Quellenlage im 9. und 10. Jh.

KeineAhnung

Aktives Mitglied
Ich bin in einer Fachveröffentlichung über die Genealogie einer Grafenfamilie (südwestdeutscher Raum) in der Quellenkritik über folgende Aussagen gestolpert:

[...][FONT=Arial, sans-serif]im 10. Jahrhundert versiegen die Quellen beinahe vollständig[/FONT][FONT=Arial, sans-serif]. Nach der Mitte des 11. Jh. nehmen die Quellen wieder stark zu [...][/FONT][FONT=Arial, sans-serif] Die Zeit davor ist bis zu einem gewissen Grad aus späteren Texten rekonstruierbar [...] [/FONT][FONT=Arial, sans-serif]Es existieren einige Urkunden aus dem 8. und 9. Jahrhundert, in denen die [gesuchten] Namen genannt werden. [...] Allerdings fehlen im 10. Jahrhundert durch den drastischen Rückgang der Quellen auch Urkunden und Aufzeichnungen über die Stiftersippe [...]
[/FONT]
Da drängen sich mir gleich ein paar Fragen auf: :confused:

Was könnten die Ursachen für diesen signifikanten Quellenrückgang im 10. Jh. sein?
Wird ein ähnlicher Rückgang von Quellen 10 Jh. auch in anderen Bereichen/Gebieten beobachtet?
Wenn ja, gibt es aus historischer Sicht eine Begründung?
Oder könnte dieser ominöse Quellenrückgang nur sehr spezifisch für eben diese Grafenfamilie zutreffend sein ?

Es wäre super nett, wenn mir der ein oder andere seine Einschätzungen oder Ideen hierzu verraten würde.:)

Danke dafür und ganz liebe Grüße
Keine Ahnung[FONT=Arial, sans-serif]




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Im gesamten ostfränkischen Reich ist im 10. Jahrhundert ein starker Quellenrückgang zu verzeichnen. Die Leben Konrads I. und Heinrichs I. sind hauptsächlich aus Widukind von Corvey, Thietmar von Merseburg etc rekonstruierbar - die Jahrzehnte später gelebt und geschrieben haben. Mit dem Quellenrückgang geht generell ein Rückgang an Schriftlichkeit auch in anderen Lebensbereichen einher. Haben im 9. Jahrhundert Karl der Große und Ludwig der Fromme sich noch um die Errichtung einer halbwegs funktionierenden "Verwaltung" und um eine größere Verschriftlichung bemüht (Stichwort Stammesgesetze, Kapitularien etc.), so bleiben diese Versuche im Ansatz stecken, die Schriftlichkeit geht immer weiter und weiter zurück und erreicht in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Der Grund könnte in der Aufteilung des Fränkischen Reiches zu suchen sein, die eine "gesamtfränkische" Verwaltung (wenn ich das mal so sagen darf) unnütz gemacht hat oder in den einzelnen Bruderkriegen, die vielleicht auch ein gewisses Maß an Zerstörung mit sich gebracht haben. Oder schlichtweg an der Entwicklung neuer, v. a. oraler Formen von Verwaltung und Herrschaft, die die Schriftlichkeit ersetzt hat, so dass diese nicht weiter notwendig war. Schriftliche Geschichtsschreibung war dann auch nicht mehr notwendig.
 
Ich habe ein ähnliches Problem für das 8./ 9. Jhdt in Bezug auf die Karolinger

Die Beleglage ist stellenweise dürftig. Zwar gibt es einzelne ausgesprochen ergiebige Fundbelege, diese allerdings häufig zu einem sehr engen Gebiet (Fibelfunde Löhrstraße Mainz beispielsweise), also mehr oder weniger Zufallstreffer. Als Gegenbeispiel mag etwa die Beleglage bezüglich meiner geliebten Schuppenpanzer dienen: Als mir bekannte Fundbelege gibt es gerade mal eine(!) einzelne Schuppe, die vermutlich (noch nicht mal gesichert) karolingisch ist. (Wer da was hat, bitte immer her damit :winke:)
Das Hauptproblem stellen dabei die Fundbelege dar, Bildbelege gibt es dagegen für diese Rüstungsart häufig, Schriftbelege sind auch nicht allzu selten.

Ich selbst (ich bin kein studierter Historiker) führe das, möglicherweise etwas laienhaft-naiv, auf einen kulturell-religiösen Wandel zurück:
Vereinfacht ausgedrückt gingen die Grabbeigaben und damit die Grabfunde stark zurück, da sich die Begräbnissitten veränderten, weg von den heidnischen reich ausgestatteten Gräbern hin zu eher bescheidenen christlichen Begräbnissen. In der Folge fällt ein Hauptlieferant für Fundbelege weg, was sich auf die Gesamtquellenlage natürlich negativ auswirkt.

Gleichzeitig befindet sich aber die kirchliche und bürokratische Aufzeichnungskultur noch im Aufbau. Wir haben hier also noch keine umfassende Aufzeichnung von Daten auch beiläufiger Bedeutung, sondern bestenfalls punktuelle Schriftstücke von besonderer Bedeutung.

Kurz: Wir haben eine Zeit lang keine umfassenden Fundbelege mehr und noch keine umfassenden Schrift- oder Bildbelege.
So stellt sich die Situation zumindest mir dar, falls ich da einen Denkfehler habe, lasse ich mich gerne weiterbilden.
 
Herzlichen Dank @Imperator, für Deine Ausführungen.
Ich hatte auch schon daran gedacht, dass die Zwistigkeiten zwischen Lothar, Karl dem Kahlen und Ludwig dem Deutschen damit zu tun haben könnten, habe es aber nie gewagt, meiner Theorie zu vertrauen. Ich müsste auch vielleicht noch mal genauer darüber nachdenken, wer denn konkret für die "Schriftlichkeit" zuständig war. Meines Wissens (Korrekturen sind immer willkommen!) waren es in erster Linie Mönche, die als Kopisten und Schreiber ausgebildet waren. Gerade unter Ludwig dem Frommen kam es zu einer großen Anzahl von Klosterneugründungen, von denen viele allerdings, dank der 'erlahmenden Frömmigkeit' und dank 'beweibter Priester' innerhalb der nächsten 100 bis 150 Jahre wieder niedergingen. Das würde diese Erklärung stützen.
Aber die Quellen, die im 8. und 9. Jh. und dann erst wieder ab dem 11. Jh. erhalten sind, stammen beispielsweise vom Kloster Reichenau, das nachweislich durchgängig geschrieben hat.

@Panzerreiter
Das stimmt so (zumindest in meinem vorliegenden Fall) nicht ganz. Mit Quellen vor dem 10. Jh. sind nicht archäoligische Artefakte gemeint, sondern Urkunden, Privilegien und vor allem Einträge in den Gebetsverbrüderungsbüchern und Nekrologien diverser Klöster. Wenn z.B. Namenseinträge einer Sippe im 9. Jh. noch sehr reichhaltig dokumentiert sind, verschwindet diese Sippe im 10. Jh. fast vollständig, um dann im 11. Jh. in einer Fülle Erwähnung zu finden, dass eine eindeutige Zuordnung bestimmter Namen zu einer bestimmten Sippe schon wieder äußerst schwierig wird.

Vor allem wollte ich wissen, ob dieses Phänomen auch anderweitig beobachtet werden kann und das wurde mir ja nett beantwortet.

Liebe Grüße
KeineAhnung
 
Im gesamten ostfränkischen Reich ist im 10. Jahrhundert ein starker Quellenrückgang zu verzeichnen. Die Leben Konrads I. und Heinrichs I. sind hauptsächlich aus Widukind von Corvey, Thietmar von Merseburg etc rekonstruierbar - die Jahrzehnte später gelebt und geschrieben haben. Mit dem Quellenrückgang geht generell ein Rückgang an Schriftlichkeit auch in anderen Lebensbereichen einher. Haben im 9. Jahrhundert Karl der Große und Ludwig der Fromme sich noch um die Errichtung einer halbwegs funktionierenden "Verwaltung" und um eine größere Verschriftlichung bemüht (Stichwort Stammesgesetze, Kapitularien etc.), so bleiben diese Versuche im Ansatz stecken, die Schriftlichkeit geht immer weiter und weiter zurück und erreicht in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Der Grund könnte in der Aufteilung des Fränkischen Reiches zu suchen sein, die eine "gesamtfränkische" Verwaltung (wenn ich das mal so sagen darf) unnütz gemacht hat oder in den einzelnen Bruderkriegen, die vielleicht auch ein gewisses Maß an Zerstörung mit sich gebracht haben. Oder schlichtweg an der Entwicklung neuer, v. a. oraler Formen von Verwaltung und Herrschaft, die die Schriftlichkeit ersetzt hat, so dass diese nicht weiter notwendig war. Schriftliche Geschichtsschreibung war dann auch nicht mehr notwendig.

Ergänzend sei angefügt, dass manche Autoren die Meinung vertreten, der Rückgang der Schriftlichkeit sei darauf zurückzuführen, dass sich eine zentralisierte Verwaltung (deren Ausdruck die Schriftlichkeit ja war) sich trotz der Bemühung Karls und Ludwigs nicht durchsetzte.
 
Meines Wissens (Korrekturen sind immer willkommen!) waren es in erster Linie Mönche, die als Kopisten und Schreiber ausgebildet waren.

Es scheint sich recht schnell unter Karl dem Großen auch eine weltliche Schreibertätigkeit verbreitet zu haben, die allerdings nicht nachhaltig war. Ich hatte während des Studiums dazu mal was gefunden, leider kann ich jetzt hier von der Arbeit noch nicht drauf zugreifen.
 
Ich müsste auch vielleicht noch mal genauer darüber nachdenken, wer denn konkret für die "Schriftlichkeit" zuständig war. Meines Wissens (Korrekturen sind immer willkommen!) waren es in erster Linie Mönche, die als Kopisten und Schreiber ausgebildet waren.

Neben den Mönchen gab es vor allem in der fränkischen Reichsverwaltung auch weltliche Amtsträger, die für das Schrift- und Urkundenwesen verantwortlich waren. So stand die königliche Kanzlei (Hofkanzlei) in merowingischer Zeit unter der Leitung von weltlichen Hofbeamten, die den dem römischen Vorbild entnommenen Titel Referendar führten. Die Referendare, von denen es stets mehrere gab, waren meist Romanen und hatten eine weltliche Bildung genossen. Gewiss stammten sie aus der gallo-römischen Aristokratie, die sich nach der Eroberung Galliens durch die Franken rasch mit der fränkischen Elite vermischte.

Aufgabe der Kanzlei war die Ausfertigung der königlichen Urkunden. Die Schreibarbeiten wurden von untergeordneten Kanzleibeamten (notarii, cancelarii) ausgeführt. Diese schrieben die Urkunden, teils auf Diktat eines Referendars, der durch Beifügung eines Beglaubigungsvermerks (recognovit, obtulit) und seines Namens die Verantwortung für den Wortlaut der Urkunde übernahm (Rekognitionsvermerk).

In karlingischer Zeit änderte sich die Verfassung der Hofkanzlei. An die Stelle der Referendare trat ein Kanzleileiter (cancellarius), der sich auf die Leitung der Kanzlei beschränkte und die Rekognition untergeordneten Notaren (ad vicem) überließ. Leiter und Beamte der Kanzlei gehörten nunmehr dem geistlichen Stande an.

Im übrigen Reich waren es vermutlich ausschließlich Angehörige der Geistlichkeit, die bei Bedarf Urkunden ausfertigten, sei es bei der Veränderung von Besitzverhältnissen, bei der Ausfertigung von Geboten und Verboten in einer Grafschaft oder einem anderen Amtsbezirk oder sonstigen wichtigen Anlässen, die zu beurkunden waren.

Besonders wichtig waren, wie oben schon beschrieben, die Annalen. Sie waren zunächst nur notizhafte Aufzeichnungen für den Eigengebrauch von Klöstern und wurden meist ohne Titel von Mönchen über Generationen geführt. Zusätzlich zu ihrer ursprünglichen Bestimmung zur Berechnung des Ostertermines eines jeden Jahres wurden in diesen weit verbreiteten Werken wichtige Ereignisse wie z.B. Naturkatastrophen und Kriege in zeitlicher Folge wie in einem Tagebuch erfasst. Im Laufe der Zeit wuchsen diese Berichte immer mehr an und im auslaufenden 8. Jahrhundert entwickelten sie sich zu einer allerdings literarisch anspruchslosen Gattung der Geschichtsschreibung.

Die geringe Zahl von Schriftquellen in merowingischer und karolingischer Zeit ist vor allem darauf zurückzuführen, dass nach dem Untergang Westroms, dem Zerfall seiner Administration und dem Abzug der römischen Beamten die Regionen nördlich der Alpen nahezu in dark ages zurücksanken. Das gilt freilich weniger für Italien, obwohl auch dort Ostgotenkriege und Langobardeneinfall für entvölkerte und sowohl finanziell als auch kulturell destabilisierte Regionen sorgten. Nicht umsonst gab es auf Anregung Karls des Großen eine Bildungs- und Kulturreform, die unter dem Namen Karolingische Renaissance in die Geschichte einging.
 
Ergänzend sei angefügt, dass manche Autoren die Meinung vertreten, der Rückgang der Schriftlichkeit sei darauf zurückzuführen, dass sich eine zentralisierte Verwaltung (deren Ausdruck die Schriftlichkeit ja war) sich trotz der Bemühung Karls und Ludwigs nicht durchsetzte.
ganz zu schweigen von den Autoren, die die Ansicht vertreten, die mangelnde Schriftlichkeit habe ihren Grund darin, daß es diese Zeit gar nicht gegeben hat =)
 
Wenn man sich die Gesamtlage im 9./10. Jahrhundert betrachtet, so verwundet es eigentlich wenig, dass sich kaum Quellen und Urkunden finden lassen. Zum einem ist das Urkundenwesen damals recht neu und noch nicht allzuweit verbreitet, wie hier schon von Anderen gesagt wurde sind gerade erst einmal 2 Generation, also gute 50 Jahre vergangen, seit der Rückkehr zu einer starken Fixirung auf Schriftlichkeit. In genau diese Zeit fällt nun die Aufteilung des Großreichs. Auch wenn man heute keine Vergleiche mehr ziehen kann, so ist für mich die schriftliche Fixierung von Tatsachen und Beständen in einer Zeit, in der Zugehörigkeiten, Grenzen und Ränge sich schnell verändern können, doch eher zweitrangig. Soll also heißen, dass man sich in einer Zeit des Wandels sicherlich nicht den Kopf um Urkunden zerbrochen hat. Also spielt all das was Imperator und Ashigaru aufgeführt haben (keine Zentrale Reichsverwaltung mehr, Konflikte, keine Tradition) in einander und damit fehlen einfach auch die Quellen für diese Zeit.
Den fehlenden arch. Befund kann man so allerdings nicht wirklich erklären. Ein Wandel in den Grabsitten kann immer eine Rolle spielen, allerdings bin ich da für diese Zeit total unbedarft. Andere Möglichkeiten, wie ein starkes "recyclen" wären sicher auf möglich, würde sich allerdings nur schwer belegen lassen.
 
Den fehlenden arch. Befund kann man so allerdings nicht wirklich erklären. Ein Wandel in den Grabsitten kann immer eine Rolle spielen, allerdings bin ich da für diese Zeit total unbedarft. Andere Möglichkeiten, wie ein starkes "recyclen" wären sicher auf möglich, würde sich allerdings nur schwer belegen lassen.

Hinsichtlich der Sachkultur ist das sicherlich der Fall, denn die vormals so beliebten Grabbeigaben in germanischen Gräbern kamen beim endgültig vordringenden Christentum außer Gebrauch, da "heidnisch". Also wird man, wie du vermutest, angesichts der vorherrschenden Materialknappheit Waffen, Rüstungsgegenstände und auch Schmuck wiederverarbeitet haben.
 
Da habe ich folgende Fragen zu der Thematik:

  • Wie ist denn die Quellenlage davor und danach quantitativ?
  • Gibt es da eine regionale Verteilung mit Schwerpunkten in Europa für die Zeit ( bzw. davor und danach)?
 
Wie ist denn die Quellenlage davor und danach quantitativ?

Deutlich höher, davor wie danach. Ab Widukind dringt die Verschriftlichung immer stärker und stärker durch, ohne dass es je wieder eine gegenläufige Entwicklung gegeben hätte. Der Höhepunkt ist unsere heutige Zeit. Wie es genau unter den spätern Karolingern ausgesehen hat weiß ich nicht, da ich mich da viel zu schlecht auskenne, doch nehme ich an, dass es noch irgendeine relativ zeitnahe historiographische Quelle zum Leben Arnulfs und Ludwigs des Kindes gegeben hat - denn so viel ich weiß handelt es sich nicht bei Widukind, Liutprand und Thietmat um die Hauptquellen, was diese Personen angeht. Und bis zu den Zeiten Ludwigs des Frommen hat es ja noch allerhand Quellen gegeben.
 
Da habe ich folgende Fragen zu der Thematik:

  • Wie ist denn die Quellenlage davor und danach quantitativ?
  • Gibt es da eine regionale Verteilung mit Schwerpunkten in Europa für die Zeit ( bzw. davor und danach)?


Zu den bereits genannten möchte ich noch anfügen, dass aus dem oströmischen Reich einige Quellen des 10. Jahrhunderts überliefert sind; besonders die diversen Bücher Konstantins VII. sowie auch das Werk des Leon Diakonos würden mir einfallen.
 
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