft - so mein Resümee - ist gleichwertig mit den sogenannten exakten Wissenschaften, da sehr viele "Meßfehler" identiziert und ausgeglichen werden müssen, ggf. auch Annahmen getroffen UND DOKUMENTIERT werden müssen. Und wie die Naturwissenschaft beruht alles auf Modellbildung, die zwangsläufig - es menschelt halt - persönlich und gesellschaftlich eingefärbt sind. (Schon wieder Gruß an Heisenberg.) Daher können Historiker leider historische Abläufe nur mit der selben Wahrscheinlichkeit zu 100% nachstellen, wie Freund Physiker die "Weltformel" ermittelt.
 
Eine wissenschaftliche Arbeit hat grundsätzlich folgenden Aufbau:

1) Einleitung
-Darlegung des bisherigen Wissenstandes unter kräftiger Betonung des eigengeleisteten Anteils
-Formulierung einer sinnigen Fragestellung (z.B. Zogen die Germanen betrunken in die Schlacht?)

2) Material und Methode
-gemäss dem Motto: Die Masse macht`s. Mindestens 3 Fässchen.

3) Ergebnisse
oder wie mache ich aus heisser Luft, irgendwelchen Rauschmitteln und gequirlter Kacke irgendwas für die eigene Publikationsliste (leckeren Met).

4) Diskussion
-dient in erster Linie dazu nachzuweisen, dass andere Autoren nur Gülle fabriziert haben und offenbar auch beim Verfassen zuviel Porst im Met hatten.

5) Literatur
Wichtig für den eigenen impact-factor. Jeden Schnipsel, den man in einer lokalen Wurfzeitung verfasst hat (z.B. Anzeiger der Nord-Kalkrieser Mettrinker-Union), erwähnen.
 
Zuletzt bearbeitet:
In eigener Praxis oft genug erlebt. Lehrbuchwissen, zum Teil über 100 Jahre alt, wird gelehrt - OK, muss auch sein.

Jeder Student muss wie ein Brahmane das Überlieferte nachbeten. Andere Schlussfolgerungen, neue Denkansätze haben es schwer.
Aber, als Beispiel, in der Zoologie kann ich ohne Tiefseetauchen oder tropische Mini-Insekten kaum noch in Neuland vorstossen. Aus alten Daten + eigenen Geistesblitzen und Nachhaken in der Praxis da etwas Neues zu schustern, ist selten, kommt aber auch vor. Und dann sogar die "Heiligen Schriften", sprich uralten Handbücher schänden.

Aber wie ist es in der Geschichte? Die überlieferten Quellen stehen wie die Berliner Mauer. Kann man da noch grundsätzlich neue Ansätze finden, ohne dass ein Archäologe oder Bibliothekar das Ei des Kolumbus findet?

Wissenschaft ist die Ermittlung neuen Wissens. Das gilt für die Geschichtswissenschaft wie für jede andere Wissenschaft auch. Forschung läuft in der Geschichtswissenschaft über die Ermittlung neuer Quellen und die immer wiederkehrende Überprüfung alter und bekannter Quellen, wobei die Geschichtswissenschaft, wie vielleicht alle Geisteswissenschaften, stärker vom jeweiligen Zeitgeist beeinflusst ist, als die Naturwisseschaften. In der seriösen Forschung versucht man dem mit der Ideologiekritik entgegenzutreten. Ideologiekritik heißt hier, dass man sich seiner eigenen Position stellt. Aber durch die durch den Zeitgeist geprägten Fragen, kommt es eben immer auch zu neuen Forschungsergebnissen, die sich teils kaum, teils aber auch in erheblichem Maße von älteren Foschungsergebnissen unterscheiden. "Nachbeten" o.ä. steht im Widerspruch zu Wissenschaft! Das gilt sowohl für die die literarischen Quellen, als auch für die Arbeiten noch so renommierter Wissenschaftler. Man muss allerdings auch gut begründen können, wenn man gegen eine anerkannte Forschungsmeinung und noch besser, wenn man gegen Quellen argumentiert.

Geschichtswissenschaft ist, wenn ich den Gedanken eines Historikers nehme, keine Wissenschaft sondern gehört eher in den Bereich der Literatur.

Da würde ich aber gerne wissen, wo man das nachlesen kann. Das scheint mir nämlich völlig falsch verstanden worden zu sein! Geschichte ist die Rekonstruktion des Vergangenen. Das Problem dabei ist, dass wir nur über einen Bruchteil der Informationen verfügen und diese zum Teil auch noch widersprüchlich sind. Das heißt in der Konsequenz geschriebene Geschichte ≠ dem Vergangenen. Weiterhin ist zu trennen zwischen Geschichte (dem Bruchteil des Vergangenen was rekonsturierbar ist) und Geschichtswissenschaft (der Versuch, quellen- und erfahrungsbasiert das Vergangene so weit wie möglich zu rekonstruieren).

Exemplarisch kann man sich dazu den Thread http://www.geschichtsforum.de/f28/kalkriese-als-ort-der-varusschlacht-zweifelhaft-22738/ durchlesen. Es reichen ein paar wenige Beiträge, um die skizzierten Probleme wiederzufinden.

Geschichte ist die Ansammlung von Geschichten, die bezahlte Schreiber im Auftrag ihres Chefs für erzählenswert hielten.
(frühestes Beispiel, was mir spontan einfällt, der Sieg Ramses II am Orontes, zwar nicht geschrieben, aber gemeisselt.)

Das ist das bekannte verkürzte Bild von Quellen: "Geschichtsschreibung ist die Geschichtsschreibung der Sieger". Aber: Es stimmt so nicht. Zunächst einmal ist natürlich zu berücksichtigen, dass Geschichtsschreibung natürlich immer darauf bedacht ist, dass der Schreiber (Historiograph!) bzw. sein Auftraggeber die Deutungshoheit über die Geschichte behält.Die historiographischen Quellen nennen wir daher auch Traditionsquellen. Für den Historiker sehr viel bedeutsamer sind aber die Überrestquellen, die eben nciht absichtsvoll berichten und damit versuchen die Deutungshoheit über einen Vorgang zu behalten, sondern die eher aus Versehen einen Sachverhalt überliefern. Nichtsdestotrotz kann man natürlich auch mit Traditionsquellen arbeiten. Dazu ist die Quellenkritik da, welche die Glaubwürdigkeit der Quelle in den einzelnen Punkten zu ermitteln versucht. Erleichtert wird das dadurch, dass auch historiographische Quellen durchaus differenziert sind. Neben den textimmanenten Widersprüchen gibt es eben auch immer wieder Gegendarstellungen. Also wenn etwa die Fränkischen Reichsannalen eine prokarolingische Quelle darstellen, kann eine andere Quelle, die vielleicht in einem königsfernen Kloster verfasst wurde die Sachverhalte ganz anders und widersprüchlich darstellen.


Es wird eine Doku gemacht, wo der Regisseur im Grunde ein völlig veraltetes Geschichtsbild von Person X oder Ereignis X zeichnen möchte. Regisseure haben da nicht selten eine schon vorab gefügte Meinung. Dann werden wirkliche Fachleute (oder Möchtegernfachleute wie Literaten oder gar reine Fans) interviewt. Deren Aussagen werden dann nicht selten so zurecht geschnitten, dass sie so ziemlich zum Grundtenor der Absicht der Doku passen. Entweder werden nur vorsichtige Kritiken am Bild des Regisseurs/Drehbuchautors durchsickern gelassen oder diese ganz weggelassen.

Deutlich wird das imho an dieser Nibelungen-Doku, die im ARD gezeigt wurde, in der Prof. Heinzle mehrfach zu Wort kam. Heinzle ist expliziter Gegner der Hypothese Arminius sei das Vorbild für Siegfried. Dies wurde aber in der Doku mehrfach behauptet (also nicht das Heinzle Vertreter diese Hypothese sei, sondern dass Siegfried mit Arminius identisch sei).

Wenn man dieses stumpfsinnige abschreiben auch noch bei Dissertationen erlebt fehlen selbst mir die Worte.

Das Problem ist mir auch selbst mehrfach begegnet, weshalb ich mich immer bemühe, bis zur eigentlichen Quelle vorzustoßen. Allerdings ist es eben auch nicht notwendig, das Rad bei jeder Arbeit neu zu erfinden. Das wusste schon Bernardus Carnotensis, als er formulierte, dass wir Zwerge auf den Schultern von Giganten seien. Ein Prof von mir formulierte, dass in einer wissenschaftlichen Arbeit 5 - 10 % Eigenteil sind und der Rest abgeschrieben ist.

Noch eine zweite Anmerkung zu historischer Fachliteratur 60+: Sowohl Verfasser wie auch Übersetzer kamen mit ihren Themen auch ohne WWW und Allgemeindarstellungenreizüberflutung besser klar als der heutige Fachmann. Die imperial troops des 30jährigen Krieges mit imperialistische Truppen (Brandenburgisches Verlagshaus) oder den maréchal de champ mit Feldmarschall zu übersetzen (bei Dirk van der Cruysses Liselotte von der Pfalz) ist eher eine Unsitte heutiger Zeit.

Das allerdings ist wohl eher ein Problem der Übersetzer denn der Fachwissenschaftler. Wobei mir zwar beim ersten Beispiel der Fehler klar ist, nicht aber beim zweiten.



Wenn's dumm läuft, kommen Daten und Fakten auch abhanden. Aus einem Buch des abtrünnigen Theologieprofessors Horst Herrmann: "Zwischen 1815 und 1817 machten Unterhändler in Paris mit Zustimmung des Kardinalstaatssekretärs Consalvi 4518 Bände mit Prozeßunterlagen der Inquisition unleserlich und verschachterten sie anschließend an Altpapierhändler." :weinen:

Was natürlich ein wiederkehrendes Problem in der Geschichte ist: Die Spanier verbrannten im 16. Jahrhundert die arabischen und jüdischen Bibliotheken ausgenommen ausgewählter Werke, bei praktisch jedem sozialen Aufstand wurden und werden Archive geplündert, von den Bauernkriegen bis hin zu den Stasi-Zentralen. Bürokraten diktatorischer Regime vernichten, wenn es zu Ende geht, Beweismaterialien (wieder die Stasi, die teilweise versuchte, als Bürgerrechtler getarnt, Materialien zu vernichten (Berlin, Erfurt, in Leipzig ging es geordneter vonstatten, dort übernahm das Neue Forum die geordnete Besetzung der "Runden Ecke", ein anderes Beispiel ist der Nationalsozialismus, in der ZS Archäologie in Niedersachsen 6 (2003) gibt es dazu einen ganz interessanten Artikel: Die Brandgrube des Kreisleiters). Nicht zu vergessen die zerstörerische Wirkung von Bomben, Granaten (WK II) und Bränden (Anna Amalia-Bibliothek).
 
Geschichte ist die Rekonstruktion des Vergangenen. ... Weiterhin ist zu trennen zwischen Geschichte (dem Bruchteil des Vergangenen was rekonsturierbar ist) und Geschichtswissenschaft (der Versuch, quellen- und erfahrungsbasiert das Vergangene so weit wie möglich zu rekonstruieren).
Du wendest Dich hiermit nochmals gegen den "Literatur"-Verdacht. Aber so fundamental scheint mir der Gegensatz doch nicht zu sein: Auch der Geschichtswissenschaftler produziert Literatur in dem Sinne, als er das von ihm gesichtete Material in einen (neuen!?) Sinnzusammenhang bringt, eben re-konstruiert. Liegt die Differenz nicht doch in der kritischen Grundhaltung? Was bedeutet in diesem Zusammenhang die Kategorie der "Erfahrung"?

Ein Prof von mir formulierte, dass in einer wissenschaftlichen Arbeit 5 - 10 % Eigenteil sind und der Rest abgeschrieben ist.
Was - doch so viel Eigenanteil? :nono:

Das Problem ist mir auch selbst mehrfach begegnet, weshalb ich mich immer bemühe, bis zur eigentlichen Quelle vorzustoßen. Allerdings ist es eben auch nicht notwendig, das Rad bei jeder Arbeit neu zu erfinden. Das wusste schon Bernardus Carnotensis, als er formulierte, dass wir Zwerge auf den Schultern von Giganten seien.
Ein schönes Beispiel! Indem ich Deiner Anleitung folge :winke:, ergänze ich: Dass Bernhard das so formuliert hat, wird "nur" durch Dritte bekundet, und das "Motiv" selbst ist vermutlich sehr viel älter. [1]


[1] Zwerge auf den Schultern von Riesen ? Wikipedia - das dort erwähnte Buch von Robert K. Merton gibt es auch in einer deutschen Fassung (Frankfurt 1980) und kann nicht hoch genug gepriesen werden, weil es die kritisch-philologische Vorgehensweise bis in Facetten hinein sehr anschaulich macht - ein großes Lesevergnügen!
 
Du wendest Dich hiermit nochmals gegen den "Literatur"-Verdacht. Aber so fundamental scheint mir der Gegensatz doch nicht zu sein: Auch der Geschichtswissenschaftler produziert Literatur in dem Sinne, als er das von ihm gesichtete Material in einen (neuen!?) Sinnzusammenhang bringt, eben re-konstruiert.

Das Problem an dieser Stelle ist die Schwammigkeit des Literaturbegriffs. Ich habe leonovs Literaturbegriff dahingegen verstanden, dass er Geschichtswissenschaft als Produktion von Fiktion versteht. Natürlich sprechen wir auch von wissenschaftlicher Literatur, aber die schien hier kontextuell nicht gemeint zu sein.

Ein schönes Beispiel! Indem ich Deiner Anleitung folge :winke:, ergänze ich: Dass Bernhard das so formuliert hat, wird "nur" durch Dritte bekundet, und das "Motiv" selbst ist vermutlich sehr viel älter.

Das ist natürlich richtig und gut angewendet, nur hier natürlich irrelevant, da so oder so die Metapher schon im HochMA bekannt war.
 
Das Problem an dieser Stelle ist die Schwammigkeit des Literaturbegriffs. Ich habe leonovs Literaturbegriff dahingegen verstanden, dass er Geschichtswissenschaft als Produktion von Fiktion versteht. Natürlich sprechen wir auch von wissenschaftlicher Literatur, aber die schien hier kontextuell nicht gemeint zu sein.

So ganz verkehrt ist der Gedanke nicht.

Nobelpreis für Literatur

1902 T. Mommsen
„dem gegenwärtig größten lebenden Meister der historischen Darstellungskunst, mit besonderer Berücksichtigung seines monumentalen Werkes ‚Römische Geschichte‘“

1953 W. Churchill
„für seine Meisterschaft in der historischen und biographischen Darstellung sowie für die glänzende Redekunst, mit welcher er als Verteidiger von höchsten menschlichen Werten hervortritt“
 
Ganz zu schweigen von Jochen Böhlers methodischem und inhaltlichem Höhenflug zum Polenfeldzug "Der Überfall". Da weint sich der Historiker Böhler seitenweise über ein Regiment aus das die Polen ohne ein ordentliches Kriegsgerichtsverfahren hinrichtet. Seit wann fängt die Kriegsgerichtsbarkeit bei einem Regiment an? Das ist doch wohl immer noch Sache der Division. Ein Regiment hat höchstens Standgerichte. Wie kann es sein, dass sich ein Böhler nicht mal bis zur Quelle Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO) durcharbeiten kann um den Unterschied zwischen Standgericht und Kriegsgericht zu ermitteln? Genug vor ihm haben es geschafft oder, bezogen auf Böhler, schaffen wollen.​

Da hier OT, siehe
http://www.geschichtsforum.de/508109-post124.html
 
Die Geschichtswissenschaft wäre keine Wissenschaft, wenn sie nur bekanntes Wissen wiederholte.

Tauchen neue Quellen auf, so können sie - die Beherrschung der historischen Methode mal vorausgesetzt - zu neuen Ergebnissen führen.

Zwischen 2008 und 2010 konnten Historiker Abhörprotokolle von ehemaligen Soldaten der Wehrmacht in amerikanischen Archiven einsehen. Die Amerikaner hatten die Gefangenenräume abgehört und die Gespräche aufgezeichnet.

Ein Team unter der Leitung von Sönke Neitzel wertete die Unterlagen aus und kam zu dem Schluss, dass die Verstrickung der Wehrmacht in Kriegsverbrechen nicht unbedingt auf die NS-Ideologie zurückzuführen war. Der Krieg machte den Bankangestellten innerhalb von einigen Wochen zum Soldaten, der tötete, und diese Brutalisierung des Krieges beeinflusste die Mentalität dieser Menschen, die selbst um das Überleben kämpften. Neitzel und seine Mitarbeiter wollten aber nicht deutsche Kriegsverbrechen verharmlosen.

Am Ende der sechziger Jahre legte Manfred Messerschmidt eine Buch vor, dass heute zu den Klassikern der Militärgeschichte gehört: Die Wehrmacht im NS-Staat.
Messerschmidt konnte nachweisen, dass es Teilidentitäten zwischen der Generalität und dem Regime gab und revidierte damit das Bild, das ehemalige Militärs in den fünfziger Jahren über die Streitkräfte gezeichnet hatten.

In den frühen sechziger Jahren legte der Hamburger Historiker Fritz Fischer ein Buch vor, dass den ersten Historikerstreit in der Bundesrepublik auslöste. Fischer stellte die These auf, dass Deutschland auch für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Hauptverantwortung anzulasten sei.

In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre setzte sich eine Gruppe von jüngeren Historikern wie Hans-Ulrich Wehler, Volker Berghahn oder Jürgen Kocka mit dem Kaiserreich auseinander und stützte sich dabei methodisch auf die Arbeiten Eckart Kehrs, eines Historikers aus der Weimarer Republik. Die aggressive Außenpolitik und der Flottenbau wären auf innenpolitische Motive zurückzuführen. Wehler und seine Weggefährten wollten die historische Methode mit Erkenntnissen aus der Soziologie verbinden; Geschichte sollte als "historische Sozialwissenschaft" verstanden werden.

Neue Quellenfunde, neue Methoden und veränderte Fragestellungen, die sich aus den Zeitumständen ergeben, haben die Geschichtswissenschaft immer weiter gebracht.

Es gibt 'Schulen', die eine Zeitlang Konjunktur haben, wie die Bielefeleder Schule in den Siebzigern. Geschichte vollzog sich in Strukturen; Biographien als wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten waren nicht gerne gesehen (zumindest an einigen Universitäten).

In den achtziger Jahren kam die Alltagsgeschichte oder Oral History in Mode; Lutz Niethammer zählte zu ihren führenden Vertretern und trug mit dazu bei, dass 'Geschichte von unten' nicht zu einer Anhäufung von Banalitäten führte.

Streitereien unter Historikern haben Tradition: Wenn der Pulverrauch sich verzogen hat, dann merken die Beteiligten, dass man voneinander lernen kann. Auch ein Vertreter der politischen Geschichte greift heute auf sozialgeschichtliche Forschungen zurück; Hans-Ulrich Wehler sieht das Kaiserreich nicht mehr ganz so kritisch wie noch zu Beginn der Siebziger.

Manchmal führen politische Veränderungen auch zu Neubewertungen von historischen Persönlichkeiten oder Ereignissen. Kurt Georg Kiesinger, zwischen 1966 und 1969 Bundeskanzler, wird von Historikern positiver gesehen als von Zeitgenossen. In seine Amtszeit fielen schon innenpolitische Reformen; auch in der Außenpolitik bahnten sich zaghaft Veränderungen an.

Heinrich Brüning, zwischen 1930 und 1932 Reichskanzler, gilt nicht mehr nur als Totengräber der Republik, sondern als ein Politiker, der aus zweckrationalen Gründen in erster Linie die Reparationsfrage lösen wollte, aber schon ab 1931 Überlegungen anstellen ließ, wie 1932 die Wirtschaft durch staatliche Konjunkturspritzen angekurbelt werden könnte.

Das sind nur einige Punkte, die mir zu der Frage einfallen, und sie beziehen sich auf die Neuere Geschichte. In anderen Gebieten kenne ich mich nicht aus, aber ich denke, dass Althistoriker heute viel bessere Möglichkeiten haben, archäologische Funde zu bewerten.
 
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