In eigener Praxis oft genug erlebt. Lehrbuchwissen, zum Teil über 100 Jahre alt, wird gelehrt - OK, muss auch sein.
Jeder Student muss wie ein Brahmane das Überlieferte nachbeten. Andere Schlussfolgerungen, neue Denkansätze haben es schwer.
Aber, als Beispiel, in der Zoologie kann ich ohne Tiefseetauchen oder tropische Mini-Insekten kaum noch in Neuland vorstossen. Aus alten Daten + eigenen Geistesblitzen und Nachhaken in der Praxis da etwas Neues zu schustern, ist selten, kommt aber auch vor. Und dann sogar die "Heiligen Schriften", sprich uralten Handbücher schänden.
Aber wie ist es in der Geschichte? Die überlieferten Quellen stehen wie die Berliner Mauer. Kann man da noch grundsätzlich neue Ansätze finden, ohne dass ein Archäologe oder Bibliothekar das Ei des Kolumbus findet?
Wissenschaft ist die Ermittlung neuen Wissens. Das gilt für die Geschichtswissenschaft wie für jede andere Wissenschaft auch. Forschung läuft in der Geschichtswissenschaft über die
Ermittlung neuer Quellen und die
immer wiederkehrende Überprüfung alter und bekannter Quellen, wobei die Geschichtswissenschaft, wie vielleicht alle Geisteswissenschaften, stärker vom jeweiligen Zeitgeist beeinflusst ist, als die Naturwisseschaften. In der seriösen Forschung versucht man dem mit der
Ideologiekritik entgegenzutreten. Ideologiekritik
heißt hier,
dass man sich seiner eigenen Position stellt. Aber durch die durch den Zeitgeist geprägten Fragen, kommt es eben immer auch zu neuen Forschungsergebnissen, die sich teils kaum, teils aber auch in erheblichem Maße von älteren Foschungsergebnissen unterscheiden. "Nachbeten" o.ä. steht im Widerspruch zu Wissenschaft! Das gilt sowohl für die die literarischen Quellen, als auch für die Arbeiten noch so renommierter Wissenschaftler. Man muss allerdings auch gut begründen können, wenn man gegen eine anerkannte Forschungsmeinung und noch besser, wenn man gegen Quellen argumentiert.
Geschichtswissenschaft ist, wenn ich den Gedanken eines Historikers nehme, keine Wissenschaft sondern gehört eher in den Bereich der Literatur.
Da würde ich aber gerne wissen, wo man das nachlesen kann. Das scheint mir nämlich völlig falsch verstanden worden zu sein! Geschichte ist die Rekonstruktion des Vergangenen. Das Problem dabei ist, dass wir nur über einen Bruchteil der Informationen verfügen und diese zum Teil auch noch widersprüchlich sind. Das heißt in der Konsequenz geschriebene Geschichte ≠ dem Vergangenen. Weiterhin ist zu trennen zwischen
Geschichte (dem Bruchteil des Vergangenen was rekonsturierbar ist) und
Geschichtswissenschaft (der Versuch, quellen- und erfahrungsbasiert das Vergangene so weit wie möglich zu rekonstruieren).
Exemplarisch kann man sich dazu den Thread
http://www.geschichtsforum.de/f28/kalkriese-als-ort-der-varusschlacht-zweifelhaft-22738/ durchlesen. Es reichen ein paar wenige Beiträge, um die skizzierten Probleme wiederzufinden.
Geschichte ist die Ansammlung von Geschichten, die bezahlte Schreiber im Auftrag ihres Chefs für erzählenswert hielten.
(frühestes Beispiel, was mir spontan einfällt, der Sieg Ramses II am Orontes, zwar nicht geschrieben, aber gemeisselt.)
Das ist das bekannte verkürzte Bild von Quellen: "Geschichtsschreibung ist die Geschichtsschreibung der Sieger". Aber: Es stimmt
so nicht. Zunächst einmal ist natürlich zu berücksichtigen, dass
Geschichtsschreibung natürlich immer darauf bedacht ist, dass der Schreiber (Historiograph!) bzw. sein Auftraggeber die Deutungshoheit über die Geschichte behält.Die historiographischen Quellen nennen wir daher auch
Traditionsquellen. Für den Historiker sehr viel bedeutsamer sind aber die
Überrestquellen, die eben nciht absichtsvoll berichten und damit versuchen die
Deutungshoheit über einen Vorgang zu behalten, sondern die eher aus Versehen einen Sachverhalt überliefern. Nichtsdestotrotz kann man natürlich auch mit Traditionsquellen arbeiten. Dazu ist die
Quellenkritik da, welche die Glaubwürdigkeit der Quelle in den einzelnen Punkten zu ermitteln versucht. Erleichtert wird das dadurch, dass auch historiographische Quellen durchaus differenziert sind. Neben den
textimmanenten Widersprüchen gibt es eben auch immer wieder
Gegendarstellungen. Also wenn etwa die Fränkischen Reichsannalen eine prokarolingische Quelle darstellen, kann eine andere Quelle, die vielleicht in einem königsfernen Kloster verfasst wurde die Sachverhalte ganz anders und widersprüchlich darstellen.
Es wird eine Doku gemacht, wo der Regisseur im Grunde ein völlig veraltetes Geschichtsbild von Person X oder Ereignis X zeichnen möchte. Regisseure haben da nicht selten eine schon vorab gefügte Meinung. Dann werden wirkliche Fachleute (oder Möchtegernfachleute wie Literaten oder gar reine Fans) interviewt. Deren Aussagen werden dann nicht selten so zurecht geschnitten, dass sie so ziemlich zum Grundtenor der Absicht der Doku passen. Entweder werden nur vorsichtige Kritiken am Bild des Regisseurs/Drehbuchautors durchsickern gelassen oder diese ganz weggelassen.
Deutlich wird das imho an dieser Nibelungen-Doku, die im ARD gezeigt wurde, in der Prof. Heinzle mehrfach zu Wort kam. Heinzle ist expliziter Gegner der Hypothese Arminius sei das Vorbild für Siegfried. Dies wurde aber in der Doku mehrfach behauptet (also nicht das Heinzle Vertreter diese Hypothese sei, sondern dass Siegfried mit Arminius identisch sei).
Wenn man dieses stumpfsinnige abschreiben auch noch bei Dissertationen erlebt fehlen selbst mir die Worte.
Das Problem ist mir auch selbst mehrfach begegnet, weshalb ich mich immer bemühe, bis zur eigentlichen Quelle vorzustoßen. Allerdings ist es eben auch nicht notwendig, das Rad bei jeder Arbeit neu zu erfinden.
Das wusste schon Bernardus Carnotensis, als er formulierte, dass wir Zwerge auf den Schultern von Giganten seien. Ein Prof von mir formulierte, dass in einer wissenschaftlichen Arbeit 5 - 10 % Eigenteil sind und der Rest abgeschrieben ist.
Noch eine zweite Anmerkung zu historischer Fachliteratur 60+: Sowohl Verfasser wie auch Übersetzer kamen mit ihren Themen auch ohne WWW und Allgemeindarstellungenreizüberflutung besser klar als der heutige Fachmann. Die imperial troops des 30jährigen Krieges mit imperialistische Truppen (Brandenburgisches Verlagshaus) oder den maréchal de champ mit Feldmarschall zu übersetzen (bei Dirk van der Cruysses Liselotte von der Pfalz) ist eher eine Unsitte heutiger Zeit.
Das allerdings ist wohl eher ein Problem der Übersetzer denn der Fachwissenschaftler. Wobei mir zwar beim ersten Beispiel der Fehler klar ist, nicht aber beim zweiten.
Wenn's dumm läuft, kommen Daten und Fakten auch abhanden. Aus einem Buch des abtrünnigen Theologieprofessors Horst Herrmann: "Zwischen 1815 und 1817 machten Unterhändler in Paris mit Zustimmung des Kardinalstaatssekretärs Consalvi 4518 Bände mit Prozeßunterlagen der Inquisition unleserlich und verschachterten sie anschließend an Altpapierhändler." :weinen:
Was natürlich ein wiederkehrendes Problem in der Geschichte ist: Die Spanier verbrannten im 16. Jahrhundert die arabischen und jüdischen Bibliotheken ausgenommen ausgewählter Werke, bei praktisch jedem sozialen Aufstand wurden und werden Archive geplündert, von den Bauernkriegen bis hin zu den Stasi-Zentralen. Bürokraten diktatorischer Regime vernichten, wenn es zu Ende geht, Beweismaterialien (wieder die Stasi, die teilweise versuchte, als Bürgerrechtler getarnt, Materialien zu vernichten (Berlin, Erfurt, in Leipzig ging es geordneter vonstatten, dort übernahm das Neue Forum die geordnete Besetzung der "Runden Ecke", ein anderes Beispiel ist der Nationalsozialismus, in der ZS
Archäologie in Niedersachsen 6 (2003) gibt es dazu einen ganz interessanten Artikel:
Die Brandgrube des Kreisleiters). Nicht zu vergessen die zerstörerische Wirkung von Bomben, Granaten (WK II) und Bränden (Anna Amalia-Bibliothek).